Nr. 36
JUGEND
1898
In stiller jSommerluft
Das grüne ©old der Blätter, das
die jäonne malt,
jQoch seh’ ich, wie’s von Deinem
weissen Kleide blitzt,
UCnd fühle Deine Hände noch auf
meinem Haar...
Die wilden Blumen dufteten rings
stark und süss. —
ÖCtas sprachst Du doch? Ich höre
Deine ^Stimme nicht —
"Vergebens sinn' ich ihrem fernen
Klange nach.
Ich bin allein — in meine leeren
Hände fällt
Das grüne ©old der Blätter, das
die jSonne malt.
Otto €}rich Ijartleben.
K
$« ‘Sritutn t>ou 5er Aivigkeii
Von Hjalmar Söderberg
Älls ich noch sehr jung war, glaubte ich mit
-Ä unumstößlicher Gewißheit, daß ich eine un-
sterbliche Seele habe. Ich sah sic für eine heilige
und kostbare Gabe an, und ich war glücklich
und stolz darauf.
Oft sagte ich zu mir selbst:
„Das Leben, das ich lebe, ist ein dunkler
und verwirrter Traum. Einstmals werde ich
zu einem anderen Traum erwachen, welcher der
Wirklichkeit näher steht und einen tieferen Sinn
hat als dieser. . Aus diesem Traume erwache
ich zu einem dritten und dann zu einem vierten,
und jeder neue Traum steht der Wahrheit näher
als der frühere. Dieses sich der Wahrheit
Nähern macht die Bedeutung des Lebens aus
und ist sinnreich und tief."
Und in der Freude darüber, zu wissen, daß
ich in meiner unsterblichen Seele ein Kapital
besaß, das nicht im Spiel verloren und nicht
für Schnldeit gepfändet werden konnte, führte
ich ein ausschweifendes Leben und ging ver-
schwenderisch wie ein Fürst mit dem um, was
ich besaß und ivas ich nicht besaß.
Doch eines Abends befand ich mich mit
einigen meiner Kumpane in einem großen Saal,
der von Gold und elektrischem Licht glitzerte
und aus dessen Fußbodenritzen ein Geruch von
Fäulnis; anfstieg. Zwei junge Mädchen mit
gemalten Gesichtern und ein altes Weib, die
Runzeln mit Gyps ausgcfüllt, tanzten dort auf
einer Tribüne, begleitet von den; Heulen des
Orchesters, dem Beifallsgeschrei der Männer
und dem Klange zersplitterter Gläser. Wir be-
trachteten diese Frauen, tranken viel und spra-
chen von der Unsterblichkeit der Seele.
„Es ist thöricht, zu glauben," sagte einer
meiner Kumpane, der älter war als ich, „daß
es ein Glück sein soll, eine unsterbliche Seele
zu besitzen. Betrachte dieses alte Weib, das
dort trüben tanzt, und deren Kopf und Hände
zittern, wenn sie einen Augenblick stille steht.
J. R. Witzei (München).
Man sieht sogleich, daß sie böse und häßlich
und vollkommen würdelos ist und es mit jedem
Tage mehr und mehr wird. Wie lächerlich
wäre es, sich zu denken, daß sie eine unsterb-
liche Seele habe! Aber ganz ebenso verhält es
sich mit Dir und mit mir und uns Allen.
Welcher schlechte Witz wäre es doch, uns Ewig-
keit zu schenken!"
„Was mir am Meisten von Dem, was Du
sagst, mißfällt," antwortete ich, „ist nicht, daß
Du die Unsterblichkeit der Seele leugnest, son-
dern daß Du ein Vergnügen daran findest, sie
zu leugnen. Die Menschen gleichen Kindern, die
in einem Garten spielen, der von einer hohen
Mauer umfriedet ist. Einmal um's andere thut
sich ein Pförtchen in der Mauer auf, und eines
der Kinder verschwindet durch dieses Pförtchen.
Man sagt dann den Uebrigen, daß es in einen
anderen Garten geführt wird, der größer und
schöner ist als dieser; da horchen sie einen Augen-
blick schweigend, und dann fahren sie fort,
zwischen den Bäumen zu spielen. Nimm nun
an, daß einer der Knaben wißbegieriger ist als
die Anderen rtnd auf die Mauer klettert, um
zu sehen, wohin die Kameraden ziehen. Und
als er wieder hinunterkommt, erzählt er den
Anderen, ivas er gesehen: vor der Pforte sitzt
ein Riese, der frißt die Kinder auf, die hinaus-
geführt werden. Und sie müssen Alle durch
die Pforte, nach Reihe und Ordnung! Du
bist der Junge, Martin; und ich finde es un-
beschreiblich lächerlich, daß Du das, was Du
gesehen zu haben glaubst, nicht voll Verzweif-
lung erzählst, sondern glücklich und stolz, mehr
zu wissen als die Anderen."
