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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 29 (16. Juli 1898)
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Nr. 29

JUGEND

1898

schrie nach dem Leben da draußen, der tapfere,
kraftvolle Löwe, er wollte hinaus in die Felder,
die sich dicht hinter seinem Käsig dehnten, von
denen er den gelbe» Schimmer durch die Latten
des Gartenzanns winken sah!

Langsam schoben sie sich durch den Garten;
überall dasselbe; kleine, feste Käfige, Spielereien
von Moos und Baumrinde, von Felsgeröll und
Wasserfall darin; überall derselbe Thierblick voll
von Schönheit, Fluchtverlangen, aussichtsloser,
lebenslänglicher Gefangenschaft-

Und Herrn Reginald zog es mehr und immer
mehr zu diesem Wildpark der gelähmten Kreatur,

Aber im Winter fiel die Ausfahrt fort.

Da stand der Rollwagen den ganzen Tag im
Zimmer, nahe den Fenstern, die mit Schutzdecken
gegen die Kälte verwahrt waren, Zeitungen lagen
denl Gelähmten aus dem Schoos;, Und er las
und laS.-

Ihm gegenüber faß Frau Reginald, Sie
stickte, Ost äußerte der Kranke einen Wunsch,
Dann sagte sie freundlich: „Ja, lieber Mann",
stand auf und brachte, >vas er brauchte. Darauf
stickte sie weiter.

Was stickte sic nur? Die Wohnung war doch
schon so voll gestickt, es hätte beim besten Willen
kein Kissen, kein Schoner mehr Platz gefunden,
Stickereien und Häkeleien, und Guipuren und
Nähereien hingen einem in die Augen, ans die
Schultern, dehnten sich unter den Füßen, bedeckten
die Wände, Aber Frau Reginald stickte, zur
Seite ihres lahmen Mannes. Die Tage, die
trostlos langen Tage brauchen eine Arbeit, lind
als es endlich beim besten Willen nichts mehr
zu sticken gab, da begann sie Brandmalerei. Und
darauf Lederpnnzcn, lind darauf — nein, es gab
nichts mehr, Porzellanmalerei hatte sie bereits
hinter sich. Darauf kaufte sie einen kleinen Hund,
- Weil er und seine Race in der Mode war, —
das schöne, lange, seidenweiche Fell, der klrige
Aefschenkvpf, von dem Stirnlocken baumelten —
ivurde er „Mode" genannt, und Mode trat nun
an die Stelle der Stickerei. Tag aus, Tag ein
lag er auf Frau Reginalds Schootz, und mechanisch
glättete sie sein Haar, Und zuweilen — flüchtig
und wie in einer unklaren Sehnsucht — küßte
sie ihn,

lind Tag für Tag saßen „Mode", HerrReginald
und Frau Reginald im Erker am Fenster, und
blickten auf die Straße,

Die Stille lvnr unerträglich.

Auf dem Straßendamm, in der Parkallee,
spielten die Kinder des Waisenhauses, das zehn
Schritte weiter, hinter der ins Feld gebauten
Dragonerkaserne lag.

Es waren Kinder, die ihr Waisenelend tvie
eine sichtbare Bürde trugen.

Ihre Hände und Näschen, ihre Backen und
Wimpern waren vor Kälte fast erstarrt. Was
brauchen ,sie auch Kapuzen und Handschuh, wenn
sie spielen in der kalten, tobten Allee, programm-
mäßig, bei zivölf Grad Reaumur.

Zuweilen siel einer der Schneebälle, mit denen
sie warfen, in Reginalds Garten hinein, dann
schaarten sie sich vor dem Zaun, tl»d
stöberten ihn tvieder hervor, indem sie
ihre langen, hageren, rothen Aermchcn
durch das Gitter zwängten.

Und Frau Reginald sah diese Händ-
chen, die hinübergriffen zu ihr. Aber
sie Hielt kein einziges fest.

