Nr. 18
1898
Natürlich kann die Puppe nicht die Zunge
Herausstrecken. Könnte sie das, so wäre das
Spiel nicht halb so schön. Denn nicht, was da
ist, sondern was die Phantasie hinzusetzt: das
macht die Seligkeit des Spieles aus, das ist der
Tanz der Seele auf weiter Aue. Das ist ja
unsere, meine und des Jungen stille Wonne,
als wir nun beginnen, einen Zoologischen Garten
anzulegen. Hätten wir rasfinirt genau und hübsch
gefertigte Löwenkäfige, Raubvogelvolidren und
Büffelställe, da wär's eine öde Sache, die Nie-
mand reizte, weder meinen Jungen noch mich-
Schasfen, schaffen will ein lebendiger Geist'
thätig sein will das Kind! Und wenn sein Geist
noch schläft, dann will wenigstens der Körper
thätig sein. Aus der fernsten Feme meiner
Kindheit — ich kann bis in's dritte Lebensjahr
zurückdenken — leuchtet mir eine ehrwürdige
Fußbank her, die mir auf Gnade und Ungnade
zum Objekt meiner Willens- und Muskelkraft
überlassen war und in die ich so lange Nägel
hineinschlug, bis keiner mehr Platz hatte. Das
waren schöne Zeiten, als dieser Schemel noch
nicht vollgenagelt war! Dergleichen kommt nicht
wieder! Aus Fußbänke loszuschlagen, dazu bin
ich denn doch nicht mehr kindlich genug, und auf
vemagelte Köpfe zu hauen — ja, so etwas ist
immer verboten.
Und nun soll ich ihnen etwas Vorsingen,
lustige und traurige Lieder, wie sie die Kinder
singen. Als Liedersänger und Rattenfänger ge-
nieß' ich in dieser Stube einen weitverbreiteten
Rus. Das kommt daher: ich singe ihnen meistens
die Lieder, die ich selbst als kleiner Knabe ge-
sungen habe. Und meine Kindheit ist ein Land,
wo um Stilles und Bewegtes ein seliges Tönen
fließt. Wo über die Wiesen leise Flötenlieder wan-
dern, und die Enten auf dem Dorsteich klingende
Spuren ziehen. Wo vom Horizont her, da die
Essen und Thürme des Wunderlandes aufragen,
den Hellen Sommertag entlang ein heimliches
Brausen tönt, >vo aus dem dunklen Epheumantel
des alten Schlosses seit den frühesten Tagen ein
ewiges Flüstern klingt. Wo aus der tiefsten
Stille eines todten Wintemachmittags heraus
das vereiste Brunnenrohr leise zu singen beginnt,
und am stilleren Abend selbst der Mond hinter
der hängenden Weide heraufzieht mit fernem
Gesang.
„Als der Mond schien Helle,
Kam ein Häslein schnelle . . . ‘
Ich kann dergleichen mit vielen! Ernste und
mit vieler Lustigkeit singen, und es ist gewiß eine
elende Sentimentalität von mir, daß mir dabei
mitunter die Augen heiß werden, wenn ich denke,
wie ich mich _ als Junge auf's Wachsen freute,
und daß ich jetzt nicht wachsen darf.
„Häslein ging zur Ruhe,
Zog aus Rock und Schuhe,
Legte sich aus's weiche Moos,
Schlief wie auf der Mutter Schooß."
Und so sollt ihr nun auch bald euch ausziehen
und zu Bette gehen und schlasen und euch tvas
Schönes träumen lassen —"
„Ich Hab schon was geträumt, diese Nacht!"
plappert die Kleinste, d. h. die Kleinste von den
Salonfähigen.
„Was hast Du denn geträumt? Erzähl mal!"
„Da kam'n Mann in unfern Garten, und
das war'n Soldat, und da wollte er Ludwig seinen
Wagen wegnehmen, und da — und da — wie
war es man noch weiter, Vater?"
Ja Du liebes, liebes Blitzauge — es ist ja
sehr erhebend und schmeichelhaft, daß Du mir
solch ein Wissen zutraust — Dein Vertrauen
ehrt mich — aber leider überschätzest Du mich.
