Nr. 38
JUGEND
1898
„Es versteht sich von selbst, dass ich Ihnen
helfen will, so gut ich es vermag,“ sagte ich
ruhig. „Wann sollen wir fort?“
„Morgen!“ erwiderte sie lebhaft, „am
liebsten morgen!“
„Gut!“ sagte ich.
Und wir verabredeten, uns am nächsten.
Abend um sieben Uhr zu treffen; dann sollte
der Zug abgehen.
Ich wartete vor dem Bahnhof um die
festgesetzte Zeit, fest entschlossen, zu halten,
was ich ihr versprochen hatte. Es wurde
sieben Uhr, sie kam nicht. Der Zug ging
ab, ich stand da und wartete, ich wartete
bis acht Uhr, die Dame war noch immer
nicht zu sehen. Endlich, als ich gerade im
Begriff war, nach Hause zu gehen, kam sie
mehr gelaufen, als gegangen und direkt auf
mich zu. Und obwohl es all’ die umstehen-
den Menschen hören konnten, sagte sie, ohne
zu grüssen, laut und deutlich:
„Sie können sich wohl denken, dass ich
Sie gestern Abend belog, Sie verstehen wohl,
dass das Alles nur Scherz war.“
„Natürlich,“ erwiderte ich, indem ich
mich gleichsam ein wenig für sie schämte,
„natürlich verstehe ich das!“
„Ja, nicht wahr?“ sagte sie. „Aber Sie
hätten es ja auch für Ernst nehmen können
und Gott sei mir dann gnädig!“
„Warum soll Gott Ihnen dann gnädig
sein ?“
„Nein, kommen Sie nun!“ sagte sie und
zog mich am Arm weiter. „Und dann reden
wir kein Wort mehr davon, seien Sie so gut?“
fügte sie hinzu.
„Wie Sie wollen!“ erwiderte ich, „ich
bin bei Allem dabei.“
Wir gingen die Rosenkrantzgasse hinaut,
auf Tivoli zu, den Drammensweg«hinaus
und bogen wieder in den Park ein. Sie war
die Führende. Wir setzten uns auf unsere
alte Bank und sprachen wieder von allerhand
gleichgiltigen Dingen. Sie war, wie ge-
wöhnlich, sehr unstät in ihrem Gedanken-
gang, aber sonst recht munter. “Sie lachte
sogar ein paar Mal und summte ein Liedchen.
Um zehn Uhr stand sie auf und bat mich,
sie zu begleiten. Ich bot ihr mehr im Scherz,
als im Ernst, meinen Arm. Sie sah mich an.
„Das darf ich nicht!“ sagte sie bestimmt.
Wir gingen auf Tivoli zu und lauschten
draussen auf die Musik. Da fuhr der Mann
wieder auf dem Luftvelociped hinauf. Meine
Dame wurde zuerst sehr ängstlich und packte
mich heftig am Arm, als wenn sie selbst
in Gefahr schwebte, hinunterzustürzen. Dann
aber verfiel sie wieder in ihre alte Lustig-
keit. Wenn er nun hinunterfiele, wenn er
hinabstürzte und in einem Bierseidel unten
auf den Tischen zu knieen käme! Und sie
lachte über diesen Gedanken, sodass ihr die
Thränen an den Wangen herabliefen.
Immer in bester Stimmung, gingen wir
nach Hause. Sie summte wieder eine Me-
lodie. In einer dunkeln Gasse, vor einem
Hause, das draussen eine kleine, schwarze
Eisentreppe hatte, blieb sie plötzlich stehen
und starrte voll Entsetzen vor sich hin. Ich
blieb daher auch verwundert stehen. Sie
zeigte auf die unterste Stufe der Treppe hin
und sagte heiser:
„Gerade so gross war uer kleine Sarg.“
Nun wurde ich aber wirklich ärgerlich.
Ich zuckte die Achseln und sagte:
„So, fangen wir nun wieder von vorn
an!“ —
Sie sah mich an. Und langsam, ganz
langsam füllten sich ihre Augen mit Thränen ;
in dem Lichte der Parterre-Fenster des Hauses
sah ich, dass ihre Lippen zitterten. Sie
faltete ganz verzagt die Hände. Einen Augen-
blick später trat sie einen Schritt vor und
flüsterte:
„Liebster, Bester, haben Sie Nachsicht
mit mir!“
„Natürlich!“ erwiderte ich wieder. Und
wir gingen weiter. Draussen vor ihrer Thüre
drücktet sie wieder meine Hand, als sie gute
Nacht sagte.
Es vergingen mehrere Wochen, in denen
ich nichts von der seltsamen Dame sah.
Ich war ärgerlich auf mich selbst wegen
meiner Leichtgläubigkeit und wurde immer
mehr überzeugt, dass sie nur mit mir Scherz
getrieben hätte. Gut! dachte ich, hol’ sie
jedenfalls in Zukunft der Teufel!
