Nr. 35
JUGEND
1898
>
Fritz Erler (München).
Nachtklänge
Bist Du bange vor der Nacht? —
O sie darf uns nicht bezwingen.
Höre nur das süsse Klingen,
Das durch Tann und Berge lachtl
All die Klänge kenn’ ich schon,
Die der Nacht sich sanft verbünden ;
Aus den Tiefe’n, aus den Gründen
Steigt ihr leiser Silberton.
Und Du wirst es noch verstehn,
Was ihr Zauber mag bedeuten:
Dass sie unserm Glücke läuten
Und das Ferne näher wehn.
Sieh — Dein Bangen schwindet bald
Vor den holden Siegerinnen;
Komm — die dunklen Quellen rinnen,
Komm — Die Liebe klingt im Wald . . .
FELIX LORENZ.
&
Gedanken
Die Welt ist ein werden, also interessirt
mich das treue und Zukünftige mehr als
das Gewesene. Historischer Sinn ist ja
trotzdem nothwendig; aber man soll dem
Frosch, der vom goldenen Stuhl immer
wieder in den Pfuhl hupst, nicht „historisches
Denken" nachrühmen.
warum sollten aus einem Kunst-
werk nicht auch Gedanken sprechen
dürfen! Aber das, wodurch das Kunst-
werk Gläubige aus Zweiflern und Zweif-
ler aus Gläubigen macht: Das muß
Üunst sein.
Dem beschrankten Idealismus der
Zimperlichen ist der Gedanke peinlich,
daß die schönste Musik durch ein Ge-
schabe auf Dhierdarmen entsteht. Dem
umfassenden, natur-wissenschaftlichen
Geiste ist die Verbindung der fernsten
Dinge ei» neuer Genuß.
Die gewohnheitsmäßigen Großspre-
cher sind wie die Walfische; sie haben
ein ungeheures Maul, können aber nur
kleines Gethier verschlingen.
Dno Ltnst.
Die Amme
„Was haben Sie, Nonnon? Ihre Angen
sind ja ganz geschwollen, als ob Sie geweint
hätten I"
M. Danvergne blickte bei diesen Worten
seiner Frau auf und legte die Zeitung bei
Seite. Es war richtig, das Gesicht des Mäd-
chens trug nicht seinen gewöhnlichen Ansdruck.
„Ja, es stimmt, was haben Sie?" fragte
nun auch er.
Das Mädchen, das bereits an der Thiire
stand, blieb stehen, ihre Hände zitterten, und
die Gläser auf dem Tablett, das sie in der
Hand hielt, klirrten zusammen.
Sie war einen Moment unschlüssig, dann
sagte sie:
„Der Kleine ist nicht wohl."
„Der Kleine? Was hat er?" riefen M.
und Mdme Danvergne, aufspringend.
„Ich weiß nicht, er kränkelt", murmelte
das arme Ding mit schluchzender Stimme,
„ich weiß nicht, es wird mir nicht gesagt."
„Wie so, es wird Ihnen nicht gesagt?
Heute Morgen ging es ihm doch gut, sie sagten,
er schlafe? Sie sind wohl nicht ganz bei
Sinnen? Und dann, wenn er krank ist, wes-
halb sind Sie nicht bei ihm?"
Die Amme schaute sie verwundert an.
„Das geht nicht", sagte sie, „was würde
aus Böbä in dieser Zeit?"
„Was aus Böbs würde in dieser Zeit?
Aber von wem sprechen Sie eigentlich?"
Der Amme war ein Licht aufgegangen l
man hatte sie falsch verstanden. Während sie
von ihrem kranken Kinde da unten in irgend
einem Provinznest sprach, hatte ihre Herrschaft
nur an das frische, rosige Böbö, das in seinem
seidenwattirten Wiegenkorbe lag, gedacht. Für
sie eristirte nur ein einziges Kind, ihr eigenes,
das ihrige; das der Amme zählte nicht.
„Nicht Böbö", sagte sie, „ist krank, sondern
mein Kind "
„Ahl" riefen Beide, erleichtert aufathmend.