Und dann kommt die Mutter, die hinaus-
gegangen war, mit dem Abendbrod zurück.
„Wir sollten heute Kuchen haben; Du hast es
uns versprochen, Mutter!"
Und wenn Du diesen Leutchen etwas ver-
sprochen hast, dann ist der furiengejagte Orest
gegen Dich ein Mann, der sein' Ruh hat. Be-
stünde der Reichstag z. B. aus Kindern, dann
wäre das Verbindungsverbot für politische Ver-
eine längst aufgehoben, weil sie dem guten Onkel
Chlodwig einfach keine Ruhe gelassen hätten.
Sie bekommen denn auch ihren Kuchen und
essen ihn zuerst. Darin besteht ja eben unsere
große sittliche Ueberlegenheit gegenüber dem Kinde,
daß wir Selbstzucht genug besitzen, unsere Be-
gierde 10, ja 15 Minuten lang zu zügeln und
das Beste bis zuletzt zu verspüren, tveil es ja
nämlich so einen viel raffinirteren Genuß gewährt.
Der ethische Mensch hat eben die Kraft, erst den
Beychevelle und dann den illoutou Rothschild
zu trinken. Ich freilich habe auch als Knabe
schon Beispiele von solcher Selbstbeherrschung
gegeben, will übrigens dabei nicht leugnen, daß
dergleichen auch bei anderen Kindern vorkommt.
Wenn es Gerstengrütze mit Rosinen gab, aß ich
erst die Grütze und schob alle Rosinen zurück.
Und dann zum Schluß so einen ganzen Lössel
voll Rosinen: Jesses, Jesses, dieser Genuß!
Rosinengenuß mit 23 multiplizirt! Man glaubt
nämlich in jenen Jahren, daß sich alles multi-
pliziren lasse.
In der letzten halben Stunde soll ich dann
noch neun verschiedene Spiele mit ihnen spielen,
mit jedem etwas anderes. Dergleichen hält nur
eine Mutter aus. So eine Mutter hält ein
Kind auf dem Arm, gibt einem andern zu trinken,
spricht mit einem dritten, lenkt ein viertes mit
dm Augen und macht zu alledem noch eine an-
muthige Figur. Meine Majestät zieht sich in die
inneren Gemächer zurück und ist so „erholt," daß
sie lang auf's Sopha fällt. Aber diese Ermüd-
ung ist köstliche Erquickung.
Und ich muß daran denken, wie ich vor Jahren
im Berliner Ausstellungspark mit einem düsteren
Finsterich der Decadence über die Fortpflanzung
des Menschengeschlechts debattirte. BeiderElendig-
keit von Welt und Menschheit fand er es blöde,
sich an Kindern zu freuen. Aber — Du lieber
Gott — wenn man so die Bibel ausschlägt:
„Abraham zeugete Isaak. Isaak zeugete Jakob.
Jakob zeugete Juda und seine Brüder. Juda
zeugete Pharez und Sara u. s. w." Sehen Sic:
das ist es. Wenn ich nun wirklich eine Aus-
nahme hätte machen wollen — nun ja: etwas
hätt' es ja ausgemacht; aber doch nicht genug.
Unsere Eltern hätten anfangen müssen. Das ist
es. Da tvar es Zeit. Dagegen hätt' ich auch
nichts cinzuwenden gehabt. Aber jetzt ist es zu
spät. Jetzt hat der Finsterich auch schon zivei
Kinder. Ueberliesern wir die Ausgabe, das
Menschengeschlecht aussterben zu lassen, als ein
heiliges Bermächtniß unsern Nachkommen!
Das Hochzeitsneisepaan
Die Eheringe glänzen
Mit feuerigem Schein,
Es ist kein einziger Kritzer dran;
Sie sagt: „Mein Herzl Mein Schatzl“
— Man kann
Gar nicht verliebter sein.
Auf seine Schulter legt sie
Den Kopf mit Lindigkeit;
Ach könnte man küssen im Kupeel
Indem ich aus dem Fenster seh
Schaff ich Gelegenheit.
Sie essen und sie trinken;
Wie füttert sie ihn zartl
Wer Augen hat zu sehn, der sieht:
Die Liebe stärkt den Appetit.
