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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 28 (9. Juli 1898)
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Nr. 28

JUGEND

1898


Der Graphologe

?9fet kleine Joachim hatte wieder einmal
nicht gelernt. Er ging in Sexta und
war unter 53 der achte von unten. Er lernte
eigentlich nie, er war eigentlich immer faul.

Aber was heißt: faul?! Niemand küm-
merte sich um ihn; die Mama, die immer
krank gewesen war, lag draußen in der tiefen
Erde, und seit den» Tage, da man sie hinaus
getragen hatte, war Joachims Vater ein
gebrochener Mann. Bisweilen, wenn der
Junge gar zu schlechte Zeugnisse heim
brachte, schlug ihm der Vater iin Jähzorn
das Pest um die Ghren, sonst ging er seinen
einsamen weg, ohne auf die Kinder viel
Acht zu geben.

Joachims Leben war schön und schrecklich.
Schön au den Nachmittagen und Abenden,
wenn man umher wilderte, schrecklich am
frühen Morgen, wenn er mit leercin Kopf
zur Schule ging. Joachim wanderte dann
ganz langsam und betete im Stillen: „Lieber
Gott, ich bitte Dich, laß es heute nicht
schlimm werden. Ich bitte Dich, lieber guter
Gott, gib, daß heute alles gut geht. Ich will
auch fleißig werden und ein guter Mensch."

Sehr häufig hatte der liebe Gott mit
Joachim Nachsicht und Erbarmen, aber alles
hat seine Grenzen, Joachim trieb es zu toll.

So heute. Joachim hatte platterdings
nichts gelernt. Nicht amabam, nicht moveo.
Man hatte gestern Abend mit Glaskugeln
nach türkischen Bohnen geschoben, ein Spiel,
in dem Joachim excellirte, aber zum Lernen
war es zu spät geworden. Inbrünstig sagte
er im Stillen sein gewohntes Gebet und als
er es beendet hatte, wurde er ganz friedlich
und heiter, peute ging sicher alles gut, er
hatte das bestimnite Gefühl, daß nichts pas-
siven werde. — Bei 53 Schülern sind immer
nur vier oder fünf die Gequälten, man hat
eine cdance von t»:t, daß man nicht gefragt
wird. Außerdem war Joachim erst vorgestern
„dran gewesen."

Die Katastrophe dieses Tages war fürch-
terlich. — Joachim sollte amabam hersagen.

Joachim hatte keine Ahnung.

Joachim in seiner Angst las ab.

Joachim wurde gefaßt! Beim Ablesen II

„Also Du bist nicht nur faul," sagte perr
Püto, „Du betrügst auch nochl Dir, mein
Junge, werde ich das pandwerk legen."

Er nahm ein weißes Blatt Papier, setzte
sich auf den Katheder, schrieb eine weile und
sah dann nach der Uhr.

„Es ist jetzt halb Neun. Ist Dein Vater
zu Pause?"

„Ja."

„Du gehst nach Pause, sofort, und lässt
diesen Zettel unterschreiben, von Deinem
Vater. Du bist Punkt Neun wieder hier.
Marsch."

Joachim nahm den Zettel, sah durch einen
Nebel 52 Augenpaare theilnehmend, bos-
haft, neugierig, angstvoll auf sich schauen,
holte seine Mütze vom Nagel und ging.

Ging den Eorridor entlang.

Die Treppe hinab.

Zum Pause hinaus.

Erst als hinter der Ecke der Rhein-Straße
das Schulhaus verschwunden war, öffnete er
den Zettel und las: „Joachim hat heute
wiederum sein Pensum nicht gelernt. Als er
examinirt wurde, las er betrügerischer weise
aus den« Bnche ab. Der Unterzeichnete Lehrer
bittet perrn Amtsrichter Brünig, diesen
Zettel als gelesen unterschreiben zu wollen."

Der Junge war todtenblaß.

„was nun?"

Betrügerischer weise. Betrügerischer —

Carl Küstner (München).

Er ging mit starren Augen seinen ge-
wohnten weg, ohne etwas zu sehen, ohne
etwas zu denken.

Er hätte alles darum gegeben, wenn
er jetzt hätte todt sein können. Fortgcwischt,
gestorben, weg l

Er betete auch nicbt mehr. Da konnte
auch der liebe Gott nicht mehr helfen.

Der Papa würde ihn zu Boden schlagen,
und mit Recht. An dem Schlage lag dem
kleinen Joachim nichts, aber der arme Papa l
Gestern Abend war der Papa an fein
Bett gekommen und hatte ihn leise über
die Wangen gestreichelt und gesagt:

„Nächste Woche ist Mamas Geburts-
tag, vergiß das nicht, Joachim, wir gehen
zusammen zum Friedhof."

Nun dieser Zettel.

Er ging um das paus durch den Gar-
ten, die Pintertrepxe hinauf durch die Küche.
Niemand war da. Dann auf den Zehen-
spitzen durch den Eorridor an das Kindcr-
zimmer. Leise öffnete er.

„Jescsl Joachim I?"

Das alte Lottchen saß da, die Näherin,
die alle vier Wochen zum Ausbessern kam.
Sie war ein bejahrtes Factotnm, das von
Jedermann — Joachim ausgenommen —
geschätzt und gern gesehen wurde; sic hatte
just den ersten Faden in die Nadel ge-
zogen und die letzte Tasse Kaffee zum Wär-
men ans den Dfen gestellt.

„Joachim! wo kommst Du her!? Ist
was passirt?!"

Joachim suchte: „wo ist Tinte?"
Endlich fand er. Ein kleines Füßchen,
das nie benutzt wurde und über und über
von Staub bedeckt war.

„wo ist 'ne Feder?"

Auch die fand er: eine uralte Feder, die
gespalten war und doppelt zog.

Das alte Lottchen hatte vor Joachim zu
viel Respekt, um hinein zu reden, aber sie
fühlte: hier ging etwas vor und zwar et-
was Schlimmes.

Mit zitternder bfand schrieb Joachim:
„peinlich Brünig."

Dann ging er.

Er sah den Zettel nicht wieder an.
Das Ding brannte ihm in der pand.
So kam er zurück in das Schulzimmer,
so gab er stumm das Papier perrn Pülo.

Der sah aus den Zettel, dann auf Jo-
achim. Lange.

„Setz Dich. Ls ist gut."-

Und lange sah perr Püto aus den Zettel.
Er war nie Graphologe gewesen, aber
heute wurde er es.

Die Schule war zu Ende, perr Püto
ging nach Pause und aß in seiner einsamen
Junggesellenwohnung sein spärliches Mil-
tagbrod.

Noch einmal holte er den Zettel hervor.
Diese zwei Worte, diese kleine Unter-
schrift, was alles lag darin!

Todesangst und kindliche Einfalt.

Ein ganzes Kindesleben.

Eine Verzweiflung, die das Letzte, Trau-
rigste thun könnte.

„Betrügerischer weise — —"

Das hatte der kleine Junge dem Vater
zur Unterschrift vorlegen sollen! Das hatte
er, der Pädagoge dem Kinde zugemuthet!
Mehr, als man einem Verbrecher abverlangt!

— — Tags darauf sprach er mit dem
kleinen Joachim. Ganz anders als sonst.
Sehr weich und sehr milde. Keine Strafe,
kein neuer Zettel, kein nichts.

Und der faule kleine Joachim wurde
zu Gstern versetzt nach ÜZuinta.

Wilhelm Meyer-Förster.

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Register
Carl Küstner: Landschaft
Wilhelm Meyer-Förster: Der Graphologe
 
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