Ter Herr des Hauses setzte sich beruhigt
wieder hin, während seine Frau noch einige
Fragen an die Amme richtete.
„Nun, ich hoffe", sagte sie zum Schluß,
„Sie machen sich keine weiteren Sorgen und
regen sich nicht unnütz auf — Sie wissen ja,
wie Vielem Kinder unterworfen sind."
M. Dauvergne nickte zustimmend von seinen:
Fauteuil aus.
„Beruhigen Sie sich also", fügte sie hinzu,
in einen: Tone, der aufmunternd sein sollte,
jedoch weit eher befehlend klang. „Kinder
haben ein zähes Leben."
Tie Amme verließ das Zimmer, ohne zu
antworten.
Als sie allein waren, wechselten M. und
Mdme Dauvergne einen Blick miteinander.
Beide beschäftigte der gleiche Gedanke: Ob
die Amme wohl, wenn sie Kummer hatte, sich
gleich blieb Mbö gegenüber?
„Eine höchst langweilige Geschichte", sagte
die Frau. „Nun hatten wir zufällig das Glück,
an eine gute Amme, eine zuverlässige Person zu
gerathen, und nun muß uns dieses Kind
mit seiner Krankheit in die Quere kommen."
„Oh, vielleicht steht es nicht so schlimn:,
wie sie behauptet. Die Leute, bei denen
das Wurm untergebracht ist, übertreiben
wahrscheinlich, um mehr Geld aus ihr
hernusznpressen."
„Möglich, aber die Geschichte hat sie
eben doch aus dem Gleichgewicht gebracht
und Bshö wird das spüren."
„Meinst Du?"
„Ich glaube es sicher."
„Nun höre mal, das darf nicht sein!
Man muß ihr den Kopf znrechtsetzeu I Nun
soll ein Kind, das so wundervoll gedeiht,
es büßen, wenn das Mädchen Kummer
hat. Das ist stark! Das Ideal einer
Amme wäre überhaupt: eine Amme ohne
Kindl Ich werd' sie mir herklingeln."
„Mach ihr nur keine Scene, sonst wird's
noch schlimmer."
580
JUGEND
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Fritz Erler (München).
Nachtklänge
Bist Du bange vor der Nacht? —
O sie darf uns nicht bezwingen.
Höre nur das süsse Klingen,
Das durch Tann und Berge lachtl
All die Klänge kenn’ ich schon,
Die der Nacht sich sanft verbünden ;
Aus den Tiefe’n, aus den Gründen
Steigt ihr leiser Silberton.
Und Du wirst es noch verstehn,
Was ihr Zauber mag bedeuten:
Dass sie unserm Glücke läuten
Und das Ferne näher wehn.
Sieh — Dein Bangen schwindet bald
Vor den holden Siegerinnen;
Komm — die dunklen Quellen rinnen,
Komm — Die Liebe klingt im Wald . . .
FELIX LORENZ.
&
Gedanken
Die Welt ist ein werden, also interessirt
mich das treue und Zukünftige mehr als
das Gewesene. Historischer Sinn ist ja
trotzdem nothwendig; aber man soll dem
Frosch, der vom goldenen Stuhl immer
wieder in den Pfuhl hupst, nicht „historisches
Denken" nachrühmen.
warum sollten aus einem Kunst-
werk nicht auch Gedanken sprechen
dürfen! Aber das, wodurch das Kunst-
werk Gläubige aus Zweiflern und Zweif-
ler aus Gläubigen macht: Das muß
Üunst sein.
Dem beschrankten Idealismus der
Zimperlichen ist der Gedanke peinlich,
daß die schönste Musik durch ein Ge-
schabe auf Dhierdarmen entsteht. Dem
umfassenden, natur-wissenschaftlichen
Geiste ist die Verbindung der fernsten
Dinge ei» neuer Genuß.
Die gewohnheitsmäßigen Großspre-
cher sind wie die Walfische; sie haben
ein ungeheures Maul, können aber nur
kleines Gethier verschlingen.
Dno Ltnst.