Dann wischt sie ihm den Bart,
JO«
1898
Natürlich kann die Puppe nicht die Zunge
Herausstrecken. Könnte sie das, so wäre das
Spiel nicht halb so schön. Denn nicht, was da
ist, sondern was die Phantasie hinzusetzt: das
macht die Seligkeit des Spieles aus, das ist der
Tanz der Seele auf weiter Aue. Das ist ja
unsere, meine und des Jungen stille Wonne,
als wir nun beginnen, einen Zoologischen Garten
anzulegen. Hätten wir rasfinirt genau und hübsch
gefertigte Löwenkäfige, Raubvogelvolidren und
Büffelställe, da wär's eine öde Sache, die Nie-
mand reizte, weder meinen Jungen noch mich-
Schasfen, schaffen will ein lebendiger Geist'
thätig sein will das Kind! Und wenn sein Geist
noch schläft, dann will wenigstens der Körper
thätig sein. Aus der fernsten Feme meiner
Kindheit — ich kann bis in's dritte Lebensjahr
zurückdenken — leuchtet mir eine ehrwürdige
Fußbank her, die mir auf Gnade und Ungnade
zum Objekt meiner Willens- und Muskelkraft
überlassen war und in die ich so lange Nägel
hineinschlug, bis keiner mehr Platz hatte. Das
waren schöne Zeiten, als dieser Schemel noch
nicht vollgenagelt war! Dergleichen kommt nicht
wieder! Aus Fußbänke loszuschlagen, dazu bin
ich denn doch nicht mehr kindlich genug, und auf
vemagelte Köpfe zu hauen — ja, so etwas ist
immer verboten.
Und nun soll ich ihnen etwas Vorsingen,
lustige und traurige Lieder, wie sie die Kinder
singen. Als Liedersänger und Rattenfänger ge-
nieß' ich in dieser Stube einen weitverbreiteten
Rus. Das kommt daher: ich singe ihnen meistens
die Lieder, die ich selbst als kleiner Knabe ge-
sungen habe. Und meine Kindheit ist ein Land,
wo um Stilles und Bewegtes ein seliges Tönen
fließt. Wo über die Wiesen leise Flötenlieder wan-
dern, und die Enten auf dem Dorsteich klingende
Spuren ziehen. Wo vom Horizont her, da die
Essen und Thürme des Wunderlandes aufragen,
den Hellen Sommertag entlang ein heimliches
Brausen tönt, >vo aus dem dunklen Epheumantel
des alten Schlosses seit den frühesten Tagen ein
ewiges Flüstern klingt. Wo aus der tiefsten
Stille eines todten Wintemachmittags heraus
das vereiste Brunnenrohr leise zu singen beginnt,
und am stilleren Abend selbst der Mond hinter
der hängenden Weide heraufzieht mit fernem
Gesang.
„Als der Mond schien Helle,
Kam ein Häslein schnelle . . . ‘
Ich kann dergleichen mit vielen! Ernste und
mit vieler Lustigkeit singen, und es ist gewiß eine
elende Sentimentalität von mir, daß mir dabei
mitunter die Augen heiß werden, wenn ich denke,
wie ich mich _ als Junge auf's Wachsen freute,
und daß ich jetzt nicht wachsen darf.
„Häslein ging zur Ruhe,
Zog aus Rock und Schuhe,
Legte sich aus's weiche Moos,
Schlief wie auf der Mutter Schooß."
Und so sollt ihr nun auch bald euch ausziehen
und zu Bette gehen und schlasen und euch tvas
Schönes träumen lassen —"
„Ich Hab schon was geträumt, diese Nacht!"
plappert die Kleinste, d. h. die Kleinste von den
Salonfähigen.
„Was hast Du denn geträumt? Erzähl mal!"
„Da kam'n Mann in unfern Garten, und
das war'n Soldat, und da wollte er Ludwig seinen
Wagen wegnehmen, und da — und da — wie
war es man noch weiter, Vater?"
Ja Du liebes, liebes Blitzauge — es ist ja
sehr erhebend und schmeichelhaft, daß Du mir
solch ein Wissen zutraust — Dein Vertrauen
ehrt mich — aber leider überschätzest Du mich.
Und dann kommt die Mutter, die hinaus-
gegangen war, mit dem Abendbrod zurück.
