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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 29 (16. Juli 1898)
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Nr. 29

JUGEND

1893

Das Leben ohne Schicksal

Monn perr Theobald Abends schlafen ging,
M betete er zuvor: „Lieber Gott, gib mir
auch morgen ein Leben ohne Schicksall" Lr hatte
eine sehr große Angst vor dem Schicksal. Und
er konnte wirklich nicht anders. Denn es hatte
in seiner Familie, soweit er nur ihre Geschichte
kannte, immer eine miserable Nolle gespielt.

perr Theobald war der gemüthlichste Mensch
von der Welt. Und doch war er ans einer
heftig genialen Kllnstlcrche entsprossen. Sein
Vater war ein berühmter Schauspieler gewesen
und hatte ihm bei seinem Tode ein stattliches
vermögen, eine Menge getrockneter Lorbeer-
kränze und eine ganze Galerie von Photo-
graphien schöner Frauen hinterlassen. Das
vermögen legte Perr Theobald auf die sicherste
Meise an. Auch die Lorbcerkränze trug er
vorsichtig ans den Boden, wo er sie an einer
festen tväscheleine aufhing. Die Photographien
ordnete er in einer Truhe, nahm aber alle
verkehrt in die pand. Tr wollte gar keinen
Blick darauf iverfen, denn seine gute Base
roch ganz deutlich, daß an diesen Dingen das
Schicksal klebte. Sein Vater hatte sich wegen
Derjenigen, die zu den schönsten von den Photo-
graphien gesessen hatte, erschossen.

perr Theobald war ein so gemüthlichcr
Mensch und dabei keine gefeierte Schönheit,
piugegen war seine Matter eine solche ge-
wesen und hatte ihm eine Menge von elegantem
Schmuck hinterlassen. Aber sie war deshalb
nicht todt, o nein. Sie war nur ein wenig
mit einem Verehrer nach Amerika durchge-
gangen. perr Theobald war gar nicht hab-
süchtig, und er verschenkte alle die Edelsteine,
ohne sie jemals auch nur genau besehen zu
haben, an arnie verwandte.

Lr hatte sehr viel Familiensinn I Lr be-
wunderte zwar seine Litern, aber er wußte,
daß sie einer ihm ganz fremden Sphäre
angehört hatten. Um doch an Jemanden
seine warmen Familiengefühlc hängen zn
können, begann er sich über seine Groß-
eltern, die er nie gekannt hatte, zu er-
kundigen. Lr brachte in Lrfahrung, daß
sein Großvater väterlicherseits zeitlebens
ein sehr kluger, tüchtiger Mann gewesen,
dein es sogar gelungen war, ans dem
Gefängniß, wo er viele Jahre sitzen
sollte, auszubrechen. Sobald perr Theo-
bald das konstatirt hatte, gab er es be-
trübt auf, noch über den verbleib sei-
ner vaterseitigen Großmutter Nachforsch-
ungen zu pflegen, sondern sprang gleich

auf die mütterliche Seite über. Merkwürdiger
Meise fand er über diese gar keine Daten; es
war rein, als ob es hier nie eine Familie mit
einer hübschen freundlichen Jahreswohnnng
und gediegenen Möbeln, wie perr Theobald sie
liebte, gegeben hätte. Jedenfalls mußte in
diesent Pause die größte Unordnung geherrscht
haben, denn sogar der Name des Vaters war
so verlegt worden, daß er nicht aufzufinden war.

Jetzt hatte Porr Theobald genug. Lr be-
dauerte täglich früh während des Ankleidens
das Los feiner Familie, trank dann ans einem
Hellen freundlichen Porzellanservice den Kaffee
und ging in sein Bureau, indem er sich auf
der Treppe jeden Tag von neuem vornahm,
dem Schicksal aus dem Ivege zn gehen und
nicht einmal ein Stolpern zn riskiren.

Lr verabscheute es in jeder Form. Er be-
schloß, nie ein Drama zn schreiben, weil er sich
ja dann an das Schicksal der Premiere gekettet
hätte. Lr besuchte nie einen großen Ball oder
gar eine Redoute, denn hier spukte das ver-
hängniß in allen Ecken auf die nnverfchlbarstc
Art herum. Nnr kleine gemllthliche Unter-
haltungen besuchte er manchmal, wenn er sich
genau informirt hatte, wer hinkam.

