Nr. 50
JUGEND
1897
Nickel mann's Bote Bernhard Pankok (.München).
9m
Line Erinnerung aus der Gymnafialzeit
von Carl Busse.
Ms war am 21. März. Es war Abend. Ein
Mi feiner Sprühregen fiel schon stundenlang;
die wenigen Petroleumlatcrnen standen im Nebel,
nur der Lichtschein aus Häusern und Lüden er-
hellte etwas die engen Straßen.
Sie waren heut belebter als sonst. Denn in
einer Stunde sollte es ja losgehen: der ganze
Kriegcrverein, und vorne mit Fackeln und Pfeifen
und Trommeln die Turner. „Rataplan, rata-
plan . . ." sangen die Straßenjungen jetzt schon;
hier und da wurde bereits ein Fenster hell, und
vier Kerzen beschienen mit dürftigem Licht das
Bild des weißbärtigen Kaisers, dessen Geburts-
tag bevorstand.
Zapfenstreich! Und dazu ein Zapfenstreichen
einem zu drei Viertel polnischen Landstädtchen,
in das sich kaum ein Karouffel einmal verirrte
oder ein harmloser Bärenführer! Hurrah und
noch einmal Hurrah — was für eine Wonne das
war, wie uns Gymnasiasten das Herz schlug!
Nicht nur, weil wir ausnahmsweise nntmarschiren
durften, nicht nur, weil uns ein freier Tag
winkte. Sondern weil wir gleichsam offiziell
an diesen Tagen bescheinigt bekamen, daß wir
Deutsche hier herrschten.
Es mag Mancher den Kopf schütteln, wenn er
das liest. Aber wer's durchgemacht hat, schüttelt
den Kopf nicht mehr. Als Schüler haben wir,
so gut wir's eben verstanden, auch.für unsere
Nationalität kämpfen müssen. Und es >var eine
Erbitterung in den jungen Herzen, daß wir oft
die Faust ballten, heimlich heute und offen morgen.
Denn die Polen waren in der Ueberzahl, und
der polnischen Lehrer gab es auch genug. An
drei Tagen des Jahres kam's dann gewöhnlich
zum Krawall. Im ersten Frühjahr zu Kaisers
Geburtstag: im Herbst zum Sedantag; im Som-
mer beim gemeinsamen Waldsest, wenn die Köpfe
erhitzt und die Lehrer fern waren.
Wir alle wußten, daß so ein kritischer Tag be-
vorstand. Und als wir zum Zapfenstreich gingen,
um mitzuschlcndern, da hatten wir jeder
den Stock, den wir offen nicht wagen durf-
ten, versteckt im Anzug und mußten noleu»'
volens marschircn wie preußische Gardisten.
„Rataplan, rataplan.." wirbelten jetzt
wirklich die Trommeln, der dicke Wacht-
meister stiefelte voran, die Turner mit den
Fackeln, die im Regen rauchten, folgten
stolz, dann die Musik und der Krieger-
verein, und ihm schlossen sich, in Rotten
mn, Straßeiyunge
Lehrlinge und Gymnasi-
zu drei, vier Mann,
Dienstmädchen,
asten an. Ueberall flammten Kerzen aus
in den Fenstern, der Kolvnialwaarenhändler
brannte bengalische Streichhölzer ab, ein Paar-
Sextaner krähten vor der Thür ihres HauseS
fortwährend Hurrah. Wir Tertianer und Sekun-
daner mit hochgeschlagenem Rockkragen achteten
nicht darauf. Wir warteten. Ganz von selbst
waren wir hinter eine Gruppe unserer polnischen
Mitschüler gelangt, in der Stefan Michailski das
große Wort führte.
Wir warteten ruhig. Worauf? Ob der Hohn
ausblieb. Wir warteten, ob nicht die kleine Holz-
gabel heimlich austauchte mit den Gummizügen,
und surr, ein Steinchen in ein erleuchtetes Fenster
fuhr. Wir kannten das, und dann war's Zeit,
daß die Stöcke flogen.
Aber es ging an dem Abend ruhiger her.
Stefan Michailski hatte uns bemerkt uiid grinste
mich höhnisch an. Wir wußten, wir Ivaren Tod-
feinde. Wir hatten als Kinder zusammen gespielt
auf dem Holzplatz des Zimmermcisters — auf
dem Platz, der zwischen unseren Häusern lag mit
den glatt gehauenen Balken und Stämmen, den
schönen Verstecken und den tausenden von Spänen.