„Wir sollten heute Kuchen haben; Du hast es
uns versprochen, Mutter!"
Und wenn Du diesen Leutchen etwas ver-
sprochen hast, dann ist der furiengejagte Orest
gegen Dich ein Mann, der sein' Ruh hat. Be-
stünde der Reichstag z. B. aus Kindern, dann
wäre das Verbindungsverbot für politische Ver-
eine längst aufgehoben, weil sie dem guten Onkel
Chlodwig einfach keine Ruhe gelassen hätten.
Sie bekommen denn auch ihren Kuchen und
essen ihn zuerst. Darin besteht ja eben unsere
große sittliche Ueberlegenheit gegenüber dem Kinde,
daß wir Selbstzucht genug besitzen, unsere Be-
gierde 10, ja 15 Minuten lang zu zügeln und
das Beste bis zuletzt zu verspüren, tveil es ja
nämlich so einen viel raffinirteren Genuß gewährt.
Der ethische Mensch hat eben die Kraft, erst den
Beychevelle und dann den illoutou Rothschild
zu trinken. Ich freilich habe auch als Knabe
schon Beispiele von solcher Selbstbeherrschung
gegeben, will übrigens dabei nicht leugnen, daß
dergleichen auch bei anderen Kindern vorkommt.
Wenn es Gerstengrütze mit Rosinen gab, aß ich
erst die Grütze und schob alle Rosinen zurück.
Und dann zum Schluß so einen ganzen Lössel
voll Rosinen: Jesses, Jesses, dieser Genuß!
Rosinengenuß mit 23 multiplizirt! Man glaubt
nämlich in jenen Jahren, daß sich alles multi-
pliziren lasse.
In der letzten halben Stunde soll ich dann
noch neun verschiedene Spiele mit ihnen spielen,
mit jedem etwas anderes. Dergleichen hält nur
eine Mutter aus. So eine Mutter hält ein
Kind auf dem Arm, gibt einem andern zu trinken,
spricht mit einem dritten, lenkt ein viertes mit
dm Augen und macht zu alledem noch eine an-
muthige Figur. Meine Majestät zieht sich in die
inneren Gemächer zurück und ist so „erholt," daß
sie lang auf's Sopha fällt. Aber diese Ermüd-
ung ist köstliche Erquickung.
Und ich muß daran denken, wie ich vor Jahren
im Berliner Ausstellungspark mit einem düsteren
Finsterich der Decadence über die Fortpflanzung
des Menschengeschlechts debattirte. BeiderElendig-
keit von Welt und Menschheit fand er es blöde,
sich an Kindern zu freuen. Aber — Du lieber
Gott — wenn man so die Bibel ausschlägt:
„Abraham zeugete Isaak. Isaak zeugete Jakob.
Jakob zeugete Juda und seine Brüder. Juda
zeugete Pharez und Sara u. s. w." Sehen Sic:
das ist es. Wenn ich nun wirklich eine Aus-
nahme hätte machen wollen — nun ja: etwas
hätt' es ja ausgemacht; aber doch nicht genug.
Unsere Eltern hätten anfangen müssen. Das ist
es. Da tvar es Zeit. Dagegen hätt' ich auch
nichts cinzuwenden gehabt. Aber jetzt ist es zu
spät. Jetzt hat der Finsterich auch schon zivei
Kinder. Ueberliesern wir die Ausgabe, das
Menschengeschlecht aussterben zu lassen, als ein
heiliges Bermächtniß unsern Nachkommen!
Das Hochzeitsneisepaan
Die Eheringe glänzen
Mit feuerigem Schein,
Es ist kein einziger Kritzer dran;
Sie sagt: „Mein Herzl Mein Schatzl“
— Man kann
Gar nicht verliebter sein.
Auf seine Schulter legt sie
Den Kopf mit Lindigkeit;
Ach könnte man küssen im Kupeel
Indem ich aus dem Fenster seh
Schaff ich Gelegenheit.
Sie essen und sie trinken;
Wie füttert sie ihn zartl
Wer Augen hat zu sehn, der sieht:
Die Liebe stärkt den Appetit.
Dann wischt sie ihm den Bart,
JO«