Lr liebte überhaupt nichts Aufregendes, da
über einen aufgeregten Mensche» das Schicksal
leichter Macht hat. Lr hatte absolut keinen
Sinn für Tragik; das Romantische und Aben-
teuerliche hatte in seiner Familie nicht gut
gethan. Dagegen sah er gerne lange Zeit mit
liebevollen Blicken int Stadtpark den Spatzen
zu; diese kannten ihn auch schon als einen
braven Menschen und ließen sich, wenn sie
Zeit hatten, von ihm füttern. Sie hatten nicht
immer Zeit dazu, während er nur sehr kurze
und angenehme Bureanstunden Hatto.

Er trug immer Kleider von einem soliden
und etwas altvätcrischen Schnitt. Geht man
in allzu modischen daher, so kann es aus Ja

Ei. Pankok.

und Nein geschehen, daß sich eine gefährliche
Person in einen verliebt, und ehe man sich's
versieht, wird einem auch schon eine Flasche
Vitriol in's Gesicht geworfen. Da Zigeuner
gerne Kinder stehlen, ging er, als einmal die
halbe Stadt hinauslief, um ein Zigeunerlager
anzusehen, das sich auf zwei Tage in der Nähe
niedergelassen hatte, nicht mit, obwohl er da-
mals schorr zweiunddreißig Jahre zählte. Er-
las keine Romane und sah nnr einmal ein
Ballet, wofür er aber nichts konnte, da es
eines Abends in eine alte langweilige Dpcr
zum ersten Male eirigeschoben worden war.

Niemals betrank er sich, nur, weurr man
von Milch einen Rausch bekäme, hätte er öfter
einen Milchrausch gehabt, da er Milch seyr
gerne trank. Lr hielt dieses Geträrrk, das gar
nicht arrf die Nerven wirkt und so sehr kräf-
tigt, für ein Gegengift gegen jegliche Leiden-
schaft und empfand förmlich, wie so ein wuu-
derthäliges Glas alle Schicksalsbacillen, die
aus dieser gefährlichen Welt in ihn geflogen
sein konnten, ersäufte und wcgspülte.

Auch im Kaffeehause saß er gern und er-
staunte sich daun in seiner warmen Ecke, daß
die Leute ihre Behaglichkeit für solche Dinge
aufgeben konnten, wie sie in den Zeitungen
so schrecklich beschrieben waren. Gewagte Stift-
ballonfahrten, Entführungen, Kasscudiebstähle,
Abstürze und Aehnliches. Das heißt, ihm er-
schienen die unähnlichsten Dinge insofern ähn-
lich, als sie den Menschen aus seiner Ruhe
herausbringen. Lin Liscnbahuunglück und
das erste Auftreten einer gefeierten Tänzerin
erregte in ihm ganz verwandte Gefühle. wenn
er in den illnstrirten Blättern die erschüttern-
den Bilder von gefährlichen Ereignissen be-
trachtet hatte, war es ihm, als hätte er selbst
etwas erlebt. Lr schüttelte sich, zahlte ganz
bestürzt, ohne deshalb jemals ein Brod weniger
anzusagen, zündete eine Ligarette an und
machte einen kleinen Spaziergang durch
die Straßen. Pier gewann er bald seine
behagliche Laune ivieder, und diese ging,
weil die Bewegung gut thut, allmählich
in ein wahres Glücksgefühl über. Er em-
pfand, daß er erreicht hatte, was er suchte,
das gute ruhige Leben, das Leben, wo der
Druck des gestrigen und die Sorge des
ntorgigen Tages den heutigen nicht stört,
das Leben ohne Schicksal. — Im weiter
gehen verfiel er in ein sanftes, molligei
Träumen- Lr war zufrieden mit sich und
hatte sich gern — „wenn ich Baron wäre,
könnte ich mich nicht lieber haben," sagte
er einmal zu sich selbst.

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Register
Fritz Hegenbarth: Zierleiste
Emil Rechert: Das Leben ohne Schicksal
Bernhard Pankok: Vignette
 
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