Seit zwei Jahren sprachen wir nicht mehr, obwohl
wir Klassenkollegen waren, sondern wir haßten
uns mit aller Gluth, deren so ein Junge fähig ist.
Der Zug ging vorwärts. Der Rauch dcr
Fackeln biß uns in die Augen. Dann kamen wir
zum Marktplatz. Und dort ward Halt gemacht.
Wir standen ziemlich entfernt von den Vorderen.
Nur undeutlich hörten wir die Kommandos, die
Fackeln wurden zusammenaeworfen, >vir vernah-
men, wie Einer sprach. Und dann bas Hoch auf den
Kaiser. Die Hüte flogen empor. Da war es.
Stefan Michailski wandte sich. Ich sehe dies
öhnische Lächeln noch. Seine viereckige Mütze
atte er auf dem Kopfe. Mir blieb das Hoch m
der Kehle stecken.
„Mutze ab!"
Er lachte.
„Da!" — Und mit Einem Schlage flog die
Consöderatka herunter.
„Psa krewi“ fluchte er wild, und mit rothcm
Gesicht sprang er zu.
Es war alles ein Augenblick. Den Lärm ver-
schlang das „Heil Dir im Siegerkranz." Ich
konnte nicht singen. Aber Stefan Michailski war
im Moment losgerissen von mir. Ein paar deutsche
Primaner hatten sich hineingemengt. Er suchte
mit verbissener Miene feine Mütze und räumte
den Platz. Es waren zu viel der Unseren da.
Auf dem Heimwege rief mich ein Primaner
an. Das war eine Ehre ftir uns.
„Brav von Dir," sagte er gönnerhast. „Aber
nimm Dich in Acht."
Und ich kühn und
keine Angst, Herr Dohse
ottessürchtig: „Ich Hab'
Diga Michailska saß lässig aus einem Balken
uiid band sich den aufgegangeueii Schnürschuh
fest. Es war Kaiserwetter geworden. Die Späne
glänzten in der Sonne. In der Sonne glänzte
der Gürtel an Diga's Kleid.
Sie war 15 Jahr und hatte ein Römergesicht.
CS lag etivas Kühnes im Zug der Stirn und
der Rase, nur der Mund paßte nicht ganz dazu.
Er war fiir diese Stirn zu roth und zu voll.
Frei und feinfädig siel ihr Haar über die Schul-
tern. „Ich habe scrr weiches Haar," sagte sie
mit ihrem fremden Accent, „die Nadeln fallen
heraus, wenn ich es aufstecke."
Wir hielten gute Kameradschaft. Auch nach-
dem die Freundschaft mit dem Bruder in die
Brüche gegangen war. Auf denr Zimmrerplatz
trieben wir uns nach Herzenslust herum, hatten
uns hinter den Bohlen und Brettern eigne ver-
schwiegne Gemächer gebaut und hausten dort
tundenlang. Als ich nach der Obertertia ver-
etzt war und ihr es sehr stolz mittheilte, schlang
sie die Arme um nieinen Hals, hob sich leicht
auf den Zehen und gab mir einen Kuy.
Ich ivurde roth.
„Du!"
„Ja," liickte sie mit einem Spitzbubcnlächcln,
„schmeckt serr gut." —
Ich sah sie heut von meinem Fenster aus. Die
Feier in der Aula war zu Ende, der schöne freie Tag
lag vor mir. Was thun? Hinunterachn in die
Sonne, mit Diga schaukeln? — Der Gedanke an
Stefaii hielt mich zurück. Ich wußte, er würde
kommen. Ich ivnßte, daß er sich ivürde rächen
wollen für gestern. Und heut dieser Streit? Nein.
Allerdings — der ganze Platz, o wie
sonnig der war! Und die Stämme schon
wieder trocken. Diga balancirte aus einer
mächtigen Eiche.
Ich hatte unentschlossen mein Gesicht
an die Scheibe gelehnt. Da sah sic mich
und winkte. Sie schwenkte mit beiden Ar-
men so sehr, daß sie das Gleichgewicht ver-
lor. Nur ein kleiner Sprunst rettete sie.
Lachend deutete sie auf deii Stamm und
zeigte ihm die Faust. Nun lvarf sie ein
Sliickchen Borke in der Richtung nach
meinem Fenster.
