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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 46 (12. November 1898)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3338#0350

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Nr. 46

JUGEND

1898

f uf einer kleinen Nordseeinsel sah ein junges
Mädchending und sah hinaus über die end-
lose Meerweite. Vor ihr war Wasser und um
sie Dünensand, da und dort mit hartblättrigem
dlaugrünen Strandgras bedeckt. Durch die Halme
strich der Wind, zwischen ihnen summend; ein
bleifarbiges Wolkendach, wölbte der Himmel sich
drüber. Unter ihrem Sitz liefen, eintönig rau-
schend, die rückkehrenden Fluthwellen über den
grauen Ebbeschlick heran.

Nach rückwärts, zerstreut auf etwas magerem
Ackerboden, sah ein Dutzend niedriger Stroh-
dächer herüber, ein ärmliches Dorf, wie von
Windeslaune durcheinander geworfen, oder gro-
ßen, einst vom Eis abgelagerten Findlingsblöcken
ähnelnd. Dann wieder Wasser, doch dort eine
reglose, trübe Fläche, am Horizont von einer
schmalen Dunstschicht, dem Festland, begrenzt.

Das war die Welt, in der das Mädchen lebte,
immer gelebt hatte, und so sah sie täglich um
die Dämmerung aus der Düne, so lang sie dachte.
Die kurze Sommerzeit hindurch, doch auch im
Herbststurm, der gelbweiße Schaumflocken von
der Brandung her über ihr dunkles Haar warf.
Das hatte sie allein auf der Insel, alle andern
Mädchen waren hellblond und blauäugig, und
auch sie nur trug schwarzgestirnte Augen im
schmalen Gesicht. Noch sonst unterschied sie sich
von jenen auf den ersten Blick durch weniger ro-
busten, feiner gearteten Gliederbau: gleich allen
ging sie barfuß, doch ihre Füße hinterließen
kaum halb so breite, kleine Abdrücke im Sand.

Trotzdem sprach sie ebenso friesisch tvie die
übrigen und führte auch einen altfriesischen Na-
men „Reinde", nur besaß sie diesen Rufnamen
allein, keinen des Vaters danach. Sie hatte kei-
nen Vater gehabt und eigentlich auch keine Mutter,
nur eine sterbende, die mit ihr von einem ge-
strandeten Schiff an's Ufer gebracht worden, um
nach ein paar Tagen im Dünensand eingescharrt
zu werden. Kinderlose Fischersleute, Jan und
Jide Hadless nahmen das zwei- bis dreijährige
Waisengeschöpf zu sich und nannten es Reinde.
Das Mädchen ward in kein Buch eingetragen,
auf der Insel befand sich weder ein Pastor noch
eine Behörde: aber nach seinem Alter war es
vermuthÜch. getauft, und wenn nicht, so knm's
darauf auch nicht so besonders an. D>e Jnsel-
friesen beunruhigten sich darüber nicht zu sehr.

Im Ganze» hatte es die Kleine so wie die
andern Dvrfmädchen, eher noch etwas besser,
denn ihre Pflegeeltern hielten sie wie ein eigenes
Kind, waren überaus gutherzig und auf der
winzigen Sandscholle wohl noch die vermöglich-
sten. Ihr Haus zeigte sich am besten im Stand,
sah am freundlichsten aus; es besaß sogar an
der,Ostseite einen gegen den stetig herrschenden
Westwind gedeckten kleinen Garten, in dem, hart
unter der Mauer, in Sommertagen einige fremd-
artige Sträucher und Blumen überraschten. Sie
stammten von einem alten Herrn her, der vor
Jahren auf der Insel nach weltferner Einsamkeit
gesucht und sich eine Stube im Hause Jom Had-
lefs gemiethet hatte, den Schluß seines Lebens-

abends drin zu erwarten. Von ihm rührte die
Gartenanlage her; er war ein Pflanzenfreund,
und das gleichmäßige, auch im Winter beinah
ausnahmlos frostfreie Seeklima ermöglichte ihm,
im Wandschutz sogar einzelne Gewächse zum Ge-
deihen und Ausdauern zu bringen, die selbst der
Süden Deutschlands nicht im Freien überwintern
ließ. Dieser mehrjährige stille Mitbewohner des
Hauses hatte hauptsächlich den bescheidenen Wohl-
stand der Fischersleute begründet, ihnen in seinem
Testament eine kleine Baarschaft vermacht. Auch
Reinde war für ihn gleichsam eine fremde Pflanze
auf dem Eiland, an der er Antheil nahm, sich
gern mit ihr beschäftigte. Doch er vermochte aus
ihr nichts über ihre Herkunft zu ermitteln, sie
trug kein Gedächtnis; an irgendetwas vorher um
sie Gewesenes in sich, nicht einmal mehr an ihre
Mutter. Nur die Insel kannte sie, die See, den
Sand und den Wind, die weißen kreischenden
Wasjervögel und ihre guten Eltern, als deren
Tochter sie sich fühlte. Von einer Welt sonst
tvußte sie nichts, hatte kein Verlangen nach etwas
Andrem. So blieb das Bemühen des freund-
lichen alten Herrn erfolglos; jetzt lag er gleich-
falls seit manchem Jahr schon in den Dünen-
sand eingebettet. Ihm mochte vom Leben übel
mitgespielt worden sein, daß auch er kein anderes
Verlangen mehr gehabt.

