Julius Diez (München).
Nr. 24
i JUGEND k
1898
richtig die sechs leckersten kleinenJnngen und schlie-
fen, die Schnauzen in einander eingebohrt. Dem
Storch traten Thräncn in die Augen, als er sie so sah.
„Es thut mir, beinahe leid," sagte er — „um
die Eltern."
Aber im selben Augenblick saß ihm schon ein
Stachelschweinchen ganz unten im Halse.
„Sehr gut, sehr gut", fuhr er fort. „Ich habe
schon ärgere Sachen gekostet," und damit nahm
er noch einen Bissen und ließ ihn ganz langsam
hinabgleiten.
„Gott, was für ein Vergnügen Sie beim
Essen haben müssen", sagte Krabbe neidisch. „Mit
diesem Hals!"
„Beklage mich nicht," ertviderte der Storch.
Er hielt gerade bei Nummer Drei.
. „Und die Mahlzeit ist nach Wunsch?" „Aus-
gezeichnet." „Die Borsten kratzen nicht?" „Kann
sie gar nicht merken." „Ja, dann wünschen wir
Ihnen für den Rest wohl zu speisen", sagte
Krabbe und nahm seinen Bruder wieder unter
den Arm.
„Nein, warten Sie ein Bischen," rief der
Storch und trat ihnen in den Weg. „Sie müssen
zuerst meine Frau begrüßen."
„Ihre Frau?"
„Ja, das wird sie freuen."
„Vergessen Sie das Papier nicht," sagte Krabbe
und schwitzte wiederum Grün.
„Ja, ich tverdc Sic getviß nicht anrühren,"
bctheuerte der Storch und legte seinen langen,
biegsamen Hals über den Rücken und klapperte
mit dem Schnabel, so das; cs widerhallte.
„Das ist ein abscheulicher Laut," murmelte
Quabbe.
„Ja," sagte der Storch, „aber nützlich. Und
da haben mir die Gnädige."
Im selben Moment rauschte es in der Luft,
das war die Storchmutter, die geflogen kam. Sie
kreiste ein paar Mal in der Lust, streckte die
Beine von sich und ließ sie taumeln, um festen
Fuß zu fassen, und dann stand sie da. Aber be-
vor sie noch so weit war, hatte der Storchvater
den Rest der Stachelschweinjungen verschluckt; er
beeilte sich dermaßen, daß ihm das letzte beinahe
in die Unrechte Kehle gekommen wäre.
„Ißt Du etwas?" fragte Mutter und sah ihn
scharf an.
„Ach, eine ganz unbedeutende Kleinigkeit!"
sagte Vater. „Aber darf ich nicht vorstellen:
Meine Frau.die Brüder Grün!"
„Aha — a, was für schöne Herren," lächelte
die Frau,
„Ja, ich dachte, cs würde Dich freuen, ihre
Bekanntschaft zu machen, nieine Liebe," nickte der
Storch. — Aber die Zwillinge sagten Nichts,
Quabbe saß noch immer stumpf und theilnahms-
los und glotzte mit starren Augen vor sich hin,
die Fahrt durch den Snezkanal hatte ihn ganz der
Fähigkeit beraubt, aufznfassen, >vas um ihn vor-
ging. Und Krabbe konnte beim besten Willen
kein Wort heransbringen, er war ganz an seinen
Bruder herangekrochen und drückte sich in seiner
Angst dicht an ihn, und beit „Kontrakt" hielt er
in die Lust wie einen Schild.
Aber ein iveniges später waren die Brüder ver-
schwunden: die Storchmutter hatte sie verspeist.
„Ein Mann kann nicht für die Handlungen
seiner Frau verantwortlich sein", sagte der Storch-
Vater. Er stand aus einem Bein, blinzelte mit
den Angen und sah philosophisch aus.
Und im selben Augenblick erfaßte der Wind
den Kontrakt, flatterte mit ihm fort und lvarf ihn
hinab, in die Mergelgrube.
(Aus dem Dänischen von Francis Maro.)
-taiidchei»
Solang das Mädel jung, jung, jung,
Da ist ihr Keiner gut genung.
Das geht, so lang es geht,
Doch einmal ist's zu spät!
Ihr Mädel, eh' Ihr dies vergeht,
Seid weise und bedenkt!
Denn schenkst Du mir hernach den Rest:
Ich nehm' ihn nicht geschenkt!
Dann bet' und weine Ach und Weh!
Du schöne (Zeit, ade, ade!