8zo
JUGEND
1897
Nickel mann's Bote Bernhard Pankok (.München).
9m
Line Erinnerung aus der Gymnafialzeit
von Carl Busse.
Ms war am 21. März. Es war Abend. Ein
Mi feiner Sprühregen fiel schon stundenlang;
die wenigen Petroleumlatcrnen standen im Nebel,
nur der Lichtschein aus Häusern und Lüden er-
hellte etwas die engen Straßen.
Sie waren heut belebter als sonst. Denn in
einer Stunde sollte es ja losgehen: der ganze
Kriegcrverein, und vorne mit Fackeln und Pfeifen
und Trommeln die Turner. „Rataplan, rata-
plan . . ." sangen die Straßenjungen jetzt schon;
hier und da wurde bereits ein Fenster hell, und
vier Kerzen beschienen mit dürftigem Licht das
Bild des weißbärtigen Kaisers, dessen Geburts-
tag bevorstand.
Zapfenstreich! Und dazu ein Zapfenstreichen
einem zu drei Viertel polnischen Landstädtchen,
in das sich kaum ein Karouffel einmal verirrte
oder ein harmloser Bärenführer! Hurrah und
noch einmal Hurrah — was für eine Wonne das
war, wie uns Gymnasiasten das Herz schlug!
Nicht nur, weil wir ausnahmsweise nntmarschiren
durften, nicht nur, weil uns ein freier Tag
winkte. Sondern weil wir gleichsam offiziell
an diesen Tagen bescheinigt bekamen, daß wir
Deutsche hier herrschten.
Es mag Mancher den Kopf schütteln, wenn er
das liest. Aber wer's durchgemacht hat, schüttelt
den Kopf nicht mehr. Als Schüler haben wir,
so gut wir's eben verstanden, auch.für unsere
Nationalität kämpfen müssen. Und es >var eine
Erbitterung in den jungen Herzen, daß wir oft
die Faust ballten, heimlich heute und offen morgen.
Denn die Polen waren in der Ueberzahl, und
der polnischen Lehrer gab es auch genug. An
drei Tagen des Jahres kam's dann gewöhnlich
zum Krawall. Im ersten Frühjahr zu Kaisers
Geburtstag: im Herbst zum Sedantag; im Som-
mer beim gemeinsamen Waldsest, wenn die Köpfe
erhitzt und die Lehrer fern waren.
Wir alle wußten, daß so ein kritischer Tag be-
vorstand. Und als wir zum Zapfenstreich gingen,
um mitzuschlcndern, da hatten wir jeder
den Stock, den wir offen nicht wagen durf-
ten, versteckt im Anzug und mußten noleu»'
volens marschircn wie preußische Gardisten.
„Rataplan, rataplan.." wirbelten jetzt
wirklich die Trommeln, der dicke Wacht-
meister stiefelte voran, die Turner mit den
Fackeln, die im Regen rauchten, folgten
stolz, dann die Musik und der Krieger-
verein, und ihm schlossen sich, in Rotten
mn, Straßeiyunge
Lehrlinge und Gymnasi-
zu drei, vier Mann,
Dienstmädchen,
asten an. Ueberall flammten Kerzen aus
in den Fenstern, der Kolvnialwaarenhändler
brannte bengalische Streichhölzer ab, ein Paar-
Sextaner krähten vor der Thür ihres HauseS
fortwährend Hurrah. Wir Tertianer und Sekun-
daner mit hochgeschlagenem Rockkragen achteten
nicht darauf. Wir warteten. Ganz von selbst
waren wir hinter eine Gruppe unserer polnischen
Mitschüler gelangt, in der Stefan Michailski das
große Wort führte.
Wir warteten ruhig. Worauf? Ob der Hohn
ausblieb. Wir warteten, ob nicht die kleine Holz-
gabel heimlich austauchte mit den Gummizügen,
und surr, ein Steinchen in ein erleuchtetes Fenster
fuhr. Wir kannten das, und dann war's Zeit,
daß die Stöcke flogen.
Aber es ging an dem Abend ruhiger her.
Stefan Michailski hatte uns bemerkt uiid grinste
mich höhnisch an. Wir wußten, wir Ivaren Tod-
feinde. Wir hatten als Kinder zusammen gespielt
auf dem Holzplatz des Zimmermcisters — auf
dem Platz, der zwischen unseren Häusern lag mit
den glatt gehauenen Balken und Stämmen, den
schönen Verstecken und den tausenden von Spänen.