„Das jüngste dieser Mädchen ist sehr schön,"
antwortete Martin.
„Es ist entsetzlich, vernichtet zu werden, und
cs ist auch entsetzlich, nicht vernichtet werden zu
können," sagte ein anderer meiner Freunde.
Martin setzte dessen Gednnkengang fort:
„Ja," sagte er, „man sollte einen Mittelweg
finden können. Umgürte Deine Lenden und
ziehe aus und suche das Mittel einer Gleichung
zwischen Zeit und Ewigkeit. Wer es findet,
kann eine neue Religion stiften, denn er hat
dann die beste Lockbeute in Händen, die je ein
Menschenfischer besessen."
Das Orchester schloß mit einer Fanfare.
Das Gold des Saales glimmte matter durch
den Tabakrauch, und durch die Füßbodenritzen
drang beständig ein Geruch von Fäulniß.
Wir brachen auf und zerstreuten uns, Jeder
nach einer andern Richtung. Ich irrte lange
auf den Straßen hin und her, ich kam in Gassen,
die ich nicht wiedererkannte und die ich seither
nie wiedergeschcn, wunderlich öde und leere
Gassen, deren Häuser ihre Reihen zu öffnen
schienen, um mir Raum zu bereiten, wohin
ich auch meine Schritte lenken mochte, und die
sich dann hinter meinem Rücken wieder zu-
sammcnschlossen. Ich wußte nicht, wo ich mich
befand, bis ich mit einem Male vor meinem
eigenen Thore stand. Es war wcitgeöffnct. Ich
ging durch das Thor und die Treppen hinauf.
Bei einem der Stiegcnfcnster blieb ich stehen
und sah den Mond an; ich hatte früher nicht
darauf geachtet, daß an diesen: Abend Mond-
schein war.
Aber nie, weder früher noch später, habe
ich den Mond so gesehen. Man konnte nicht
sagen, daß er leuchtete. Er war aschgrau und
596
JUGEND
1898
In stiller jSommerluft
Das grüne ©old der Blätter, das
die jäonne malt,
jQoch seh’ ich, wie’s von Deinem
weissen Kleide blitzt,
UCnd fühle Deine Hände noch auf
meinem Haar...
Die wilden Blumen dufteten rings
stark und süss. —
ÖCtas sprachst Du doch? Ich höre
Deine ^Stimme nicht —
"Vergebens sinn' ich ihrem fernen
Klange nach.
Ich bin allein — in meine leeren
Hände fällt
Das grüne ©old der Blätter, das
die jSonne malt.
Otto €}rich Ijartleben.
K
$« ‘Sritutn t>ou 5er Aivigkeii
Von Hjalmar Söderberg
Älls ich noch sehr jung war, glaubte ich mit
-Ä unumstößlicher Gewißheit, daß ich eine un-
sterbliche Seele habe. Ich sah sic für eine heilige
und kostbare Gabe an, und ich war glücklich
und stolz darauf.
Oft sagte ich zu mir selbst:
„Das Leben, das ich lebe, ist ein dunkler
und verwirrter Traum. Einstmals werde ich
zu einem anderen Traum erwachen, welcher der
Wirklichkeit näher steht und einen tieferen Sinn
hat als dieser. . Aus diesem Traume erwache
ich zu einem dritten und dann zu einem vierten,
und jeder neue Traum steht der Wahrheit näher
als der frühere. Dieses sich der Wahrheit
Nähern macht die Bedeutung des Lebens aus
und ist sinnreich und tief."
Und in der Freude darüber, zu wissen, daß
ich in meiner unsterblichen Seele ein Kapital
besaß, das nicht im Spiel verloren und nicht
für Schnldeit gepfändet werden konnte, führte
ich ein ausschweifendes Leben und ging ver-
schwenderisch wie ein Fürst mit dem um, was
ich besaß und ivas ich nicht besaß.