Dann sitze ich aber eines Abends im
Theater und sehe mir Ibsens „Bund der
Jugend“ an. Im zweiten Akt werde ich
Fritz Hegenbart (München).
plötzlich von einer Unruhe ergriffen, irgend-
etwas ausser mir wirkt auf meine Nerven.
Ich fühle dasselbe Unbehagen, wie jenes
Mal draussen vor Tivoli während des Con-
certs des Pariser Sänger-Chors. Ich drehe mich
schnell um — ganz richtig, da sitzt meine
Dame wieder und starrt mich mit ihrem nach-
denklichen Blick an.
Ich duckte mich, wand mich förmlich auf
meinem Sitz, starrte angestrengt auf die Bühne ;
aber den ganzen Abend hatte ich das unbehag-
liche Gefühl, von hinten durch diese metall-
ischen Augen, die niemals blinzelten, durch-
bohrt zu werden. Schliesslich stand ich auf
und ging, ehe noch das Stück zu Ende war.
* * «
Ich war für einige Monate von der Stadt
fortgereist. Als ich zurückkam, hatte ich
die Dame von Tivoli ganz vergessen. Ich
hatte nicht ein einziges Mal an sie gedacht.
Sie entschwand meinem Bewusstsein gerade
so plötzlich, wie sie aufgetaucht war.
An einem der letzten nebeligen Abende
spazierte ich in der Torfgasse auf und ab. Ich
ging und beobachtete, wie die Leute im
Nebel einander überliefen. Ich war wohl
eine Viertelstunde an dieser Stelle hin- und
hergegangen, als ich bei mir selbst dachte:
„Nun gehe ich noch einmal die Strasse hin-
auf und dann nach Hause.“
Es war bereits elf Uhr.
Ich wandere also noch einmal die Strasse
hinauf. Im Lichte der nächsten Laterne sehe
ich eine Person mir entgegenkommen. Ich
trete ein wenig zur Seite . . . aber die Per-
son kommt mir nach. Ich biege schnell nach
der entgegengesetzten Seite aus, nach links
hinüber, um einen Zusammenstoss zu ver-
meiden — und sehe nun zwei Augen, die
durch den Nebel mich anstarren.
„Die Dame von Tivoli!“ flüstere ich ver-
steinert.
Sie kam gerade auf mich zu mit ihrem
starren Blick, ihr Gesicht war seltsam ver-
zogen; in einer Hand trug sie ihren Muff.
Sie sah mich einen Augenblick an.
„Es war mein Kindl“ sagte sie nach-
drücklich, kehrte dann um und verschwand
im .Nebel.
Einzig autorisirte Uebersetzung
von E. Brausewetter.
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„Es versteht sich von selbst, dass ich Ihnen
helfen will, so gut ich es vermag,“ sagte ich
ruhig. „Wann sollen wir fort?“
„Morgen!“ erwiderte sie lebhaft, „am
liebsten morgen!“
„Gut!“ sagte ich.
Und wir verabredeten, uns am nächsten.
Abend um sieben Uhr zu treffen; dann sollte
der Zug abgehen.
Ich wartete vor dem Bahnhof um die
festgesetzte Zeit, fest entschlossen, zu halten,
was ich ihr versprochen hatte. Es wurde
sieben Uhr, sie kam nicht. Der Zug ging
ab, ich stand da und wartete, ich wartete
bis acht Uhr, die Dame war noch immer
nicht zu sehen. Endlich, als ich gerade im
Begriff war, nach Hause zu gehen, kam sie
mehr gelaufen, als gegangen und direkt auf
mich zu. Und obwohl es all’ die umstehen-
den Menschen hören konnten, sagte sie, ohne
zu grüssen, laut und deutlich:
„Sie können sich wohl denken, dass ich
Sie gestern Abend belog, Sie verstehen wohl,
dass das Alles nur Scherz war.“
„Natürlich,“ erwiderte ich, indem ich
mich gleichsam ein wenig für sie schämte,
„natürlich verstehe ich das!“
„Ja, nicht wahr?“ sagte sie. „Aber Sie
hätten es ja auch für Ernst nehmen können
und Gott sei mir dann gnädig!“
„Warum soll Gott Ihnen dann gnädig
sein ?“
„Nein, kommen Sie nun!“ sagte sie und
zog mich am Arm weiter. „Und dann reden
wir kein Wort mehr davon, seien Sie so gut?“
fügte sie hinzu.
„Wie Sie wollen!“ erwiderte ich, „ich
bin bei Allem dabei.“
Wir gingen die Rosenkrantzgasse hinaut,
auf Tivoli zu, den Drammensweg«hinaus
und bogen wieder in den Park ein. Sie war
die Führende. Wir setzten uns auf unsere
alte Bank und sprachen wieder von allerhand
gleichgiltigen Dingen. Sie war, wie ge-
wöhnlich, sehr unstät in ihrem Gedanken-
gang, aber sonst recht munter. “Sie lachte
sogar ein paar Mal und summte ein Liedchen.
Um zehn Uhr stand sie auf und bat mich,
sie zu begleiten. Ich bot ihr mehr im Scherz,
als im Ernst, meinen Arm. Sie sah mich an.
