Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 1 (Nr. 1-26)

DOI issue:
Nr. 1 (1. Januar)
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.3337#0013

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
1898

Nr. 1

Die Dame mit dem weissen Fächer

Von Anatole France. .

Tschouang-fsen, aus dem Lande von Soung, war ein
hochgelehrter Mann, der seine Weisheit so weit
trieb, dass er sich von allem Vergänglichen abwandte
und da er, als guter Chinese, auch nicht an ewige Dinge
glaubte, so blieb ihm als Seelentrost nichts als das Be-
wusstsein, sich wenigstens frei von den Thorheiten und
Schwächen der andern Menschen, die überflüssigen Reich-
thümern und nichtigen Ehren nachjagen, zu wissen.
Doch muss in dieser Befriedigung etwas Besonderes
liegen, denn er wurde nach seinem Tode glücklich ge-
sprochen und beneidenwerth genannt.

Nun, solange die unbekannten Mächte ihm gestatteten,
unter dem sonnigen Himmel, inmitten lachender, grünen-
der Gefilde zu weilen, hatte Tschouang-Tsen die Gewohn-
heit, sich in tiefe Gedanken versunken auf den Stätten,
wo er lebte, ohne zu wissen wie und warum, zu er-
gehen. Eines Morgens, als er sich durch Zufall bis
zu den blühenden Abhängen des Berges Nam-Hoa ver-
irrte, gerieth er mit einem Male auf einen Kirchhof, wo
nach der Sitte des Landes die Todten unter kleinen
Hügeln von gestampfter Erde ruhen. Beim Anblick
dieser zahllosen Gräber, die sich bis zum Horizont er-
streckten, verfiel der Gelehrte in tiefes Sinnen über das
Schicksal der Menschen.

„Das nun ist,“ sprach er vor sich hin, „der Scheide-
weg, zu dem alle Pfade des Lebens führen. Wer einmal
unter den Todten seinen Platz eingenommen, der kehrt
nimmer an’s Tageslicht zurück.“

An ein anderes Leben glaubte Tschouang-Tsen, wie
alle seine Landsleute nicht, die, je nachdem sie heiterer
oder schwermüthiger angelegt sind, der Gedanke an solche
Gleichheit im Tode zur Verzweiflung bringt oder tröstlich
stimmt. Eine Menge grüner und rother Götzen müssen
den armen Gestorbenen zur Unterhaltung dienen. Doch
Tschouang-Tsen, welcher der stolzen Sekte der Philosophen
angehörte, verlangte keinen Trost von gläsernen Puppen.

Wie er seine Blicke so nachdenklich über den Kirch-
hof schweifen liess, bemerkte er eine junge Frau in
Trauergewändern, das heisst also in langem, weissem
Kleide aus grobem Stoffe und ohne Nähte.

Sie sass an einem der Gräber und fächelte unermüd-
lich mit einem weissen Fächer über die noch feuchte
Erde des Todtenhügels hin.

Neugierig, was diese seltsame Beschäftigung für
einen Grund haben könnte, näherte sich Tschouang-
Tsen der jungen Frau und sagte artig:

„Madame, dürfte ich mir wohl die Frage erlauben,
wer hier begraben liegt und weshalb Sie mit solchem
Eifer die Erde, die das Dahingeschiedene bedeckt, be-
fächeln? — Ich bin Philosoph, ich suche Alles zu er-
gründen und stehe hier vor einem Etwas, wo es mir
nicht gelingen will.“

Die junge Frau fächelte unablässig weiter. Sie senkte
nur erröthend den Kopf und murmelte einige Worte,
die der Gelehrte nicht verstand. Er wiederholte seine
Frage mehrmals, doch vergeblich. Die Trauernde achtete
gar nicht mehr auf ihn, es schien, als sei ihre ganze Seele
in die Hand, welche den Fächer hielt, übergegangen.

Tschouang-Tsen entfernte sich, ungern genug. Ob-
wohl er wusste, dass Alles eitel ist, so war ihm der
Hang, nach den Beweggründen der menschlichen Hand-
lungen, vornehmlich denjenigen des weiblichen Ge-
schlechtes, zu forschen, angeboren. Die Gattung dieser
untergeordneten Geschöpfe flösste ihm ein zwar wenig
wohlwollendes, aber sehr lebhaftes Interesse ein.

Langsam setzte er seine Wanderung fort, nicht ohne
sich öfters noch nach dem Fächer umzusehen, der sich
gleich dem Flügel eines grossen Schmetterlings, in der
Luft hin- und herbewegte.

Plötzlich stand ein altes Mütterchen, das er bis
jetzt noch nicht bemerkt hatte, vor ihm und winkte ihm,
ihr zu folgen.