Doch eines Abends befand ich mich mit
einigen meiner Kumpane in einem großen Saal,
der von Gold und elektrischem Licht glitzerte
und aus dessen Fußbodenritzen ein Geruch von
Fäulnis; anfstieg. Zwei junge Mädchen mit
gemalten Gesichtern und ein altes Weib, die
Runzeln mit Gyps ausgcfüllt, tanzten dort auf
einer Tribüne, begleitet von den; Heulen des
Orchesters, dem Beifallsgeschrei der Männer
und dem Klange zersplitterter Gläser. Wir be-
trachteten diese Frauen, tranken viel und spra-
chen von der Unsterblichkeit der Seele.
„Es ist thöricht, zu glauben," sagte einer
meiner Kumpane, der älter war als ich, „daß
es ein Glück sein soll, eine unsterbliche Seele
zu besitzen. Betrachte dieses alte Weib, das
dort trüben tanzt, und deren Kopf und Hände
zittern, wenn sie einen Augenblick stille steht.
J. R. Witzei (München).
Man sieht sogleich, daß sie böse und häßlich
und vollkommen würdelos ist und es mit jedem
Tage mehr und mehr wird. Wie lächerlich
wäre es, sich zu denken, daß sie eine unsterb-
liche Seele habe! Aber ganz ebenso verhält es
sich mit Dir und mit mir und uns Allen.
Welcher schlechte Witz wäre es doch, uns Ewig-
keit zu schenken!"
„Was mir am Meisten von Dem, was Du
sagst, mißfällt," antwortete ich, „ist nicht, daß
Du die Unsterblichkeit der Seele leugnest, son-
dern daß Du ein Vergnügen daran findest, sie
zu leugnen. Die Menschen gleichen Kindern, die
in einem Garten spielen, der von einer hohen
Mauer umfriedet ist. Einmal um's andere thut
sich ein Pförtchen in der Mauer auf, und eines
der Kinder verschwindet durch dieses Pförtchen.
Man sagt dann den Uebrigen, daß es in einen
anderen Garten geführt wird, der größer und
schöner ist als dieser; da horchen sie einen Augen-
blick schweigend, und dann fahren sie fort,
zwischen den Bäumen zu spielen. Nimm nun
an, daß einer der Knaben wißbegieriger ist als
die Anderen rtnd auf die Mauer klettert, um
zu sehen, wohin die Kameraden ziehen. Und
als er wieder hinunterkommt, erzählt er den
Anderen, ivas er gesehen: vor der Pforte sitzt
ein Riese, der frißt die Kinder auf, die hinaus-
geführt werden. Und sie müssen Alle durch
die Pforte, nach Reihe und Ordnung! Du
bist der Junge, Martin; und ich finde es un-
beschreiblich lächerlich, daß Du das, was Du
gesehen zu haben glaubst, nicht voll Verzweif-
lung erzählst, sondern glücklich und stolz, mehr
zu wissen als die Anderen."
„Das jüngste dieser Mädchen ist sehr schön,"
antwortete Martin.
„Es ist entsetzlich, vernichtet zu werden, und
cs ist auch entsetzlich, nicht vernichtet werden zu
können," sagte ein anderer meiner Freunde.
Martin setzte dessen Gednnkengang fort:
„Ja," sagte er, „man sollte einen Mittelweg
finden können. Umgürte Deine Lenden und
ziehe aus und suche das Mittel einer Gleichung
zwischen Zeit und Ewigkeit. Wer es findet,
kann eine neue Religion stiften, denn er hat
dann die beste Lockbeute in Händen, die je ein
Menschenfischer besessen."
Das Orchester schloß mit einer Fanfare.
Das Gold des Saales glimmte matter durch
den Tabakrauch, und durch die Füßbodenritzen
drang beständig ein Geruch von Fäulniß.
Wir brachen auf und zerstreuten uns, Jeder
nach einer andern Richtung. Ich irrte lange
auf den Straßen hin und her, ich kam in Gassen,
die ich nicht wiedererkannte und die ich seither
nie wiedergeschcn, wunderlich öde und leere
Gassen, deren Häuser ihre Reihen zu öffnen
schienen, um mir Raum zu bereiten, wohin
ich auch meine Schritte lenken mochte, und die
sich dann hinter meinem Rücken wieder zu-
sammcnschlossen. Ich wußte nicht, wo ich mich
befand, bis ich mit einem Male vor meinem
eigenen Thore stand. Es war wcitgeöffnct. Ich
ging durch das Thor und die Treppen hinauf.
Bei einem der Stiegcnfcnster blieb ich stehen
und sah den Mond an; ich hatte früher nicht
darauf geachtet, daß an diesen: Abend Mond-
schein war.
Aber nie, weder früher noch später, habe
ich den Mond so gesehen. Man konnte nicht
sagen, daß er leuchtete. Er war aschgrau und
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