1898
JUGEND
Nr. 41
»
Die Kerze brannte langsam nieder; sie
war auf einen Teller gestellt, damit sie aus-
genützt werden konnte bis zum Letzten.-
Mit schleichenden, tastenden Schritten
stieg die Schande die Treppen herauf. ---
Nun war die Kerze ganz zu Ende gebrannt.
Wie ein kleines, glühendes Würmchen krümmte
sich das verglimmende Ende des Dochtes
auf dem Teller.
Und bei seinem letzten Schimmer nestelte
der geschniegelte Herr ein paar Silbermünzen
aus seiner Börse, legte sie auf die Kante
des Ofens, behutsam, dass sie nicht klangen.
Er that sich auf sein Zartgefühl was zu Gute.
Das junge Weib liess ihn gehen, ohne
Grass, ohne Dank.
Der letzte Funke der Kerze erlosch.-
Sie hatte nur Liebe gesehen, so lange
sie brannte. Liebe und Hunger.
Fritz v. Ostini.
Line ganz kleine, Harmlose LMW
„Ach!" rief die Drossel, die zweitbeste
Sängerin unserer Fluren, der Meise zu,
„ach, wie wunderbar ist dieser Gesang des
Buchstnks! Das, sehen Sic, ist ein Genie!
welch kraftvoll-gedrungene, herbe Eigenart
in diesem einfachen, lapidaren ,pink pink!'
Hier beuge ich mich gern und huldige mit
Begeisterung dem überlegenen Genie."
„Jaja," seufzte die kluge Meise, „die
Nachtigall ist weit gefährlicher."
(Dtto Ernst.
Gedanken
Das thun müssen, was man eigentlich
will, ist doch die schrecklichste Form der
Sklaverei: es ist die aller Künstler, die mit
ihrer Kunst nach Brot geh’n, mit dem Feuer
ihrer Seele den Leib erhalten müssen, also
recht eigentlich mit dem edlen Schinken nach
der gemeinen Wurst werfen! — Herrgott,
was für grossartige Schuster hat es schon ge-
geben und könnte es immer noch geben!
Und die Schusterei ist nur eine der tausend
Flächen am funkelnden Krystall des guten,
nahrhaften und freimachenden Lebens!
Auf Schritt und Tritt sehen wir den Geist
der Natur entgegenwirken, ih alle Thorheiten,
Laster und Verbrechen verfallen. Ist aber
dieser Geist nicht selber auch Natur? Wie
dürfen wir also seine Thätigkeit Unnatur nennen ?
Aber freilich, es gibt, wenn auch nicht zwei
Naturen, so doch zwei Pole der Natur.
Selbst die Rübe hat hinter und über ihrer
Rübigkeit einen höheren Duft: nach Moschus!
Freilich nur für die feinere Zunge. Aber
schmecken die feineren Zungen an Rüben?
Vielleicht! Wenn sie des Caviars überdrüssig
sind 1 Zeno.
68;
JUGEND
Nr. 41
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Die Kerze brannte langsam nieder; sie
war auf einen Teller gestellt, damit sie aus-
genützt werden konnte bis zum Letzten.-
Mit schleichenden, tastenden Schritten
stieg die Schande die Treppen herauf. ---
Nun war die Kerze ganz zu Ende gebrannt.
Wie ein kleines, glühendes Würmchen krümmte
sich das verglimmende Ende des Dochtes
auf dem Teller.
Und bei seinem letzten Schimmer nestelte
der geschniegelte Herr ein paar Silbermünzen
aus seiner Börse, legte sie auf die Kante
des Ofens, behutsam, dass sie nicht klangen.
Er that sich auf sein Zartgefühl was zu Gute.
Das junge Weib liess ihn gehen, ohne
Grass, ohne Dank.
Der letzte Funke der Kerze erlosch.-
Sie hatte nur Liebe gesehen, so lange
sie brannte. Liebe und Hunger.
Fritz v. Ostini.
Line ganz kleine, Harmlose LMW
„Ach!" rief die Drossel, die zweitbeste
Sängerin unserer Fluren, der Meise zu,
„ach, wie wunderbar ist dieser Gesang des
Buchstnks! Das, sehen Sic, ist ein Genie!
welch kraftvoll-gedrungene, herbe Eigenart
in diesem einfachen, lapidaren ,pink pink!'
Hier beuge ich mich gern und huldige mit
Begeisterung dem überlegenen Genie."
„Jaja," seufzte die kluge Meise, „die
Nachtigall ist weit gefährlicher."
(Dtto Ernst.
Gedanken
Das thun müssen, was man eigentlich
will, ist doch die schrecklichste Form der
Sklaverei: es ist die aller Künstler, die mit
ihrer Kunst nach Brot geh’n, mit dem Feuer
ihrer Seele den Leib erhalten müssen, also
recht eigentlich mit dem edlen Schinken nach
der gemeinen Wurst werfen! — Herrgott,
was für grossartige Schuster hat es schon ge-
geben und könnte es immer noch geben!
Und die Schusterei ist nur eine der tausend
Flächen am funkelnden Krystall des guten,
nahrhaften und freimachenden Lebens!
Auf Schritt und Tritt sehen wir den Geist
der Natur entgegenwirken, ih alle Thorheiten,
Laster und Verbrechen verfallen. Ist aber
dieser Geist nicht selber auch Natur? Wie
dürfen wir also seine Thätigkeit Unnatur nennen ?
Aber freilich, es gibt, wenn auch nicht zwei
Naturen, so doch zwei Pole der Natur.
Selbst die Rübe hat hinter und über ihrer
Rübigkeit einen höheren Duft: nach Moschus!
Freilich nur für die feinere Zunge. Aber
schmecken die feineren Zungen an Rüben?
Vielleicht! Wenn sie des Caviars überdrüssig
sind 1 Zeno.
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