Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 2 (Nr. 27-52)

DOI Heft:
Nr. 39 (24. September 1898)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3338#0217
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. 39

JUGEND

1898

’ *;*k 1:

" MW Mt* K”1

■Vs** .

*w

8,K

,iSw»*«

Mittagsgespenst

Von Max Grad

l^cin Baum, kein Strauch spendet
Schatten. Wie ein langer Arni, nackt und
kahl, streckt sich die Strasse zwischen
Aeckern und gemähten Wiesen aus. W eiss
und blendend, flimmert sie im Sonnenglast.
Die beiden Seiten des Wegrandes mit den
grossen Lattich pflanzen sind in breiten
Streifen dick bestaubt. Die ganze Luft,
die in heissen Wellen zu zittern scheint,
riecht nach sonnendurchwärmter Wagen-
schmiere, Pferdedünger und Staub. Ab
und zu ist ein einzelnes Haus, eine ärm-
liche Hütte ins Feld gebettet. Kaum eine
schmale, bläuliche, gerade aufsteigende
Rauchwolke darüber. Ein grosser Ketten-
hund reckt und dehnt sich neben dem
elenden Krautgarten, der zu einem halb
verfallenen Haus gehört. Er blinzelt träge
ins grelle Licht, sein zottigesFelljstfeucht
und klebrig. — Langsam kommt ein kleiner
Planwagen, von einem abgemagerten Klep-
per gezogen, heran. Langsam und schwer-
fällig I Eine lange Peitzche hängt aus der
geflickten Leinwand heraus und das viel-
fach geknotete Ende wirbelt Staub Wölkchen
auf. schritt für Schritt, hinkend, mühsam,
trottet das Thier weiter. Hinter dem Wagen
erhebt,sich’s wie ein Nebel, der, sich lang-
sam senkend, allmählich sich verliert. Dann
wieder Ruhe, ununterbrochene, bleierne
Stille! Kein Mensch ist sichtbar, kein
Laut ist zu hören. Grabesstille im grellen
Mittagsschein 1

Mit einer scharfen Wendung dreht sich
die Strasse nun links den Berg hinan.
Kalkiges Gestein baut sich, immer mächti-
ger zu beiden Seiten auf, nur ganz unten von
spärlichem, ausgetrocknetem Moos bedeckt.

Zwischen den Blöcken einige magere
Wiesen, zumeist mit Disteln bewachsen.
Eine von diesen ragt besonders hoch über
alle andern empor mit ihren lichtgrünen,
vollausgebildeten, gezackten Blättern und
ihren blaurotlien Strahlenblüthen.

Ab und zu niedriges Gesträuch, dürftiger
Föhrenbestand, dann zu beiden Seiten
entfernt liegender Wald. Schweigend,
schwarz und drohend, ist er ausgebreitet.
Kein Käfersurren, kein Vogellaut, Alles,
Alles stumm. Mittag! Glühend, sengend,
steht die Sonne am wolkenlosen Firmament.
Ein hartes, unbarmherziges Licht ist über
das kalkige Gestein gebreitet, das immer
wieder nackt zu Tage tritt. Und kalkig,
hart, grellweiss zieht sich die Strasse höher
und höher.

Plötzlich tönen regelmässige, langsame
Schritte durch die einsame Stille. Ein
alter Mann, müde und stumpf, schleppt
sich den Berg hinan. Halb erloschen
starren die Augen vor sich hin, um den
eingefallenen Mund irrt ein blödes Lächeln.
Die abgemagerte Gestalt des Greises ist
nach der einen Seite gebogen, wo er den
schweren Leierkasten zu tragen gewohnt
ist, jahraus, jahrein, Tag für Tag. Mit
dem knotigen Stock sucht der alte Mann
Halt zwischen dem Geröll der schlechten
Strasse. Die nusgetrocknete, dunkelgebeizte
Haut, wie braunes Leder über die Knochen
gezogen, bringt keinen Sch weisstropfen
mehr hervor. Eine Stunde und mehr geht
es so fort. Dann ist die Höhe erreicht.

Ein mächtiges, weiss getünchtes, kasten-
artiges Gebäude liegt breit und aufdring-
lich vor dem Wanderer da. Wie todte Augen
starren die Fenster herab, alle Laden
sind fest geschlossen. Die grosse Terrasse
ist verödet, auf die eisernen Tische und
Stühle brennt die Sonne mit verdoppelter

Gluth. Kein Leben ringsum, kein mensch-
liches Wesen, kein Thier. Ein durchdringen-
der Speisegeruch strömt vom Hause her,
und das fettige Wasser der schmalen Gosse
mit Gemüse- und Spülresten fliesst träge
und faulig riechend in den Strassengraben.

Der alte Orgelmann hebt ein wenig
den Kopf und athmet gierig den Küchen-
dunst ein. Dann stellt er sich vor das
leblos daliegende Gebäude, das eine mäch-
tige Ilitze zurückwirft. Gewohnheitsmässig
tastet er nach dem Wachstuch der Orgel
und schiebt den schmierigen Riemen vor.
Mechanisch dreht die runzlige Hand die
Kurbel, widerstrebend und kreischend ent-
ringen sich die ersten Töne den abge-
brauchten Walzen. Unermüdlich dreht
er weiter und weiter. Aber Niemand hört
ihn, Keiner kommt. Sie essen!

Von der Rückseite des Gasthofes tönt
leise und gedämpft Stimmengewirr und
Klappern von Tellern. Sonst kein anderer
Laut als das Kreischen und Quieken der
Orgel. Eine unendliche Oede und Trost-
losigkeit liegt über Allem. Immer bleierner
spannt sich der wolkenlose Himmel aus,
immer erbarmungsloser entsendet er seine
sengende Gluth nieder. Glitzernd, flirrend,
zittert ein Lichtmeer über dem grossen,
todten, weissen Haus. Weiss scheint
Alletz ringsumher.

Hinter dem Waschhaus, unter einem
Pflaumenbaum, hatte die Stallmagd ihr
Kind in einen kleinen Karren gelegt.
Gestern hat sie es von den Leuten weg-
holen müssen, die den kleinen Krüppel
nicht länger behalten wollten. Fast hätte sie
ihn vergessen, wäre das bittere Kostgeld
nicht gewesen. Fast vergessen hat sie auch
den Tag, an dem sie das Kind auf dem Feld,
im Frühnebel geboren. In die Schürze ge-
wickelt hatte sie es nach Hause getragen,

644
Register
Max Grad: Mittagsgespenst
Felix Hollenberg: Zeichnung ohne Titel
 
Annotationen