Nr. 49
JUGEND
1893
^Bstsx ^SäiäjEt fcriitgll
„Gut," fuhr das Walros; fort, das nun bei guter Laune war. „Ich
sah sie so lange an, bis mich meine Augen schmerzten. Es muß wohl
ihr rvthes Haar gewesen sein, das mich so sehr entzückte. Im Lichte sah
es ivic Blut aus. Ich war geblendet; und als sie ihre braune Pfote
mit den nutzlosen Litauen ausstrcckte, fühlte ich plötzlich eine heiße,
unbezähmbare Begierde, sie zu umarmen."
„Und Frau Walroß?" versetzte schüchtern der Seehund.
Das Walroß würdigte diese Bemerkung keiner Beachtung.
„Ich blieb einige Tage zur Jagd dort," fuhr es fort, „und es gelang
mir, voll Zeit zu Zeit einen Blick voll ihr zu erhaschen. Einmal zeigte
ich mich ganz; sie schien erschrocken, aber ich glaube, meine Farbe
interessirte sie. . Jedenfalls hatte sie seine Manieren und hielt sich in
ehrbarer Entfernung."
„Bei Menschenlvesen etlvas sehr Ungewöhnliches," murmelte der
Seehund.
„Eines Tages," fuhr das Walroß, ganz versunken in die seligen Er-
innerungen der Vergangenheit, zu erzählen fort, — „eines Tages ging
sie an den Rand der Eisscholle, um sich im Wasser zu besehen. Das
war so eine ihrer Gewohnheiten. Diesmal glitt sie aus und fiel. Eine
Sekunde lang sah ich nichts; meine Augen waren trübe vor Schrecken,
denn ich wußte, >vas für arme Dinger diese Geschöpfe im Wasser sind.
Ich sah sie schreckerfüllt und verzweifelt an die Oberfläche kommen, und
ihr Haar spielte und züngelte >vie die Flammen des Hinnnelsgottes.
Ich tauchte unter lind >var im Nil bei ihr. Wie cs mir gelang, sie auf
die feste Eiskante zu bringen, kann ich nicht sagen, denn ich hatte eine
furchtbare Angst, sie zu verletzen. Feucht und matt, sah sie wie ein
brauner Fisch aus. Sie blieb still, bis mein Schatten größer geworden
war, als ich selbst; dann öffnete sie die Augen und ich kroch näher zu
ihr hiil. Sie bewegte sich leise »lid schloß die Augen wieder — aber nicht
ganz, denn ich sah das Schneelicht m ihnen. Dann schauderte sie und
streckte eine ihrer braunen Pfoten aus — gleichsaui um mir zu danken."
Es lag ein seltsamer Zweifel, eine seltsame Unsicherheit in seinem Ton.
„Er möchte gerne ganz sicher sein," dachte der Seehund.
„Ihr Gesicht nahm nach und nach die Farbe meines Felletz an,"
fuhr bas Walroß fort. „Ich ging ganz nahe heran und berührte sanst
ihren Körper, aber sie kollerte von mir weg. In einer Sekunde hatte
ich sie ergriffe», ganz zart, verstehst Du, ganz zart. Sie versuchte mir
zu widerstehen, aber ihre Pfote sank ruhig ili mein Fell."
„Ja, aber warum zankte denn Frau Walroß mit Dir?" fragte der
Seehund nach einem Augenblick tiefen Nachdenkens. „Sie hatte ja
keinen Beweis, daß Du das Menschenwesen wirklich liebtest." Von den
Augen des Walroises siel eine Tyräne auf den kleinen schneebedeckten
Mlllld, den es schmerzlich verzogen hatte.
„Beweis? Nur zu viel Beweis," antwortete es leise, gleichsam im
Selbstgespräch, „ich aß sie ja aus!"