Die Amme
„Was haben Sie, Nonnon? Ihre Angen
sind ja ganz geschwollen, als ob Sie geweint
hätten I"
M. Danvergne blickte bei diesen Worten
seiner Frau auf und legte die Zeitung bei
Seite. Es war richtig, das Gesicht des Mäd-
chens trug nicht seinen gewöhnlichen Ansdruck.
„Ja, es stimmt, was haben Sie?" fragte
nun auch er.
Das Mädchen, das bereits an der Thiire
stand, blieb stehen, ihre Hände zitterten, und
die Gläser auf dem Tablett, das sie in der
Hand hielt, klirrten zusammen.
Sie war einen Moment unschlüssig, dann
sagte sie:
„Der Kleine ist nicht wohl."
„Der Kleine? Was hat er?" riefen M.
und Mdme Danvergne, aufspringend.
„Ich weiß nicht, er kränkelt", murmelte
das arme Ding mit schluchzender Stimme,
„ich weiß nicht, es wird mir nicht gesagt."
„Wie so, es wird Ihnen nicht gesagt?
Heute Morgen ging es ihm doch gut, sie sagten,
er schlafe? Sie sind wohl nicht ganz bei
Sinnen? Und dann, wenn er krank ist, wes-
halb sind Sie nicht bei ihm?"
Die Amme schaute sie verwundert an.
„Das geht nicht", sagte sie, „was würde
aus Böbä in dieser Zeit?"
„Was aus Böbs würde in dieser Zeit?
Aber von wem sprechen Sie eigentlich?"
Der Amme war ein Licht aufgegangen l
man hatte sie falsch verstanden. Während sie
von ihrem kranken Kinde da unten in irgend
einem Provinznest sprach, hatte ihre Herrschaft
nur an das frische, rosige Böbö, das in seinem
seidenwattirten Wiegenkorbe lag, gedacht. Für
sie eristirte nur ein einziges Kind, ihr eigenes,
das ihrige; das der Amme zählte nicht.
„Nicht Böbö", sagte sie, „ist krank, sondern
mein Kind "
„Ahl" riefen Beide, erleichtert aufathmend.
Ter Herr des Hauses setzte sich beruhigt
wieder hin, während seine Frau noch einige
Fragen an die Amme richtete.
„Nun, ich hoffe", sagte sie zum Schluß,
„Sie machen sich keine weiteren Sorgen und
regen sich nicht unnütz auf — Sie wissen ja,
wie Vielem Kinder unterworfen sind."
M. Dauvergne nickte zustimmend von seinen:
Fauteuil aus.
„Beruhigen Sie sich also", fügte sie hinzu,
in einen: Tone, der aufmunternd sein sollte,
jedoch weit eher befehlend klang. „Kinder
haben ein zähes Leben."
Tie Amme verließ das Zimmer, ohne zu
antworten.
Als sie allein waren, wechselten M. und
Mdme Dauvergne einen Blick miteinander.
Beide beschäftigte der gleiche Gedanke: Ob
die Amme wohl, wenn sie Kummer hatte, sich
gleich blieb Mbö gegenüber?
„Eine höchst langweilige Geschichte", sagte
die Frau. „Nun hatten wir zufällig das Glück,
an eine gute Amme, eine zuverlässige Person zu
gerathen, und nun muß uns dieses Kind
mit seiner Krankheit in die Quere kommen."
„Oh, vielleicht steht es nicht so schlimn:,
wie sie behauptet. Die Leute, bei denen
das Wurm untergebracht ist, übertreiben
wahrscheinlich, um mehr Geld aus ihr
hernusznpressen."
„Möglich, aber die Geschichte hat sie
eben doch aus dem Gleichgewicht gebracht
und Bshö wird das spüren."
„Meinst Du?"
„Ich glaube es sicher."
„Nun höre mal, das darf nicht sein!
Man muß ihr den Kopf znrechtsetzeu I Nun
soll ein Kind, das so wundervoll gedeiht,
es büßen, wenn das Mädchen Kummer
hat. Das ist stark! Das Ideal einer
Amme wäre überhaupt: eine Amme ohne
Kindl Ich werd' sie mir herklingeln."
„Mach ihr nur keine Scene, sonst wird's
noch schlimmer."
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