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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 31 (30. Juli 1898)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3338#0080
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Marienfäden

J. R. Witzei (München).

im Augenblick Niemanden zu schicken hatte,
mußte ich selbst gehen. Ich gmg also und
auf dem Heimwege, gerade vor meiner Thüre,
traf ich einen anderen meiner Freunde, der
damit beschäftigt war, in einer Droschke herum-
zufahren, um eine Aktiengesellschaft zu gründen.
Er fragte mich, ob ich Lust hätte, den Posten
eines Kassendirektors zu übernehmen. Ich
wollte nicht so ohne Weiteres nein sagen, daS
hatte ja unfreundlich ausgefehcn; ich ging
also vor Allem mit ihm frühstücken, um weiter
über die Sache zu diskutiren. Wie gesagt, zu-
erst frühstückten wir, und dann begannen wir
zu diskutiren. Es war inzwischen zwei Uhr ge-
worden, und wir waren nahe daran, zu einem
definitiven Resultat zu kommen, als meinDienst-
Mädchen, das auf irgend eine unergründliche
Art meinen Aufenthaltsort ausgekundfchaftet
hatte, hereingestürzt kam und erzählte, daß
meine Schwiegermutter im Sterben läge. Meine
Schwiegermutter wohnt in Kungsholm, ich
nahm also eine Droschke und fuhr hin. Sehr
richtig; meine Schwiegermutter lag wirklich im
Sterben, aber sie starb nicht früher, als gegen
sechs Uhr. Endlich konnte ich also nach Hause
kommen und meinen Roman fertig schreiben - -.
aber sieh da, am Jakobsmarkt blieb ich wie
gewöhnlich vor Silvander stehen, um mir eine
neue Sorte Handschuhe anzuschen, und als ich
mich umdrchte, um meinen Weg nach Hause
fortzusetzen, stand ich einem dritten meiner
Freunde gegenüber, einem Manne, der es müde
war, Aktiengesellschasten zu gründen und statl
dessen lieber Schach spielte. Er fragte mick
also, ob ich Whiskey trinken und Schach spieler
wollte. „Danke, gerne, alter Junge," and
wartete ich, ohne mich zu bedenken, denn ick
hatte völlig meinen Roman vergessen; unt
als ich mich im nächsten Augenblicke wiede
daran erinnerte, hatte ich ja schon ja gesag
und konnte nicht umsatteln — das würde j>
charakterlos ausgeseheu haben. Also ginge
wir zu ihnr nach Hause, tranken Whiskey un
spielten Schach bis elf Uhr. Dann sagte ii
gute Nacht und ging heimwärts, mit dem m
erschütterlichen Borsatz, meinen Romair ferti
zu schreiben — und jetzt fängt die Geschichte a,

Hört nun zu: Ich hatte ungefähr zehn Minuten
nach Hause. Als ich den halben Weg zurück-
gelegt hatte, merkte ich, daß ich müde und ein
bischen schläfrig war. Daraus zog ich unwill-
kürlich den Schluß, daß es vermuthlich mit
dem Schreiben nicht gut gehen würde, wenn
ich mich nach Hause begäbe und mich, so wie
ich war, an den Schreibtisch setzte. „Hier rechts
liegt ein gemüthliches kleines Cafö-Restaurant,"
sagte ich zu mir selbst. „Wenn ich da eintrete
und eine große Tasse starken Thee trinke und
dann nach Hanse gehe und schreibe, muß das
Schlußkapitel meines Romans großartig wer-
den." Ich trat also ein. Im Cafö saß das schwed-
ische Volk wie gewöhnlich und trank Punsch.
Ein einziger kleiner Tisch war frei, und der stand
mitten im Saale. Dort ließ ich mich nieder.

„Kann ich eine Tasse Thee haben?" sagte
ich zu einer der Kellnerinnen.

