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Nr. 50

JUGEND

1897

„Sie haben gehört, was hier behauptet
warb."

„Es ist Lüge!"

Ich wallte auffahren, aber der Lehrer
hielt mich zurück.

„Was haben Sie zu sagen?"

„Ich mag gehustet Hallen. Sa kann cs
gewesen sein."

„Woher hatten Sie das Bild?"

„Von Plawinski."

„Plawinski, Hallen Sic etwas gesehen?"

Der Junge stand zitternd auf.

„Nein, Herr Doktor."

„Ist Jemand in der Klasse, der den Vor-
fall gleichfalls bemerkte?"

Der Augenblick war entscheidend. Da er-
hob sich mein Nebemnann.

CVrh I"

„S

ch!"
onst Einer?"

Es blieb still. „Dann erzählen Sie!"

Er erzählte alles wie ich. Der Lehrer
holte tief Atyem.

„Leugnen Sie noch, Michailski?"

„Ich halle gehustet," antwortete er. —

Noch in derselben Stunde erschien derDirck-
tor. Es >var nicht viel zu erforschen. Wohl
standen sich die Aussagen gegenüber, aber ans
der einen Seite waren zwei Zeugen. Es han-
delte sich nur darum, oll wir uns wirklich ge-
irrt haben könnten.

Und dazu gab es endlose Verhöre. Die
Polen hielten wacker zusammen. Es fragte
sich, ob Michailski das Vergehen zuzutrauen
ivar. Und da wurde von beiden Parteien
um's Aeußerste gekämpft. Der Hast stieg.
Ein Knüttel nach dem andern flog mir zwischen
die Beine. Der Vorfall am 2l. März beim
Zapsenstreich kam zur Sprache. Die Prima-
ner bezeugten ihn. In meiner Tasche hatte ich
den Zettel, zerknittert zwar und zerrissen, aber
er wurde zusammengestellt: „Viva. Uuloniai
Vivat rex Poloniae futurusl“

An den Provinzialschulrath gingen die
Berichte. Die Lchrerkvnfercnzen nahinen kein
Ende. Stunde für Stunde last wurde einer
von uns nach dein andern vor den grünen
Tisch citirt.

Dann kam die Entscheidung. Die Ent-
scheidung vom Provinzialschulrath nach den
eingefvrdcrtcn Akten. Unser alter Direktor
schüttelte den Kopf. Er hatte cs kommen sehen.

Stefan Michailski wurde zum letzten Mal
in's Eonfercnzzimmcr befohlen. Seine Bücher
musttc er gleich mitbringen.

Am Gesicht des Direktors sah er, das;
sein Spiel verloren ivar. Und da ward er
trotzig.

Er wurde noch einmal gefragt — pro
forma. Jeder erwartete die alte Antwort:
„Ich habe gehustet."

Aller sie erfolgte nicht.

Mit finsteren trotzigen Augen ries er's
dem Direktor entgegen: „Ja — ich hab's
gethan!"

DaS Urtheil war hart: Ausschließung von
allen deutschen Gymnasien.

Und so wenig ich mir irgend einen Vor-
wurf machen konnte — das hatte ich auch
nicht gewollt!


Es war keine gute Zeit damals. Die
ganze Stadt in Aufruhr — hier für, dort
gegen mich. Die Deutschen erwiderten meinen
Gruß freundlicher. Die Polen haben mir
niemals verziehn.

• In der Schule hörten die Reibereien auf.
Zwilchen den beiden Parteien herrschte Eis-
kühle. Keiner lachte mehr, wenn einer der
Anderen hereinfiel. Es war ein unerquick-
licher Zustand. Nur unsere jüdischen Mit-
schüler vermittelten noch ab und zu einen
halben Verkehr.

Diga ivar ein paar Mal auf dem Holz-
platz. Sie sah nicht nach oben. Ich ging
nicht hinunter. Und dabei waren die Tage
schön. Wenn wir so des Vormittags auf den
Bänken sagen, vor der zerschnittenen und be-
malten schwarzen Platte, schweiften die Blicke
oft genug sehnsüchttg hinaus in die Sonne
und in den großen Schulgarten, der ganz
in Sonne stand.

XarreilöClli IT Julius Die\ {München).

Die letztenBäume blühten noch, die Schmet-
terlinge kanten an's Fenster, ein Finkcnpär-
chen Ichmetterte sich die kleine Kehle aus.
Und dazwischen hörteil wir wohl ab und zu
das Lache» der Kinder des Pedellen, die drau-
ßen im Sand oder im Grünen spielten.