Der graue Ränkeschmied, der sie hinter einem gefrorenen Schneeblock
beobachtete und begierig war, wann sie Weggehen würden, hörte den
Seehund, wie er mit Unendlicher Anmuth in ble See tauchend murmelte:
„Ja, das! Das war freilich Liebe!"
onv sozialen Frage
IUbelungenstrophen
des Dbcrlehrcrs Ambrosius Fuchser
Ich las in meiner Zeitung von einer Ladnerin,
Die aus der Laste Geld nahm, das sich befand darin.
Zum Glück ward die verworfne zu rechter Zeit erwischt
lind fortgeschlcppt zum Lerker, daß ihr Lharakter werde
aufgefrischtc
Bezog sie auch pro Monat nur dreißig Mark an Lohn
Und war er einbehalten seit zweien Monden schon,
weil sie zerschmissen hatte rerschicdnes Porzellan —
Ein ordentliches Mädchen, das hätte so was dennoch nicht
gethan.
Der Mensch ist frei geboren, ist frei, das sieht mir fest.
Und der nur wird verleitet, der sich verleiten laßt.
Und bellte laut sein Magen, viel lauter bellen muß
Aus seines Wesens Tiefe der Impsrarivus catsgoricus.
Und geht's in solchem Falle dem Sünder nicht so schlecht,
So läßt man eben Gnade ergehen mal vor Recht,
Denn Dünger und dergleichen Entschuldigungen gibt's
Nicht für den Legislator, und darf's auch nicht aus
Gründen des Prinzips!
Wohl gibt's ein Recht zum Leben, ein Recht auf Arbeit auch,
Lin Recht auf Nahrung nimmer! Der Mensch ist mehr als Bauch!
Der Mensch soll eben stark sein, beherrschen soll er sich!
Behandelt man ihn milde, geberdet er nur immer toller sich.
Itä'm' ich mal in die Lage zu hungern oder so,
Ich trotzte jeder Lockung und stürbe frei und froh.
Doch eben weil ich ehrlich mich hielt mein Leben lang
Mit ungeheurer Mühe, so Hab' ich Trank und Speise.
Gott sei Dank.
Ernst Liebermann (München).
feirt Mrliillt
JUGEND
1893
^Bstsx ^SäiäjEt fcriitgll
„Gut," fuhr das Walros; fort, das nun bei guter Laune war. „Ich
sah sie so lange an, bis mich meine Augen schmerzten. Es muß wohl
ihr rvthes Haar gewesen sein, das mich so sehr entzückte. Im Lichte sah
es ivic Blut aus. Ich war geblendet; und als sie ihre braune Pfote
mit den nutzlosen Litauen ausstrcckte, fühlte ich plötzlich eine heiße,
unbezähmbare Begierde, sie zu umarmen."
„Und Frau Walroß?" versetzte schüchtern der Seehund.
Das Walroß würdigte diese Bemerkung keiner Beachtung.
„Ich blieb einige Tage zur Jagd dort," fuhr es fort, „und es gelang
mir, voll Zeit zu Zeit einen Blick voll ihr zu erhaschen. Einmal zeigte
ich mich ganz; sie schien erschrocken, aber ich glaube, meine Farbe
interessirte sie. . Jedenfalls hatte sie seine Manieren und hielt sich in
ehrbarer Entfernung."
„Bei Menschenlvesen etlvas sehr Ungewöhnliches," murmelte der
Seehund.
„Eines Tages," fuhr das Walroß, ganz versunken in die seligen Er-
innerungen der Vergangenheit, zu erzählen fort, — „eines Tages ging
sie an den Rand der Eisscholle, um sich im Wasser zu besehen. Das
war so eine ihrer Gewohnheiten. Diesmal glitt sie aus und fiel. Eine
Sekunde lang sah ich nichts; meine Augen waren trübe vor Schrecken,
denn ich wußte, >vas für arme Dinger diese Geschöpfe im Wasser sind.
Ich sah sie schreckerfüllt und verzweifelt an die Oberfläche kommen, und
ihr Haar spielte und züngelte >vie die Flammen des Hinnnelsgottes.