Es wurde todtenstill im Saale. Ringsum-
her saß das schwedische Volk mit dickem Bauch
und rosigen Wangen und trank Punsch; und in
regelmäßigen Zwischenräumen stieß cs die Glä-
ser zusammen und sagte: Jetzt trinken wir exl

Aber als ich eine Tasse Thee verlangte,
wurde es ganz still im Raume.

„Eine Tasse Thee?" fragte die Kellnerin
mit unsicherem Tonfall.

„Ja," antwortete ich, „eine Tasse Thee."

„Nur eine Tasse Thee, bitte? Ist nicht
auch Brod und Butter gefällig? Und Cognac
und Bier? Und Punsch?"

„Nein, danke," antwortete ich freundlich.
„Ich möchte nur eine Tasse Thee haben."

„Bitte, gleich," sagte die Kellnerin.

Man starrte mich von allen Seiten an.
Eine ganze Minute lang sagte Niemand: Jetzt
trinken wir exl

Man sprach ringsum von mir, und ich hörte
Einiges von dem, das gesagt wurde.

„DaS ist ein verrückter Ausländer," sagte
Einer- „Pfui Teufel, wie viel Heuchelei und
Scheinheiligkcit es heutzutage gibt," sagte ein
Anderer. „Er ist besoffen und will nüchtern
werden," sagte ein Dritter. „Wie kann man
nüchtern.werden wollen, wenn man besoffen
ist," sagte ein Vierter.

Die Kellnerin kam mit meinem Thee. Ich be-
zahlte sogleich und gab ihr eine Krone Trinkgeld,
damit sie nicht glauben sollte, ich tränke Thee,
weil ich nicht die Mittel hätte, Punsch zu trinken.

Aber ich kam nie in die Lage, diesen Thee
auszutrinken. Ich saß ganz still und friedlich
da und rührte ihn um und war bestrebt, durch
mein ganzes Benehmen meinen Nachbarn klar
zu machen, daß ich ihnen nichts zu leide ihnen
wollte — als ein alter Upsalakollege, den ich
seit fünfzehn Jahren nicht gesehen hatte, plötz-
lich vor mir stand nnd mit starren Augen mich
und meine Theetasse anblickte.

„Bist Du cs wirklich?" sagte er ergriffen.
„Und Du willst dieses Gcschlader da trinken?"
„Ja," antwortete ich verschüchtert.

„So, dahin ist es also mit Dir schließlich
gekommen. Das ist furchtbar."

Ich dachte, daß er scherzte, und versuchte im
selben Ton zu antworten.

„Ich glaube gar, Du möchtest witzig sein,"
sagte mein alter Kamerad. Und jetzt erst merkte
ich, daß er sternhagelbesoffen war.

Ohne Umschweife vertraute er mir dann
an, daß er mich eigentlich von der ersten Stunde
unserer Bekanntschaft an nie hatte ausstehen
können. Er hatte es gleich herausgehabt, daß
ich ein Charlatan wäre, oder wenn ich wünschte,
daß er sich deutlicher ausdrückte, ein Schweine-
hund. Er hatte sich immer nach einer passen-
den Gelegenheit gesehnt, mir das sagen zu
dürfen: und nun war es gesagt I

Mein alter Kamerad hatte sich wärmer und
wärmer gesprochen; zum Schluß schrie er so, daß
man es über den ganzen Saal hörte. Alle lausch-
ten entzückt, nnd der Kellermeister zeigte sich in
der Thür. Es war ein großer, hochrother Mann.

„Was gibt's da?" sagte er mit einer ge-
wissen Drohung in der Stimme und sah sich
in der Versammlung um. Da zeigten Alle
auf mich und riefen im Chorus:

„Es ist nur der Herr, der dasitzt nnd un-
verschämt istl"

Im nächsten Augenblick befand ich nrich
auf der Straße, und was meinen Roman be-
trifft, so gedenke ich ihn heute fertig zu schreiben.

(Deutsch von Francis Maro.)

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Josef Rudolf Witzel: Marienfäden
 
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