Und NUN ivar's an einem Mittivoch Nach-
mittag. Die gute alte Sonne ivar wieder
da. Ich sah sic auf jedem Stamme des Holz-
platzes. Und Diga war auch da, im wetßen
Kleide heute und dem goldenen Kettchen.

Es war doch thöricht, nicht hinunterzu-
gehen. Ihr hatte ich ja nichts gethan. Aller-
dings — zu Hause mochten sie sie wohl gut
bearbeitet haben.

Ich stieg die Treppen hinab. Nicht in
Sätzen. Wie zufällig trat ich aus den Platt.

,?n Tag, Liga".

Sie wandte sich, sah mich. Aber sie gab
keine Antwort.

^Na?" fragte ich spöttisch.

L>ie setzte sich auf einen glatten Balken
und zeichnete eifrig daraus.

„Wer nicht will —sagte ich achselzuckcnd.
„Ich möchte schon sagen: Komm' schaukeln,
aber Du stillst mir ja doch hinunter."

Das war zu viel für sie.

Sie sprang auf, roth, zornig, wundcr-
hübsch. Dicht vor meinem Gesicht fuchtelten
ihre Fäustchen herum.

„O wie serr ich Dich verachte! Wie serr!"
ftieß sie bitterböse hervor. Ihr offenes Haar,
das keine Nadel halten konnte, flog mit bei
jedem Zucken des seinen Kopses.

Ich lachte sie aus. Die Hände in den
Hosentaschen lachte ich sie aus, mit der ganzen
Ueberlegenhcit des älteren Jungen.

Da bekam dieses Persönchen plötzlich ein

«ernstes und strenges Gesicht, kreuzte die
e und sah mich mit ruhigen Augen an.
„Ich verachte Dich serr," äffte ich ihr nach
und betonte das „serr" noch schärfer als sie.
„O pfui!" sagte sie.

Und merkwürdig — wie sie so dastand,
mit deiil Römergestcht, das für ihre Jugend
seltsam herb und ernst war, mit dem weißen
Kleid dazu uild dem goldenen Kettchen, das
halb verdeckt wurde durch das seidige Haar
— da hatt' ich ein Gefühl, als könnt ich gar
nicht anders und müßt sie küssen.

„Diga!"

Die Antwort blieb wieder aus.

„Komi» her —wir wollen schaukeln. Da
liegt gerade das Brett. Und vorher vertrageil
wir uns und Du gibst mir einen Kuß."

Sie sah mich von oben bis unten an. Und
mit ivclchen Augen! Fast eine halbe Minute
lang. Dann drehte sie sich kurz um und ging.

Ich ihr nach. An ihrem Haare griff ich sie.
An ihrem Haar zog ich ihr Haupt in den
Nacken.

„Du mußt, ivcun ich ivill," triumvhirte ich.
Sie wehrte sich mit Händen und Füßen.
Aber ich ivar stärker. Ich küßte sie.

Da hielt sie sich noch einmal mit beiden
Armen an mir fest, und ehe ich's hindern
kouute, hatte sic inich mit ihren festen blanken
Zähnen gebissen. Dicht unterst» Auge.

Ich hatte pe im ersten Schreck losgelassen,
daß sie beinahe gefallen wäre.

Sie sah, wie ich die Lippe vor Schmerz
aufeinanderpreßtc, >vic ich mein Taschentuch
gegen die Wunde drückte. Ich nahm cs ab —
cs war blutig.

Und Diga Michailski — bleich und mit
blitzenden Augen — stand noch wie wartend
einen Augenblick, und dann ging sic.

Ich hielt sie nickst zurück. Ich dachte nicht
daran, sie zu schlagen. Ich dachte nicht daran,
zu reden. Als ob die Uebcrraschung iitich
gelähmt hätte!

Ich habe nie mehr mit ihr gesprochen.

Seht her — hier ist die Narbe. Unter dem
linken Auge. Ich bin viel geneckt worden
damit auf der Universität. Sie nannten das
„Renommirschmiß."

Stesaii Michcnlski ward von seiner Mutter
auf ein galizisches Gymnasium geschickt. Was
aus ihm gcivorden, weiß ich nicht.

Ich weiß nur, daß Diga und ich uns haß-

ten,
lanzirte

..., ... ch:

ft saß ich noch aus"dem Holzplatt, bä-
die Stämme entlang, lag in der Sonne

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Julius Diez: Narrenschiff
 
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