Sie führte ihn hinter einen der Grabhügel, der etwas
höher war, als die Andern und sagte:

„Ich habe gehört, dass Sie an meine Herrin eine
rage richteten und keine Antwort erhielten. Ich will

. JUGEND -

J. Diez (München).

Lorbeerbaum u. Galgenstrick

Ihre Wissbegier gerne befriedigen, erstens aus einem mir
angeborenen Anstandsgefühl, und ausserdem in der
Hoffnung, Sie werden mir etwas dafür geben, damit ich
mir von den Priestern ein Zauberpapier kaufen kann,
das mein Leben verlängert.“

Tschouang-Tsen nahm ein Geldstück aus der Börse
und die Alte begann:

„Die junge Frau, die Sie an dem Grabe gesehen,
ist Madame Lu, die Wittwe eines Gelehrten, Namens
Tao, der vor vierzehn Tagen nach langer Krankheit
gestorben ist. Jenes Grab ist das ihres Gatten. Die
Beiden haben sich zärtlich geliebt. Noch als er bereits
in den letzten Zügen lag, konnte sich M. Tao kaum
entschliessen, von ihr zu gehen und der Gedanke, sie
in der Blüthe ihres Lebens und ihrer Schönheit allein
auf der Welt zu lassen, dünkte ihn beinahe unmöglich. -
Doch gut und sanft, wie er war, liess er sich schliesslich
von der Nothwendigkeit überzeugen und ergab sich in
sein Schicksal.

Madame Lu, die am Bette ihres Gatten, von dem
sie während dessen Krankheit nicht gewichen war, in
Thränen zerfloss, gelobte bei allen Göttern, sie werde
ihn nicht überleben; wie sie im Leben sein Lager getheilt,
so gedenke sie auch im Sarge an seiner Seite zu ruhen.

Doch M. Tao sagte: „Geliebte, schwöre das nicht.“

„Nun,“ versetzte sie, „wenn ich denn weiterleben
soll, wenn mich die Genien verdammen, das Licht des
Tages auch dann noch zu sehen, wenn es Deinen Augen
verschlossen ist, so wisse wenigstens, dass ich niemals
die Frau eines Andern sein werde und dass ich nur einen
Gatten besitzen will, wie ich nur eine Seele besitze.“

„Schwöre das nicht,“ sagte Tao.

„Oh, Tao! Dann lass mich wenigstens schwören,
dass ich fünf ganze Jahre warten will, ehe ich mich
wieder verheirathe.“

„Auch das schwöre nicht,“ sagte er. „Schwöre nur,
dass Du mein Andenken solange bewahren willst, so-
lange die Erde auf meinem Grabe nicht trocken ge-
worden.“ Madame Lu gelobte es feierlich. \jnd der
gute M. Tao schloss die Augen für immer. —• Die
Verzweiflung von Madame Lu lässt sich nicht be-
schreiben. Die glühenden Thränen, die sie vergoss,
brannten ihr beinahe die Augen wund. Ihre messer-
scharfen Nägel zerkratzten ihre Porzellanwängelein. Aber
Alles vergeht und die wilden Wogen dieses Schmerzes
beruhigten sich. Drei Tage nach dem Tode von M. Tao
wurde die Trauer von Madame Lu menschlicher. Sie
hörte, einer der Schüler ihres Gatten möchte ihr seine
Theilnahme aussprechen. Sie sagte sich ganz richtig,
dass sie ihn nicht abweisen dürfe, und empfing ihn
seufzend. Der junge Mann war hübsch, sehr elegant,
er sprach einiges Weniges über M. Tao, unendlich viel
über sie, sagte ihr, dass sie reizend sei und dass er
fühle, dass er sie liebe. Sie liess es ihn sagen. Er
versprach, wiederzukommen. Und seither sitzt Ma-
dame Lu Tag für Tag am Grabe ihres Gatten und
fächelt die feuchte Erde, damit sie bald trocken werde.“

Nachdem die Alte ihre Erzählung beendet, dachte
der weise Tschouang-Tsen:

„Die Jugend ist kurz — die Leidenschaft verleiht
den jungen Frauen und Männern Flügel. Alles in Allem
ist diese Madame Lu eine höchst achtungswerthe Person,
die ihren Schwur nicht brechen will.“

(Deutsch von Hans Jürgens.)

CöebaitfvCit «ow cOeno

Sttftuvufy:: — ts cjißt tim Qvu1)t, bit SicmtfyU
ift. Sk-ttbt? — ts cjißt «ujj jcfjmacjj'oofft

3hi«ben..

2luf)t atnb 3httben ivnr| wein JiH «Jiejtu «bet
GH «ßämpfm. ©tin J-tvitcf fsönvift aus Laut« Qfötbti-
fagtvi ßtftt^’n, uvtb ©eilt JBtfitcj« b«

ONiitßtip’uucf nal)t jtin.

6
Index
Julius Diez: Lorbeerbaum und Galgenstrick
Zeno: Gedanken von Zeno
Anatole France: Die Dame mit dem weißen Fächer
 
Annotationen