1898
JUGEND
Nr. 43
ErrÖttiest Du, will sich mit heissem Mutti
Der Jugend Blick an Deiner Schönheit weiden?
Si brennt für Dich und heilig ist die Gluth!
J. R. Witzei (München).
Erröthen magst Du und die Blicke meiden
Der Wissenden mit k ü h 1 gewordnem Blut,
Die Blicke, die beschmutzen und entkleiden! (Persisch.)
„Aendern sich?" schnaubte das Walroß, den
Schnee auf der Nase vergessend und den Kopf er-
hebend. „Beim Himmel! Ja! Wie soll das enden?"
„Ich weiß es nicht," sagte der Seehund, der
sah, daß er nun das Walroß gehörig anfgestöbert
hatte, und erwartete jetzt^sich die Flossen reibend,
eine gemüthvolle halbe Stunde.
„Natürlich, Du weißt es nicht!" raunte das
Walroß und plätscherte wüthig im Teiche.
„Freilich! Wie wunderlich Du heute bist!"
bemerkte der Seehund. „Ja, die Dinge haben
sich stark geändert, seit die Menschenwesen in
unser Land kamen. Mt denen ist es gewiß
nicht geheuer!"
„Nicht geheuer!" rief das Walroß, „das will
ich glauben. Warum haben sie vier Pfoten und
wandern nur auf zweien herum?'^
„Aus Stolz, denke ich," antwortete der andere
nachdenklich.
„Nun, sie haben auf gar nichts stolz zu sein!
Nichts als Körper und gar kein Fell!"
„Ich glaube, sie trugen voriges Jahr das
Deines Onkels!" wagte sich der Seehund harm-
los hervor.
Das Walroß erwiderte nichts; es schien in
schmerzliche Erinnerung versunken.
„Es wird mir einschlafen," sagte der Seehund
zu sich selbst, „ich muß es wieder ausmuntern."
„Du hast die Menschenwesen ganz nahe ge-
sehen, nicht wahr?" fragte er.
Mit halbgeschlossenen, träumerischen Augen
horchte das Walroß von Neuem hin.
„Ja, einige Male. Ich erinnere mich, sie ein-
mal gesehen zu haben, als sie, einen Schnee-
abhang überschreitend, auf Wildpret aus waren
und ein jeder in des anderen Fußtapfen ging.
Das letzte Menschenwesen der Gesellschaft wurde
plötzlich von einem jener Mordskerle, den Bären,
die zum Fischen zu faul sind, angegriffen. Das
Menschenwesen war klein, wie es diese Wesen
zumeist sind, und es machte mir Spaß, es min-
destens vier Klauen weit laufen zu sehen. Dann
wandte es sich um und lief zu meinem großen
Erstaunen ganz knapp an den Bären heran.
Als sie nahe genug waren, um einander in die
Augen zu sehen, stieß das Menschenwesen einen
gellenden Schrei aus, der den Bären zu lähmen
schien, und dann schlug es ihn, bevor er Zeit
hatte, zu sich zu kommen, mit etwas, das es in
der Hand hielt. Beim zweiten Schlag fiel der
Bär um, aber nicht allein, denn der Kerl hatte
das Menschenwesen gerade mit seiner Tatze er-
faßt. Auf den Schrei hin waren die anderen um-
gekehrt, aber ein heftiger Schneewirbel kam und
nahm sie mit sich fort. Sie sahen niemals das Ende
des Kampfes. Ein anderes Mal >var ich-"
„Aber Deine große Liebe, weißt Du," unter-
brach es der Seehund.
Einen Augenblick herrschte Schweigen; dann
wandte sich das Walroß zum Seehund, der seinen
Schnurrbart aufwichste, und sagte schlau:
„Ei, ei! schöne Augen interessiren Dich mehr
als Jagd und Kampf!" '
„Ja," gestand der Seehund, die Augenlider
schamhaft niederschlagend, „ich glaube, es ist wahr."
„Ich erinnere mich genau an das erste Mal,
als ich sie sah," versetzte selig lächelnd das Wal-
roß. „Die Menschenwesen saßen essend in einem
engen Kreise."
„O, die gierigen Kerle!" unterbrach der See-
hund. „Sie haben sich wohl gefürchtet, daß
ihnen Jemand ein Beinchen wegnehmen könnte."
„Sie schlief neben dem seltsamen Licht, dessen
sie sich stets bedienen, und war mit etwas bedeckt,
das aussah, wie die Ueberreste eines Deiner
Familienangehörigen, Braunauge!"
„Du brauchst nicht meine Familienskelctte
hervorzusuchen," murrte der Seehund. „Erzähle
Deine Geschichte weiter."