So gedieh Reinde heran, doch unter den
Nachbartöchtern zurückbleibend; als sie ungefähr
mittlere Größe erreicht, wuchs sie nicht mehr.
Sie war anstellig und fleißig bei allem häus-
lichen Geschäft, danach auch spiellustig mit den
andern Dorskindern, zuweilen ungestümer aus-
gelassen, als irgendeine. Doch daneben zvg's
sie manchmal plötzlich ans dem lauten kluitrieb
fort, daß sie unvermerkt verschwunden war iind
Suchende sie allein auf einem Dünenhnng fanden.
Dort saß sie, als sinne sie über etwas nach, aber
wenn Jemand fragte, was sie denke, antwortete
sie: „Nichts," und sie hatte auch nichts gedacht,
nur dem Wellenrauschen zuqehört. Das gab
öfter Anlaß zu Lachen und Spaß: „Reinde ist
nicht ganz richtig im Kopf, sie spricht mit den
Möven."

Nicht wirklich so gemeint war's, nur lustiger
Scherz, alle hatten sie gern und keinem fiel's
ein, sie kränken zu wollen. Aber wie die Jahre
weitergingen, kam's den übrigen mehr und mehr,
daß etivas Fremdes an ihr sei und sie nicht recht
zu ihnen gehöre. An die andre Haar- und Augen-
farbe wareir alle von je gewöhnt, die that's nicht,
doch innerlich empfanden sie eine von der ihrigen
verschiedene Art. An warmen Sommerabenden
warfen die Mädchen unter sich im Schutz einer
Düne ihre Kleider auf den Strand uiid erlustig-
ten sich in den Fluthwellen, doch Reinde sah nur
z>i, ohne sich mit daran zu betheiligen. Es half
nichts, daß sie dazu gedrang«, verspottet wurde,
sie habe wohl die Wasserscheu; ablehnend schüt-
telte sie stets den Kops. Viel alter Glaube war
noch auf der Insel im Schwange, und schließlich
kam man überein, Reinde sei kein richtiges
Menschengeschöpf und könne sich nicht bloß sehen

lassen, denn sie habe statt der Beine einen Fisch-
schuppenschwanz unter den Röcken. Dem wider-
sprachen zivar sichtbar ihre wohlgebildeten kleinen
Füße, und es war wohl auch ingleichen nicht
ivörtlich so zu nehmen, suchte weniger nach einem
thatsächlichen Grund, als daß es das ihnen
Fremde im Wesen Reindes ausdrückte.

Dann kam die Alterszeit, welche die jungen
Burschen und Mädchen des Dorfs nach der
Tagesarbeit sich zu gemeinsamem Betreiben und
gelegentlichem Umhertanzen auf der kurzen Gras-
narbe des Bodens zusammengesellen ließ, wobei
dieser sich mehr zu jener hielt, allmählich Paare
entstanden, die gern seitab gingen, zu zweit mit-
einander zu sprechen und zu lachen. Der Antrieb
der Natur und der Gang der Dinge war's, >vie
überall in der Welt, so auch hier auf der kleinen
Scholle, der erste Beginn zur Äeitererhaltung des
Lebens ihrer Bevölkerung; eine Verbindung mit
dem Festland bestand kaum, von dort kam we-
nigstens niemals Jemand als Freier herüber,
sich von der Insel eine Frau zu holen. In der
Geschlechterfolge hatte es sich allemal so wieder-
holt, und ein hübsches Mädchen trug eine Mit-
gift an sich, die sicher frühzeitig auf einen Be-
werber rechnen konnte. Zu den hübschesten aber
zählte unziveifelhaft Reinde, oder vielmehr war
sie die einzige, die darin einen noch höheren
Rang einnahm und schön genannt werten mußte.
Zumeist entwickelten die andern sich zu etivas
plumpen Formen, derben Gestalten mit ziemlich
groben Gesichtern; bei ihr gelangte alles zu ricb-
iigem Ebenmaß, gesunde Kraft verband sich mit
Zierlichkeit der Glieder, die seinen, blässeren Züge
erregten zwischen jenen fast einen vornehmen
Eindruck. Doch die Augen der jungen Burschen
sahen dies nicht, keiner hielt sich zu ihr. Ihnen
gefiel die blonde Rothbäckigkeit mit vollen Busen
und Armen besser, so hatten ihre Mütter auch
ausgesehen, als ihre Väter sie gewählt. Viel-
leicht nahm der eine und andere gewahr, daß
Reinde ein schönes Mädchen werde, doch nur
für die Augen, kein Verlangen nach einem Be-
sitz erweckend. Sie war ihnen fremd, nicht von
ihrer Gattung, und wie Niemand nach ihr Be-
gehr trug, so richtete auch ihr Blick sich nach
keinem. Es schmerzte sie nicht, uiibeachtet zu blei-
ben, als sei sie noch ein Kind, und sie fchien's
in sich wirklich noch zu sein. Sie nahm wohl
an den Zusammenkünften theil und zeigte sich
fröhlich, wenngleich nicht mehr ausgelassen, >vie
früher zuweilen. Aber zwischen den Liebespaaren
war sie allein, und am liebsten saß sie so allein
auf der Düne, über die See schauend, und ver-
langte es nicht anders.

Freude machte es ihr auch, die Pflanzen zu
betrachten, die sich unter ihrer Pflege im Gärt-
chen forterhielten, sie aus dem Boden neu Her-
vorkommen oder am.kahlen Gezweig frischeBlätter
treiben zu sehn. Von den meisten hatte sie als
Kind die Namen gehört, doch wieder vergessen;
manche bekamen in jedem Sommer Blüthen,
andre dagegen nur ab und zu, wenn in einem
Jahr die Sonne häufiger, als gewöhnlich schien.

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Register
Julius Diez: Zierleiste zum Text "Der Oleanderschwärmer"
Wilhelm Jensen: Der Oleanderschwärmer
 
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