Seit zwei Jahren sprachen wir nicht mehr, obwohl
wir Klassenkollegen waren, sondern wir haßten
uns mit aller Gluth, deren so ein Junge fähig ist.
Der Zug ging vorwärts. Der Rauch dcr
Fackeln biß uns in die Augen. Dann kamen wir
zum Marktplatz. Und dort ward Halt gemacht.
Wir standen ziemlich entfernt von den Vorderen.
Nur undeutlich hörten wir die Kommandos, die
Fackeln wurden zusammenaeworfen, >vir vernah-
men, wie Einer sprach. Und dann bas Hoch auf den
Kaiser. Die Hüte flogen empor. Da war es.
Stefan Michailski wandte sich. Ich sehe dies
öhnische Lächeln noch. Seine viereckige Mütze
atte er auf dem Kopfe. Mir blieb das Hoch m
der Kehle stecken.
„Mutze ab!"
Er lachte.
„Da!" — Und mit Einem Schlage flog die
Consöderatka herunter.
„Psa krewi“ fluchte er wild, und mit rothcm
Gesicht sprang er zu.
Es war alles ein Augenblick. Den Lärm ver-
schlang das „Heil Dir im Siegerkranz." Ich
konnte nicht singen. Aber Stefan Michailski war
im Moment losgerissen von mir. Ein paar deutsche
Primaner hatten sich hineingemengt. Er suchte
mit verbissener Miene feine Mütze und räumte
den Platz. Es waren zu viel der Unseren da.
Auf dem Heimwege rief mich ein Primaner
an. Das war eine Ehre ftir uns.
„Brav von Dir," sagte er gönnerhast. „Aber
nimm Dich in Acht."
Und ich kühn und
keine Angst, Herr Dohse
ottessürchtig: „Ich Hab'
Diga Michailska saß lässig aus einem Balken
uiid band sich den aufgegangeueii Schnürschuh
fest. Es war Kaiserwetter geworden. Die Späne
glänzten in der Sonne. In der Sonne glänzte
der Gürtel an Diga's Kleid.
Sie war 15 Jahr und hatte ein Römergesicht.
CS lag etivas Kühnes im Zug der Stirn und
der Rase, nur der Mund paßte nicht ganz dazu.
Er war fiir diese Stirn zu roth und zu voll.
Frei und feinfädig siel ihr Haar über die Schul-
tern. „Ich habe scrr weiches Haar," sagte sie
mit ihrem fremden Accent, „die Nadeln fallen
heraus, wenn ich es aufstecke."
Wir hielten gute Kameradschaft. Auch nach-
dem die Freundschaft mit dem Bruder in die
Brüche gegangen war. Auf denr Zimmrerplatz
trieben wir uns nach Herzenslust herum, hatten
uns hinter den Bohlen und Brettern eigne ver-
schwiegne Gemächer gebaut und hausten dort
tundenlang. Als ich nach der Obertertia ver-
etzt war und ihr es sehr stolz mittheilte, schlang
sie die Arme um nieinen Hals, hob sich leicht
auf den Zehen und gab mir einen Kuy.
Ich ivurde roth.
„Du!"
„Ja," liickte sie mit einem Spitzbubcnlächcln,
„schmeckt serr gut." —
Ich sah sie heut von meinem Fenster aus. Die
Feier in der Aula war zu Ende, der schöne freie Tag
lag vor mir. Was thun? Hinunterachn in die
Sonne, mit Diga schaukeln? — Der Gedanke an
Stefaii hielt mich zurück. Ich wußte, er würde
kommen. Ich ivnßte, daß er sich ivürde rächen
wollen für gestern. Und heut dieser Streit? Nein.
Allerdings — der ganze Platz, o wie
sonnig der war! Und die Stämme schon
wieder trocken. Diga balancirte aus einer
mächtigen Eiche.
Ich hatte unentschlossen mein Gesicht
an die Scheibe gelehnt. Da sah sic mich
und winkte. Sie schwenkte mit beiden Ar-
men so sehr, daß sie das Gleichgewicht ver-
lor. Nur ein kleiner Sprunst rettete sie.
Lachend deutete sie auf deii Stamm und
zeigte ihm die Faust. Nun lvarf sie ein
Sliickchen Borke in der Richtung nach
meinem Fenster.
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