Sie blickte hinaus nüt ihren Augen,
die Alles sahen und Nichts.

Ein einziges Mal — an einem Tage
der zum Sterben tvar, an einem Feier-
tag, wo nicht einmal Zeitungen er-
schienen, und der Gelähmte in der
alles erstarrenden Stille selbst seine
Wünsche vergaß — durchzuckte sie der
Gedanke: „Geh' hinaus und nimm
Dir ein Kind."

Und ihre wasserblauen Angen rissen sich >veit
und fassungslos auf.

Mein Gott! Mein Gott! Es ivürde etwas
springen, singen, surren hier im Zimmer, Auf
dem Teppich ivürde ein Lebendiges kriechen, an
ihrem Schooße herauf, zu den Knieen des ge-
lähmten Mannes, ein Kopf mit Kinderaugen sich
zwischen die Zeitungen schieben.

Etwas unendlich Liebliches, wie süßer Hha-
cinthengcruch, füllte für cinenMoment dasZimmcr.

Dann >var es verschwunden, Frau.Reginald
saß wieder starren Blicks,

Nein! Nein! Kein fremdes Kind in dieses
saubere Heim! Kein Geschöpf aus einer ver-
kommenen, armseligen Familie, daS vielleicht
Laster und Krankheiten, — Vererbtes mitbringe»
würde!

Dan» lieber bei der verantwortungslosen
Kreatur, dem Hunde, bei „Mode" bleiben,

-Aber eines Nachts erwachte Frau Reginald
in einer wahren Todesangst, Was tvar das?
Was ging mit ihr vor? In ihrem Herzen klopften
kleine Hämmer, tobten, rasten, ititb setzten wieder
aus, „Ich sterbe", dachte sie, indem sie mit den
Händen um sich griff, „mein Herz bleibt stehen,"

Sie sprang empor, entzündete Licht und sank
tvieder zurück. Ein schrecklicher Herzkrampf Packte
sie, versetzte ihr den Athen;, Ein Winseln, ein
keuchendes Jammern entrang sich ihrer Brust.

Herr Reginald war erivacht, er wendete schtvach
den Kopf, Nur eine Vierteldrehung, mehr gestattete
seine Lähmung nicht. In bleichem Schrecken lallte
er den Namen seiner Frau, Er hörte sie stöhnen,
er sah, wie sie sich warf. In dieser Sekunde
hätte er sein Leben dafür hingegeben, ihr helseir
zu können. Aber nicht die Haild konnte er bis
zu ihr erheben,

„Rudolf — einen Arzt! — einen Arzt!" Es
war eii; Wimmern, das ihm die Brust zerreißt;
„einen Arzt, Rudolf! Ach — lieber Rudolf,
hilf mir!! Einen Arzt!!" lind gefoltert von
Seelenschmerz, im Gefühl seiner Ohnmacht der
Verzweiflung nah, antlvortete er, indem sein
Körper regungslos blieb, mit lallender, langsamer
Stimme:

„Ich — kann nicht hoch, — Ich kann nicht
hoch, Johanna," — — —

Es wurde still in; Zimmer, Herrn Reginalds
Augen in den; steifgebetteten Gesicht gingen hin
und her, von; Antlitz der Frau zur Thür, von
der Thür zu»; Antlitz der Frau, Er hörte sein
Herz gegen seine Rippen pochen, ihn; tvar als
müsse cs die Gelähmtheit sprengen, die starren
Sehnen zerreißen. Sein Blick irrte nach der
Klingelschnur, die zwischen den beiden Betten
hing — „Klin—geln — Johanna" — lallte er.

Sie verstand ihn, aber ihre Hand, die un-
ausgesetzt nach de»; Herzen zuckte, fand den Weg
nicht bis zu der Schnur, Statt dessen begann
sie zu schreien — immer das eine Wort, — den
Namen der Dienerin, die über ihnen in der
Mansarde schlief. Immer das eine Wort, —
zwischen je zwei Anfällen — mit lauter, durch-
dringender, gellender Stimme „Anna Marie!
Anna Marie!!"