„Das darf ich nicht!“ sagte sie bestimmt.
Wir gingen auf Tivoli zu und lauschten
draussen auf die Musik. Da fuhr der Mann
wieder auf dem Luftvelociped hinauf. Meine
Dame wurde zuerst sehr ängstlich und packte
mich heftig am Arm, als wenn sie selbst
in Gefahr schwebte, hinunterzustürzen. Dann
aber verfiel sie wieder in ihre alte Lustig-
keit. Wenn er nun hinunterfiele, wenn er
hinabstürzte und in einem Bierseidel unten
auf den Tischen zu knieen käme! Und sie
lachte über diesen Gedanken, sodass ihr die
Thränen an den Wangen herabliefen.
Immer in bester Stimmung, gingen wir
nach Hause. Sie summte wieder eine Me-
lodie. In einer dunkeln Gasse, vor einem
Hause, das draussen eine kleine, schwarze
Eisentreppe hatte, blieb sie plötzlich stehen
und starrte voll Entsetzen vor sich hin. Ich
blieb daher auch verwundert stehen. Sie
zeigte auf die unterste Stufe der Treppe hin
und sagte heiser:
„Gerade so gross war uer kleine Sarg.“
Nun wurde ich aber wirklich ärgerlich.
Ich zuckte die Achseln und sagte:
„So, fangen wir nun wieder von vorn
an!“ —
Sie sah mich an. Und langsam, ganz
langsam füllten sich ihre Augen mit Thränen ;
in dem Lichte der Parterre-Fenster des Hauses
sah ich, dass ihre Lippen zitterten. Sie
faltete ganz verzagt die Hände. Einen Augen-
blick später trat sie einen Schritt vor und
flüsterte:
„Liebster, Bester, haben Sie Nachsicht
mit mir!“
„Natürlich!“ erwiderte ich wieder. Und
wir gingen weiter. Draussen vor ihrer Thüre
drücktet sie wieder meine Hand, als sie gute
Nacht sagte.
Es vergingen mehrere Wochen, in denen
ich nichts von der seltsamen Dame sah.
Ich war ärgerlich auf mich selbst wegen
meiner Leichtgläubigkeit und wurde immer
mehr überzeugt, dass sie nur mit mir Scherz
getrieben hätte. Gut! dachte ich, hol’ sie
jedenfalls in Zukunft der Teufel!
Dann sitze ich aber eines Abends im
Theater und sehe mir Ibsens „Bund der
Jugend“ an. Im zweiten Akt werde ich
Fritz Hegenbart (München).
plötzlich von einer Unruhe ergriffen, irgend-
etwas ausser mir wirkt auf meine Nerven.
Ich fühle dasselbe Unbehagen, wie jenes
Mal draussen vor Tivoli während des Con-
certs des Pariser Sänger-Chors. Ich drehe mich
schnell um — ganz richtig, da sitzt meine
Dame wieder und starrt mich mit ihrem nach-
denklichen Blick an.
Ich duckte mich, wand mich förmlich auf
meinem Sitz, starrte angestrengt auf die Bühne ;
aber den ganzen Abend hatte ich das unbehag-
liche Gefühl, von hinten durch diese metall-
ischen Augen, die niemals blinzelten, durch-
bohrt zu werden. Schliesslich stand ich auf
und ging, ehe noch das Stück zu Ende war.
* * «
Ich war für einige Monate von der Stadt
fortgereist. Als ich zurückkam, hatte ich
die Dame von Tivoli ganz vergessen. Ich
hatte nicht ein einziges Mal an sie gedacht.
Sie entschwand meinem Bewusstsein gerade
so plötzlich, wie sie aufgetaucht war.
An einem der letzten nebeligen Abende
spazierte ich in der Torfgasse auf und ab. Ich
ging und beobachtete, wie die Leute im
Nebel einander überliefen. Ich war wohl
eine Viertelstunde an dieser Stelle hin- und
hergegangen, als ich bei mir selbst dachte:
„Nun gehe ich noch einmal die Strasse hin-
auf und dann nach Hause.“
Es war bereits elf Uhr.
Ich wandere also noch einmal die Strasse
hinauf. Im Lichte der nächsten Laterne sehe
ich eine Person mir entgegenkommen. Ich
trete ein wenig zur Seite . . . aber die Per-
son kommt mir nach. Ich biege schnell nach
der entgegengesetzten Seite aus, nach links
hinüber, um einen Zusammenstoss zu ver-
meiden — und sehe nun zwei Augen, die
durch den Nebel mich anstarren.
„Die Dame von Tivoli!“ flüstere ich ver-
steinert.
Sie kam gerade auf mich zu mit ihrem
starren Blick, ihr Gesicht war seltsam ver-
zogen; in einer Hand trug sie ihren Muff.
Sie sah mich einen Augenblick an.
„Es war mein Kindl“ sagte sie nach-
drücklich, kehrte dann um und verschwand
im .Nebel.
Einzig autorisirte Uebersetzung
von E. Brausewetter.
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