JUGEND
Nr. 43
ErrÖttiest Du, will sich mit heissem Mutti
Der Jugend Blick an Deiner Schönheit weiden?
Si brennt für Dich und heilig ist die Gluth!
J. R. Witzei (München).
Erröthen magst Du und die Blicke meiden
Der Wissenden mit k ü h 1 gewordnem Blut,
Die Blicke, die beschmutzen und entkleiden! (Persisch.)
„Aendern sich?" schnaubte das Walroß, den
Schnee auf der Nase vergessend und den Kopf er-
hebend. „Beim Himmel! Ja! Wie soll das enden?"
„Ich weiß es nicht," sagte der Seehund, der
sah, daß er nun das Walroß gehörig anfgestöbert
hatte, und erwartete jetzt^sich die Flossen reibend,
eine gemüthvolle halbe Stunde.
„Natürlich, Du weißt es nicht!" raunte das
Walroß und plätscherte wüthig im Teiche.
„Freilich! Wie wunderlich Du heute bist!"
bemerkte der Seehund. „Ja, die Dinge haben
sich stark geändert, seit die Menschenwesen in
unser Land kamen. Mt denen ist es gewiß
nicht geheuer!"
„Nicht geheuer!" rief das Walroß, „das will
ich glauben. Warum haben sie vier Pfoten und
wandern nur auf zweien herum?'^
„Aus Stolz, denke ich," antwortete der andere
nachdenklich.
„Nun, sie haben auf gar nichts stolz zu sein!
Nichts als Körper und gar kein Fell!"
„Ich glaube, sie trugen voriges Jahr das
Deines Onkels!" wagte sich der Seehund harm-
los hervor.
Das Walroß erwiderte nichts; es schien in
schmerzliche Erinnerung versunken.
„Es wird mir einschlafen," sagte der Seehund
zu sich selbst, „ich muß es wieder ausmuntern."
„Du hast die Menschenwesen ganz nahe ge-
sehen, nicht wahr?" fragte er.
Mit halbgeschlossenen, träumerischen Augen
horchte das Walroß von Neuem hin.
„Ja, einige Male. Ich erinnere mich, sie ein-
mal gesehen zu haben, als sie, einen Schnee-
abhang überschreitend, auf Wildpret aus waren
und ein jeder in des anderen Fußtapfen ging.
Das letzte Menschenwesen der Gesellschaft wurde
plötzlich von einem jener Mordskerle, den Bären,
die zum Fischen zu faul sind, angegriffen. Das
Menschenwesen war klein, wie es diese Wesen
zumeist sind, und es machte mir Spaß, es min-
destens vier Klauen weit laufen zu sehen. Dann
wandte es sich um und lief zu meinem großen
Erstaunen ganz knapp an den Bären heran.
Als sie nahe genug waren, um einander in die
Augen zu sehen, stieß das Menschenwesen einen
gellenden Schrei aus, der den Bären zu lähmen
schien, und dann schlug es ihn, bevor er Zeit
hatte, zu sich zu kommen, mit etwas, das es in
der Hand hielt. Beim zweiten Schlag fiel der
Bär um, aber nicht allein, denn der Kerl hatte
das Menschenwesen gerade mit seiner Tatze er-
faßt. Auf den Schrei hin waren die anderen um-
gekehrt, aber ein heftiger Schneewirbel kam und
nahm sie mit sich fort. Sie sahen niemals das Ende
des Kampfes. Ein anderes Mal >var ich-"
„Aber Deine große Liebe, weißt Du," unter-
brach es der Seehund.
Einen Augenblick herrschte Schweigen; dann
wandte sich das Walroß zum Seehund, der seinen
Schnurrbart aufwichste, und sagte schlau:
„Ei, ei! schöne Augen interessiren Dich mehr
als Jagd und Kampf!" '
„Ja," gestand der Seehund, die Augenlider
schamhaft niederschlagend, „ich glaube, es ist wahr."
„Ich erinnere mich genau an das erste Mal,
als ich sie sah," versetzte selig lächelnd das Wal-
roß. „Die Menschenwesen saßen essend in einem
engen Kreise."
„O, die gierigen Kerle!" unterbrach der See-
hund. „Sie haben sich wohl gefürchtet, daß
ihnen Jemand ein Beinchen wegnehmen könnte."
„Sie schlief neben dem seltsamen Licht, dessen
sie sich stets bedienen, und war mit etwas bedeckt,
das aussah, wie die Ueberreste eines Deiner
Familienangehörigen, Braunauge!"
„Du brauchst nicht meine Familienskelctte
hervorzusuchen," murrte der Seehund. „Erzähle
Deine Geschichte weiter."