Ich tauchte unter lind >var im Nil bei ihr. Wie cs mir gelang, sie auf
die feste Eiskante zu bringen, kann ich nicht sagen, denn ich hatte eine
furchtbare Angst, sie zu verletzen. Feucht und matt, sah sie wie ein
brauner Fisch aus. Sie blieb still, bis mein Schatten größer geworden
war, als ich selbst; dann öffnete sie die Augen und ich kroch näher zu
ihr hiil. Sie bewegte sich leise »lid schloß die Augen wieder — aber nicht
ganz, denn ich sah das Schneelicht m ihnen. Dann schauderte sie und
streckte eine ihrer braunen Pfoten aus — gleichsaui um mir zu danken."
Es lag ein seltsamer Zweifel, eine seltsame Unsicherheit in seinem Ton.
„Er möchte gerne ganz sicher sein," dachte der Seehund.
„Ihr Gesicht nahm nach und nach die Farbe meines Felletz an,"
fuhr bas Walroß fort. „Ich ging ganz nahe heran und berührte sanst
ihren Körper, aber sie kollerte von mir weg. In einer Sekunde hatte
ich sie ergriffe», ganz zart, verstehst Du, ganz zart. Sie versuchte mir
zu widerstehen, aber ihre Pfote sank ruhig ili mein Fell."
„Ja, aber warum zankte denn Frau Walroß mit Dir?" fragte der
Seehund nach einem Augenblick tiefen Nachdenkens. „Sie hatte ja
keinen Beweis, daß Du das Menschenwesen wirklich liebtest." Von den
Augen des Walroises siel eine Tyräne auf den kleinen schneebedeckten
Mlllld, den es schmerzlich verzogen hatte.
„Beweis? Nur zu viel Beweis," antwortete es leise, gleichsam im
Selbstgespräch, „ich aß sie ja aus!"
Der graue Ränkeschmied, der sie hinter einem gefrorenen Schneeblock
beobachtete und begierig war, wann sie Weggehen würden, hörte den
Seehund, wie er mit Unendlicher Anmuth in ble See tauchend murmelte:
„Ja, das! Das war freilich Liebe!"
onv sozialen Frage
IUbelungenstrophen
des Dbcrlehrcrs Ambrosius Fuchser
Ich las in meiner Zeitung von einer Ladnerin,
Die aus der Laste Geld nahm, das sich befand darin.
Zum Glück ward die verworfne zu rechter Zeit erwischt
lind fortgeschlcppt zum Lerker, daß ihr Lharakter werde
aufgefrischtc
Bezog sie auch pro Monat nur dreißig Mark an Lohn
Und war er einbehalten seit zweien Monden schon,
weil sie zerschmissen hatte rerschicdnes Porzellan —
Ein ordentliches Mädchen, das hätte so was dennoch nicht
gethan.
Der Mensch ist frei geboren, ist frei, das sieht mir fest.
Und der nur wird verleitet, der sich verleiten laßt.
Und bellte laut sein Magen, viel lauter bellen muß
Aus seines Wesens Tiefe der Impsrarivus catsgoricus.
Und geht's in solchem Falle dem Sünder nicht so schlecht,
So läßt man eben Gnade ergehen mal vor Recht,
Denn Dünger und dergleichen Entschuldigungen gibt's
Nicht für den Legislator, und darf's auch nicht aus
Gründen des Prinzips!
Wohl gibt's ein Recht zum Leben, ein Recht auf Arbeit auch,
Lin Recht auf Nahrung nimmer! Der Mensch ist mehr als Bauch!
Der Mensch soll eben stark sein, beherrschen soll er sich!
Behandelt man ihn milde, geberdet er nur immer toller sich.
Itä'm' ich mal in die Lage zu hungern oder so,
Ich trotzte jeder Lockung und stürbe frei und froh.
Doch eben weil ich ehrlich mich hielt mein Leben lang
Mit ungeheurer Mühe, so Hab' ich Trank und Speise.
Gott sei Dank.
Ernst Liebermann (München).
feirt Mrliillt