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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 1 (Nr. 1-26)

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Nr. 11 (12. März)
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l ssö

* JUGHND .

Nr. 11

stammte aber nun der bittere Geschmack? Da
nach der vorgenommenen Analhse mineralische
Stoffe gänzlich ausgeschlossen waren, so suchte
ich unter den vegetabilischen Bitterstoffen so lange,
bis ich in einem Abguss von Quassiaholz den-
jenigen fand, der auf meine Zungennerven genau
in derselben Weise reagirte wie der halbe Punkt.
Ich hatte hiermit noch keinen Beweis, aber doch
die beinahe bis zur Gewissheit gesteigerte Wahr-
scheinlichkeit, dass die sogenannte Unterschrift aus
einem Gemisch von Quassiaholzauszug und Honig
bestehe.

Auf dieser Grundlage operirte ich ivcitcr.
Quassia heisst zu Deutsch Fliegenholz. Man
braucht cs zum Fliegcntödten. Und Honig?
Ei, zum Anlockcn der Fliegen, welche das Süsse
lieben. Es ist ein namentlich auf dem Land
bekanntes Hausmittel, Qnassiaabguß mit Honig
vermischt auf einen Teller zu gießen und diesen
an's Fenster zn stellen. Die masscuweis ange-
lockteu Fliegen sausen und sterben. Ich stellte
mir eine solche Mischung her. Sie verhielt sich
nach Geschmack genau wie der untersuchte Punkt.
Aber dieser war schtvarz gefärbt, meine Mischung
dagegen goldgelb. Lange grübelte ich über dem
Problem nach, endlich kam mir ein Zufall zrc
Hilfe, der mich heute in die glückliche Lage ver-
seht, dem hohen Gerichtshof den Beweis zu liefern,
dass die sogenannte Unterschrift überhaupt nicht
geschrieben,?andern gefegt und nichts anders
als ein — mit Respekt zu sagen — Fliegendr—uck
oder, wenn ich es provinziell ausdrücken darf,
Muckenschmutz ist!"

Diese unerwartete Eröffnung schlug wie eine
Bombe in die Versammlung ei». Alles hing
an den Lippen des Redners. Der Sachverständige
Maus lies; ein höhnisches Gemecker hören.

Der Präsident bat den Chemiker, weiterzu-
fahren. Dieser knüpfte das
Taschentuch von dem Käst-
chen los, welches sich als
ein aus Gaze gebildeter
kleiner Käsig darstcllte.

„In diesem Käsig, der
durch ein eingeschobenes
Karteublatt in zwei Ab-
theilungen getheilt ist, habe
ich" — so erörterte Sieben-
gscheidt — „in der einen
Abthcilung ein Stückchen
Löschblatt, welches mit
Quassia und Honig ge-
tränkt ist. In der andern
Abtheilung befinden sich
einige gefangene Fliegen.

Soivie ich das Kartenblatt
entferne, werden die Flie-
gen sich aus das Löschblatt
losstürzen,sie werden gierig
sausen, und in kürzester
Zeit werden die Thiercheu
dahin sterben, aber nicht
ohne vorher noch ihreUuter-
schrist geleistet zu haben.

Diese Unterschrift beginnt
merkwürdiger Weise stets
mit einem Punkt, welchem
sodann ein mehrfach ver-
schlungener Namenszug
folgt. Wenngleich die ein-
zelnen Unterschriften nach
Geschlecht, Alter, Tempera-
ment, Erziehung und Le-
bensweise der einzelnen
Fliegenvon einander unter-
schieden sind, so zeigen sie
doch im Ganzen eine auf-
falleudeUebereinstimmung.

Diese Erscheinung hat ihre

Ursache darin, das; die durch ^ , tr i r-\ e: r>

Quassia und Honig bc-l\ *-' w C rs

schleunigte peristaltische Bewegung vermöge ihrer
Vehemenz jedes Thierchen mitreißt und zwingt,
die ganze Bewegung mitzumachen. 0'sst plus
fort qu’elles!

Dürste ich nun dem hohen Gerichtshof zum
Bciveis meiner Behauptungen die Entstehung
solcher Unterschriften in frischer That vorführen?"

Der Präsident neigte sich links, er neigte sich
rechts, die Beisitzer nickten, der Staatsanwalt
nickte, vr. Siebengscheidt wurde gebeten, auf
daS Podium zu steigen und das Experiment
ohne Verzug zu beginnen.

Der Vertheidiger, welcher sich ebenfalls ge-
nähert und in dem Käfig einige verschmitzt aus-
schende Fliegen entdeckt hatte, stellte den Antrag,
diese Fliegen iu's Freie zu entlassen und im
Sitzungszimmer neuen Ersatz einzufangen.