Aber Anna Marie erschien nicht. Kein See
ist so tief, wie ein solcher Bauernmädchenschlaf,
Man hörte keinen Ton im ganzen, ausgestorbenen
Hause.

Endlich wurde das Schreien heiser, daS Wim-
mern schwach und matt. Der Anfall schien vorüber.
In das schiveißbedeckte Gesicht der Frau trat ei»
stumpfer, matter Zug, Eine bleierne Müdigkeit
irrte über Lippen und Augen hin — sie hob und
senkte noch ein paar Mal die Lider, dann schlum-
merte sic ein,

Herr Reginald blieb wach, Seine Stirn hatte
eine Furche bekommen, sein Bart schien grauer,
große Schatten senkten fielen» seiner Nase entlang.

Er durchlebte die Schrecken der Stunde zum
zweiten Mal,

Und in seinen Ohren gellte der Schrei: Anna
Marie!!

Ja, die schlief. Es schlief die ganze Welt,
wie mit einemTodtentuch war das Dasein zngedeclt.
Niemand war ans der Erde, als er, mit seinem
wachen, hilflosen, rasenden Herzen!-

Gegen die Morgendämmerung hin erwacht-
Frau Reginald,

Sic erinnerte sich sofort. O wie hatte sie die
Nacht gekäntpft! Nun wußte sie es, sie war krank,
sie war herzkrank, und das heilte keine Kunst der
Welt mehr aus,

Sic setzte sich ans in; Bett ;»;d blickte ans ihren
Mann, Er »lochte eben eingeschlummert sein.
Seine Hände lagen, wie immer gekreuzt und ge-
faltet, ans der Bettdecke, Seine Haare hatten sich
verschoben, sie hingen ihn; bis in die Augen hinab,
und er hatte sie nicht zurück streichen können, und
zivinkerte ängstlich und gequält in; Schlafe nüt
den Lidern.

Ein nncitdliches Mitleid, nicht »>it ihn; allein,
mit ihn; und sich zugleich, fluthete zu»; erste» Male
durch ihr Herz. Welch' eine furchtbare, grausen-
erregende Nacht! Nichts Menschliches in der Nähe,
und sterben müsse;; mutterseelenallein wie aus
einer Insel in; Meer!

So sterben auch die Thiere in; Walde, Aber
Menschen sterben nicht so. — — — — — — —

Sic stand auf, sah nach der Uhr, und still,
nüt leisen Bewegungen, wie jeden Morgen, kleidete
sie sich all.

In; Herzen war cs ruhig, nichts klopfte »nd
hämmerte mehr. Also tvar ihr noch ein Tag
geschenkt. Vielleicht noch ein Jahr, Vielleicht
Jahre, Wer konnte es wissen? Der Herzkrampf
würde wiederkommen, aber er tödtete sic »och nicht
gleich. Sie durfte noch leben — eine kleine Spanne,
Es war ihr Frist geschenkt, — nn; nachzuholen.

Ui;d schneller flogen ihre Finger,
von Erwartung wurde sie beinahe
froh. Sie öffnete leise die Thür zu»,
Nebenziinnrer, n;;d trat ans den
Zehen hinein, der Hund drängte
ihr entgegen, sie stieß ihn zurück
und sah ihi; nicht an. Was tvill
das Thier, das menschliche Stim-
men schreie» und januncrn nitd
luiitfdit und verzweifeln hört, und
aus seine»; Hundedasein nicht er-
wacht?

Sie eilte an's Fenster, und riß
die Lädci; auf, und ihr Blick lies
nach de»; Waisenhaus hinüber, nni-
schtoß gierig das nüchterne Hans.
Nur lwch eine halbe Stunde, dann

X. Heiss (München).
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