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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 46 (12. November 1898)
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1898

JUGEND

Nr. 46

Vertreibung aus dem Paradies

E. Neumann (München).

Die Pacht der gekreuzten Ichliissel

Von Jerome K. Jerome.

aie Geschichte handelt von einem Bischose —
derlei Geschichten giebt es ja viele. Dieser
Bischof hatte an einem Sonntagabend eine Pre-
digt in der St. Paulskirche zu halten. Es war
eine ganz besonders wichtige Veranlassung und
jedes fromme Blatt im Königreiche hatte einen
eigenen Reporter entsandt, um über den Vor-
gang einen Bericht zu erhalten. Nun >var einer
von den drei in dieser Weise beauftragten Re-
portern eine so ehrwürdige Erscheinung, das;
Niemand daran gedacht Hütte, in ihm einen
Journalisten zu sehen. Gewöhnlich hielten die
Leute ihn für einen Grafschastsrath, oder auch
für einen Archidiakonus. Aber in Wirklichkeit
war er ein sündiger Mensch, der eine Passion
für Genever hatte. Er wohnte in Bow und an
dem bewußten Sonntage verließ er seine Wohn-
ung um fünf Uhr Nachmittags, um sich nach
dem Schauplatze seiner Thätigkeit zu begeben.
Der Weg von Bow zur City ist an einem nassen
und etwas kalten Sonntage sehr ermüdend. Wer
wird ihn tadeln, wenn er auf seinem Wege cin-
vder zweimal Halt machte, um sich mit einem
oder zwei Gläschen seines Lieblingsgetränks zu
stärken? Als er die St. Paulskirche erreichte,
sah er, daß er noch zivanzig Minuten übrig hatte.
Gerade Zeit genug für ein Schlußgläschen. Halb-
wegs unten in einem engen Hofe, der auf den
Friedhof führte, fand er eine abseits gelegene
kleine Schenke, und als er an den Schenktisch
trat, flüsterte er eindringlich: „Zwei Glas Ge-
never, aber heiß, wenn ich bitten darf, meine
Liebe." Seine Stimme hatte die selbstzufriedene
Dcmuth eines erfolgreichen Kirchenmannes, sein
Benehmen verricth Biederkeit und den Wunsch,
jede Auffälligkeit zu vermeiden. Durch
sein Benehmen und seine Erscheinung be-
einflußt, lenkte das Schenkmädchen die
Aufmerksamkeit des Wirths auf ihn.

Dieser beobachtete heimlich sein Gesicht,
so weit er zwischen dem zugeknöpften Rocke
und dem herabgezogenen Hute etwas da-
von sehen konnte, und wunderte sich, wie
ei» so sanft und unschuldig aussehender
Herr dazu kommen konnte, Genever zu
kennen. Aber die Pflicht eines Wirths ist
es nicht, sich zu wundern, was es auch
geben mag, sondern zu bedienen. Der Ge-

never lvurde dem Manne gegeben und der Mann
trank ihn. Er schmeckte ihm, denn es war ein guter
Stoff. Als Kenner mußte er es ja wissen. Ja,
so gut schien er ihm zu sein, daß er eine günstige
Gelegenheit zu versäumen glaubte, wenn er sich
nicht noch zwei Gläser genehmigte. Dann bekam
er eine zweite Auflage und vielleicht noch eine
dritte. Darauf kehrte er zur Kathedrale zurück
und setzte sich hin, das Notizbuch auf den Knien,
und wartete. Im Verlaufe des Gottesdienstes
kam jener Geist der Gleichgiltigkeit gegen alles
Irdische über ihn, welchen die Religion und daS
Trinken allein verleihen. Er hörte den Text des
guten Bischofs und schrieb ihn auf. Dann hörte
er die Worte des Bischofs: „Sechstens und letztens"
und zeichnete auch das auf, sah auf sein Notiz-
buch und wunderte sich in seiner sanften Art,
was aus dem „erstens bis fünftens inklusive"
geworden war. So saß er in Staunen versunken,
bis die Leute um ihn herum anfingen, sich zu
erheben und fortzugehen, worauf es ihm ganz
plötzlich einficl, daß er geschlafen hatte und ihm
dabei gerade der Haupttheil der Predigt ent-
gangen war.