„Obgleich ich," fügte er bei, „selbstverständlich
nicht den geringsten Zweifel in die bona fides
des Herrn Sachverständigen setze, so halte ich eS
dennoch nicht für thunlich, ihn den Beweis für
seine Behauptungen mittelst Fliegen, die er sel-
ber mitgebracht, führen zu lassen. Wer gibt
uns die Gewähr dafür, das; der gelehrte Herr,
welcher in einem halben Punkt einen süßen und
einen bitteru Geschmack zu entdecken vermochte,
nicht auch einem halben Dutzend begabter Fliege»
Rondeschriststuudcn mit Erfolg zu geben im
Stande war?"

Der Präsident gebot dem Gerichtsdieuer, die
Fliegen im Auwaltszimmer in Freiheit zu setzen.
§>er Staatsanwalt lächelte beinahe schalkhaft.

Nachdem der leere Käfig zurllckgebracht war, be-
gann das Einfangen von Fliegen. Der Gerichts-
hof und die Geschworenen begaben sich au die
Fenster und iuszcuirten eine fröhliche Jagd. In
kurzer Zeit waren neun Fliegen znr Strecke ge-
bracht, worunter zlvei prächtige Brummer, die

machen k^ure.

der Gerichtsdieuer verstohlen dem erfolglosen
Präsidenten in die Hand gesteckt hatte.

Jetzt beantragte der Staatsanwalt für die Dauer
des Experiments Ausschluß der Oeffentlichkeit.
Der Gerichtshof schloß sich dem Antrag nicht an.

Alles versammelte sich nun mit gespannter
Aufmerksamkeit um den grünen Tisch. Die ei»-
gcsperrten Fliegen vergnügten sich aus dem Lösch-
blatt. Nach einer Minute lvurden sie auf Kom-
mando des Chemikers heransgcuommen und, da
sie jetzt halb gelähmt waren, eine jede frei auf
einen halben Bogen Aktenpapier gesetzt.

Der Rekord begann. Der Vertheidiger suchte
halblaut Weiten zu entriren und bezeichucte eine
mittelgroße Fliege mit grünlich schillernden
Flügeln als den muthmaßlicheu Sieger. Die
Anregung fand keine Gegenliebe und der Totali-
sator unterblieb.

Endlich erschien der erste Punkt, dem in un-
regelmäßigeu Pausen die andern nachfolgten
Die Fliegen begannen zu taumeln, und nach Ver-
lauf von kaum drei Minuten hatte eine jede ihre
Unterschrift geleistet und das Zeitliche gesegnet.

Die Unterschriften zeigten unter sich und mit
der Unterschrift unter dem Drohbrief eine so
verblüffende lleberciustimmnug, daß der Staats-
anwalt sich erhob und die Anklage zurückzog.

Ein mehrstimmiges Bravo ans dem Zuschauer-
raum nöthigte den Präsidenten zu ernster Ver-
warnuug. Dann sagte er:

„Wir haben dem Scharfsinn des Herrn vr.
Siebengscheidt die gänzliche Aufhellung einer
schwierigen Thatfrage zu verdanken. Gleichzeitig,
meine Herren Geschworenen, verfehle ich nicht,
Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sic heute
einem der denkwürdigsten Ereignisse in de» An-
nalen der Gerichte aller Kulturvölker beigewohnt
haben, nämlich dem noch nie dagewesenen Er-
eigniß, daß sich ein Schrcib-
sachverständiger geirrt und
zwar gründlich geirrt hat.
Und Sic haben sich doch
geirrt, Herr Kauzleirath
Maus?"

Dieser antwortete mit
der kalten Ruhe, die nur
ein schlechtes Gewissen zu
geben vermag:

„Ich habe nicht die ge-
ringste Veranlassung, einen
Jrrthum zuzugeben, Herr
Präsident. Selbstverständ-
lich bin ich nun ebenfalls
überzeugt, daß die Unter-
schrift unter dem Drohbrief
nur ein Fliegendenkmal ist.
Mit solchen Dingen habe
ich mich aber niemals ab-
gegeben. Wäre diese Unter-
schrift aber wirklich ge-
schrieben statt gesetzt, so
konnte Niciitand anders
als der Angeklagte der
Schreiber sein. Dies nehme
>cl> aus meinen Eid. Für
die Einmischung von Flie-
gen bin ich nicht verant-
wortlich."

Der Angeklagte wurde
frcigesprochen, die Kosten,
auch die Gebühren des
Vertheidigers, der Staats-
kasse auferlegt.

Der . Sachverständige
Maus ist gegenwärtig
wieder mit der Ausarbcit-
ung eines Gutachtens be-
schäftigt. Die Flhegeu ha-
ben cs in seinem Haus
nicht gemüthlich.

. . . Carl Bittman».

Jul, vier ^München),

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Julius Diez: Kleider machen Leute
 
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