Das steht schon in der Bibel:
Dein Min sei klar, Dein Ja sei schlicht;
Man liebt sich oder liebt sich nicht —
£in Drittes ist vom Uebel.
Itory Towska.
&
Ein Wunder
Mir fällt das Buch aus der Hand, — ich
lausche;
Denn wieder tönt von drüben überm Flur,
Da unser Würmchen wir zu Bette brachten,
Dies Liedl Ich lausche und staune nur.
Nie sang sie, eh’ sie Mütterchen geworden,
Nie einen Ton! Und nun mit Einem Mal
Erklingen süss aus ihrer Kehle
Glocken und Saiten ohne Zahl!
Das ist ein Lied, wie’s nur vielleicht im
Himmel
Ein Engel singt,
Und das durch’s Haus in unsre bangen
Herzen
Wie Balsam dringt;
Ein Lied, das ein leibhaftig Wunder
Von Gott und eine Gnade ist, —
Um das esfiir das Würmchen in der Wiegen
Beinahe zu schade istl
Walter Harlan,
Geschichten über Autorität
Von Multatuli.
Bruder, der Du grösser bist als ich, kannst
du die Granate erreichen, die dort im Grünen,
zwischen jenen Feuerblumen mich mit ge-
öffneten Lippen anlacht wie ein winkendes
Mädchen? Siehe, ihre Reife hat sie bersten
lassen, und glühend-roth ist der Rand der
Wunde, die sie sich selbst schlug, um mir
zu gefallen I Mich reizt jene Granate, mein
Bruder! Du, der Du grösser bist als ich,
strecke Deinen Arm aus und pflücke, auf
dass ich esse.
Und der Bruder timt also, damit der jüngere
Bruder esse.
Und der ältere ging auf das Feld und sah
dort eine Bergziege, welche hinunterstieg in
die Tiefe und ihr Junges suchte.
Hast Du mein Lamm nicht gesehen, fragte
sie den Löwen, Du, der Du das Thal be-
wohnst und besser als ich die Wege auf dem
flachen Felde kennst, die für mich so er-
müdend sind, weil mein Huf gespalten istl
Lass Dein Junges, Dein Junges .... Dein
Lamm, Dein Lamm, sagte der Löwe, und
komme her zu mir, auf dass ich Dich ver-
schlinge,
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Nr. 24
i JUGEND k
1898
richtig die sechs leckersten kleinenJnngen und schlie-
fen, die Schnauzen in einander eingebohrt. Dem
Storch traten Thräncn in die Augen, als er sie so sah.
„Es thut mir, beinahe leid," sagte er — „um
die Eltern."
Aber im selben Augenblick saß ihm schon ein
Stachelschweinchen ganz unten im Halse.
„Sehr gut, sehr gut", fuhr er fort. „Ich habe
schon ärgere Sachen gekostet," und damit nahm
er noch einen Bissen und ließ ihn ganz langsam
hinabgleiten.
„Gott, was für ein Vergnügen Sie beim
Essen haben müssen", sagte Krabbe neidisch. „Mit
diesem Hals!"
„Beklage mich nicht," ertviderte der Storch.
Er hielt gerade bei Nummer Drei.
. „Und die Mahlzeit ist nach Wunsch?" „Aus-
gezeichnet." „Die Borsten kratzen nicht?" „Kann
sie gar nicht merken." „Ja, dann wünschen wir
Ihnen für den Rest wohl zu speisen", sagte
Krabbe und nahm seinen Bruder wieder unter
den Arm.
„Nein, warten Sie ein Bischen," rief der
Storch und trat ihnen in den Weg. „Sie müssen
zuerst meine Frau begrüßen."
„Ihre Frau?"
„Ja, das wird sie freuen."
„Vergessen Sie das Papier nicht," sagte Krabbe
und schwitzte wiederum Grün.
„Ja, ich tverdc Sic getviß nicht anrühren,"
bctheuerte der Storch und legte seinen langen,
biegsamen Hals über den Rücken und klapperte
mit dem Schnabel, so das; cs widerhallte.
„Das ist ein abscheulicher Laut," murmelte
Quabbe.
„Ja," sagte der Storch, „aber nützlich. Und
da haben mir die Gnädige."
Im selben Moment rauschte es in der Luft,
das war die Storchmutter, die geflogen kam. Sie
kreiste ein paar Mal in der Lust, streckte die
Beine von sich und ließ sie taumeln, um festen
Fuß zu fassen, und dann stand sie da. Aber be-
vor sie noch so weit war, hatte der Storchvater
den Rest der Stachelschweinjungen verschluckt; er
beeilte sich dermaßen, daß ihm das letzte beinahe
in die Unrechte Kehle gekommen wäre.
