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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 3.1898, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 51 (17. Dezember 1898)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3338#0440
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Kr. 51

gemischt. Wer die Kupferstiche von Chodo-
wiecki, nach Chippendale it. die Stoffmuster
des 17,, die Tapeten und Buchvorsätze des
18. Jahrhunderts, die schier unermeßlich zahl-
reichen, glatten und praktischen Lösungen der
Napoleonischen Zeit und der 20 er Jahre in
der Erinnerung hat, der wird heute in dem
fälschlich sogenannten „englischen Stil" viele
alte Bekannte begrüßen. Man könnte in An-
sehung der Details geradezu von einem Ben
Akiba-Stil reden. Originell ist hier eigentlich
nur die englisch-amerikanische Ungeniertheit,
womit alle nur denkbaren historischen Motive
und Techniken harmonisch (und leider oft auch
recht unharmonisch) zusammengefügt und ohne
ästhetische Gewissensbisse Konzessionen an die
Bequemlichkeit, die Griffigkeit und, was beson-
ders gelobt werden muß, an die Hygiene ge-
macht werden. Das Neue ist nicht sowohl in
der Richtung der tektonischen, ornamentalen
und koloristischen Erfindung, als vielmehr in der
dekorativen Stimmung zu suchen. Und hier
wird gewiß mit der Zeit auch ein nationales
Etwas mehr und mehr zum Ausdruck kommen
können, etwas Unwägbares und Undefinier-
bares, das gleichwohl uns Deutschen auf den
ersten Blick verständlich sein wird: das „Ge-
müthliche", „Trauliche", „Heimliche".

Hatte schon jeder der altehrwürdigen histo-
rischen Stile trotz aller harmonischen Abge-
schlossenheit eine Masse von Früherem und
Volksfremdem in sich ausgenommen, so erscheint
der in der Bildung begriffene Stil, was seine
Elemente anbetrifft, geradezu als internatio-

• JUGEND *

nales, anachronistisches Sammelsurium Es
kommt nun alles auf den künstlerischen Ver-
schmelzungsprozeß an, welcher sicherlich nicht
ausbleiben wird. Aber nicht genug kann be-
tont werden, daß gerade diese kaleidoskopische
Vielheit der Elemente, sowohl seitens der
Künstler als seitens des Publikums, nur durch
eine ganz allgemeine, vertiefte Knnstanschau-
ung zu bewältigen ist. Indem mir uns von
der Stiltyrannei der Vorfahren losmachen,
müssen wir doch alles Dageivescne kennen und
in seinem künstlerischen Zusammenhang über-
blicken: das Gothische z. B., das sich in den
modernsten Bildungen so breit macht, müssen
wir, um nicht in lächerliche Anwendungen zu
verfallen, in seinem innersten Wesen erfassen,
und überall sind wir gezwungen, nicht blos
auf die allgemeinen Stilgesetze und die beson-
deren Techniken einzugehen, sondern uns auch
nüt dem Urquell aller Kunstmotive, der Natur,
zu befassen.

Auf die heutige Richtrmg wird ganz zwei-
fellos in zwanzig oder dreißig Jahren — viel-
leicht schon früher — eine neue folgen. Die
Jüngeren, die sich auf diese Wendung vorbe-
reiten müssen, und die Alten, deren Herz jung
bleiben will, mögen mit dieser Aussicht rech-
nen, aber nicht dadurch, daß sie dem rollenden
Rade der Zeit in die Speichen fallen, sondern
dadurch, daß sie den heimlichen Schatz ihres
Herzens verniehren, Alles, was schön und stark
ist, zu verstehen, zu lieben lernen. Wer an
die künstlerischen Aufgaben der Zukunft heran-
tritt mit solchen Phrasen wie „die Kunst soll",

1393

oder „sic darf nicht", der ist von vornherein
ein verlorener Mann. Die Kunst läßt sich
nicht die Flügel beschneiden, am Wenigsten
von denen, die mit den längsten Scheeren be-
waffnet sind.

Und zum Schlüsse noch ein Wort an das
kunstkonsumirende Publikum: Bewahren Sie
Sich vor engherziger Einseitigkeit, meine Herr-
schaften; setzen Sie nicht Alles auf Eine Karte,
prüfen Sie Alles und behalten Sie das Beste;
lassen Sie Sich nicht imponircn durch die
Bethenernngen verblendeter oder interessirter
Parteigänger, daß diese oder jene Richtung,
dieser oder jener Stil das „einzig Wahre" sei,
und daß der gute Deutsche die heilige Pflicht
habe, sich diesem Idol mit Herz und Geldbeutel
zu verschreiben. Nein, Kunst- und Kunstgenuß
haben mit den ausschließenden Anforderungen,
welche etwa Religion oder Patriotismus an
den Menschen stellen, nicht das Geringste zu
thun. Der moderne Mensch — und der lebende
ist ja iminer modern — kann sich heute an
der Götterdämmerung und morgen an der
Zauberflöte, hier in einer altdeutschen Trink-
stube und dort in einem neckischen Rococo-
boudoir erfreuen, er kann sogar sein Heim all-
mählig zum Stelldichein der Grazien aller
Jahrhunderte machen, ohne seiner Würde das
Geringste zu vergeben. Es führen viele Wege
nach Rom; wer sie alle kennt, kommt am
sichersten hin.

München, November 1888.

Georg Hirth.

Illii8iradon8probe aus Georg Hirth „Deutsches .Zimmer“, vierte Auflage

(Aus einem von Fritz Erler-München im Hause des Medizinalrathes Prof. Neisser in Breslau geschaffenen Musikzimmer)

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[nicht signierter Beitrag]: Humor des Auslandes
 
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