Was in aller Welt sollte er machen? Er ver-
trat eins der führenden religiösen Blätter. Ein
vollständiger Bericht über die Predigt wurde noch
für denselben Abend verlangt. Indem er das
Gewand eines vorübergehenden Kirchendieners
ergriff, fragte er ihn ängstlich, ob der Bischof die
Kathedrale schon verlassen habe. Der Kirchen-
diener antwortete, daß er noch nicht gegangen
aber eben im Begriffe wäre, sich zu entfernen.
„Ich muß ihn sehen, bevor er geht," rief der
Reporter erregt aus. „Das können Sie nicht,"
versetzte der Kirchendiener. Der Journalist wurde
rasend. „Sagen Sie ihm," rief er, „ein reuiger
Sünder wünscht mit ihm über die Predigt zu
reden, die er soeben gehalten hat. Morgen

schon könnte es zu spät sein." Der Kirchendiener
war gerührt, der Bischof deßgleichen. Er sagte,
er wolle den armen Kerl sehen. Kaum war die
Thür geschlossen, als der Mann dem Bischof
unter Thränen die Wahrheit erzählte, mit Aus-
nahme des Genevers. Er sagte, daß er ein armer
Mann wäre und nicht bei gutem Befinden. Daß
er die halbe Nacht zuvor aufgewesen und den
ganzen Weg von Bow an diesem Abend zu Fuß
zurückgelegt hätte. Er schilderte das Unglück, das
über ihn und seine Familie Hereinbrechen würde,
wenn es ihm nicht gelänge, einen Bericht über die
Predigt zu erhalten. Der Bischof fühlte Mitleid
mit dein Manne. Auch ivar es ihm darum zu thun,
daß über seine Predigt berichtet wurde. „Nun, ich
glaube, es wird für Sie eine Warnung sein,"
sagte er mit nachsichtigem Lächeln. „Glücklicher
Weise habe ich meine Notizen mitgebracht, und
wenn Sie mir versprechen wollen, behutsam mit
ihnen umzugehen und sie mir morgen Früh zu-
rückzubringen, so will ich sie Ihnen leihen." Mit
diesen Worten öffnete der Bischof ein zierliches,
kleines, schwarzes Ledertäschchen, in dem eine
kleine, saubere Rolle Manuskript lag und über-
gab es dem Reporter. „Nehmen Sic gleich die
Tasche mit, um das Manuskript aufzubewahren,"
fügte er hinzu. „Aber daß ich es bestimmt bis
morgen zurückhabe." Als der Reporter den In-
halt des Täschchens unter einer Lampe in der
Vorhalle der Kathedrale prüfte, wollte er kaum
an sein Glück glauben. Die sorgfältigen Notizen
des Bischofs waren so vollständig und klar, daß
sie einem Berichte gleich kamen und für jeden
praktischen Zweck geeignet waren. Seine Arbeit
war also schon gemacht. Er war so erfreut über
sich selbst, daß er beschloß, sich mit noch zwei Glas
Genever zu stärken, und mit dieser Absicht machte
er sich auf den Weg zur kleinen, oben erwähnten
Schenke. „Es ist in der That ein ganz vorzüglicher
Stoff, den Sie hier führen," sagte er zum
Schenkmädchen, als er fertig wbr, „ich
glaube, ich könnte noch ein Glas trinken."

Um elf Uhr bestand der Wirth freund-
lich aber bestimmt darauf, daß er gehe,
und er ging, bis zum Ende des Hofes vom
Kellner unterstützt. Nachdem er weiter
war, entdeckte der Wirth auf dem Platze,
wo er gesessen, die zierliche, kleine Tasche.
Als er sie genau prüfte, fand er auf ihr
eine Platte, die Name und Titel des Be-
sitzers enthielt. Als er die Tasche öffnete,
fah er das Manuskript, aus dem in einer

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Register
Walter Caspari: Frau Musika
Ernst Neumann-Neander: Vertreibung aus dem Paradies
Jerome Klapka Jerome: Die Pacht der gekreuzten Schlüssel
 
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