„Ißt Du etwas?" fragte Mutter und sah ihn
scharf an.
„Ach, eine ganz unbedeutende Kleinigkeit!"
sagte Vater. „Aber darf ich nicht vorstellen:
Meine Frau.die Brüder Grün!"
„Aha — a, was für schöne Herren," lächelte
die Frau,
„Ja, ich dachte, cs würde Dich freuen, ihre
Bekanntschaft zu machen, nieine Liebe," nickte der
Storch. — Aber die Zwillinge sagten Nichts,
Quabbe saß noch immer stumpf und theilnahms-
los und glotzte mit starren Augen vor sich hin,
die Fahrt durch den Snezkanal hatte ihn ganz der
Fähigkeit beraubt, aufznfassen, >vas um ihn vor-
ging. Und Krabbe konnte beim besten Willen
kein Wort heransbringen, er war ganz an seinen
Bruder herangekrochen und drückte sich in seiner
Angst dicht an ihn, und beit „Kontrakt" hielt er
in die Lust wie einen Schild.
Aber ein iveniges später waren die Brüder ver-
schwunden: die Storchmutter hatte sie verspeist.
„Ein Mann kann nicht für die Handlungen
seiner Frau verantwortlich sein", sagte der Storch-
Vater. Er stand aus einem Bein, blinzelte mit
den Angen und sah philosophisch aus.
Und im selben Augenblick erfaßte der Wind
den Kontrakt, flatterte mit ihm fort und lvarf ihn
hinab, in die Mergelgrube.
(Aus dem Dänischen von Francis Maro.)
-taiidchei»
Solang das Mädel jung, jung, jung,
Da ist ihr Keiner gut genung.
Das geht, so lang es geht,
Doch einmal ist's zu spät!
Ihr Mädel, eh' Ihr dies vergeht,
Seid weise und bedenkt!
Denn schenkst Du mir hernach den Rest:
Ich nehm' ihn nicht geschenkt!
Dann bet' und weine Ach und Weh!
Du schöne (Zeit, ade, ade!
Das steht schon in der Bibel:
Dein Min sei klar, Dein Ja sei schlicht;
Man liebt sich oder liebt sich nicht —
£in Drittes ist vom Uebel.
Itory Towska.
&
Ein Wunder
Mir fällt das Buch aus der Hand, — ich
lausche;
Denn wieder tönt von drüben überm Flur,
Da unser Würmchen wir zu Bette brachten,
Dies Liedl Ich lausche und staune nur.
Nie sang sie, eh’ sie Mütterchen geworden,
Nie einen Ton! Und nun mit Einem Mal
Erklingen süss aus ihrer Kehle
Glocken und Saiten ohne Zahl!
Das ist ein Lied, wie’s nur vielleicht im
Himmel
Ein Engel singt,
Und das durch’s Haus in unsre bangen
Herzen
Wie Balsam dringt;
Ein Lied, das ein leibhaftig Wunder
Von Gott und eine Gnade ist, —
Um das esfiir das Würmchen in der Wiegen
Beinahe zu schade istl
Walter Harlan,
Geschichten über Autorität
Von Multatuli.
Bruder, der Du grösser bist als ich, kannst
du die Granate erreichen, die dort im Grünen,
zwischen jenen Feuerblumen mich mit ge-
öffneten Lippen anlacht wie ein winkendes
Mädchen? Siehe, ihre Reife hat sie bersten
lassen, und glühend-roth ist der Rand der
Wunde, die sie sich selbst schlug, um mir
zu gefallen I Mich reizt jene Granate, mein
Bruder! Du, der Du grösser bist als ich,
strecke Deinen Arm aus und pflücke, auf
dass ich esse.
Und der Bruder timt also, damit der jüngere
Bruder esse.
Und der ältere ging auf das Feld und sah
dort eine Bergziege, welche hinunterstieg in
die Tiefe und ihr Junges suchte.
Hast Du mein Lamm nicht gesehen, fragte
sie den Löwen, Du, der Du das Thal be-
wohnst und besser als ich die Wege auf dem
flachen Felde kennst, die für mich so er-
müdend sind, weil mein Huf gespalten istl
Lass Dein Junges, Dein Junges .... Dein
Lamm, Dein Lamm, sagte der Löwe, und
komme her zu mir, auf dass ich Dich ver-
schlinge,
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