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Nr. 1

JUGEND -

1899

Fürsorge durch die liebliche Phrase „Eigenthum
ist Diebstahl"; den Gottesfürchtigen machte er
mit angeblicher Naturwissenschaft die Hölle heiß,
ohne ihnen den geringsfen Ersatz für den Rück-
halt der Religion bieten zu können; Bismarck
schlug er mit Virchom, und umgekehrt, und
alle Größen der Weltgeschichte schrumpften unter
seinen Treppenwitzen zu traurigen Glückspilzen
zusammen. Am Schlimmsten kamen die Dichter
weg, die er fast noch mehr haßte, als die Weiber.

Allmählich aber erzeugte seine Hyperkrisie
in uns eine Art von psychischem Bauchweh —
die Infektion, die Vergiftung hatte begonnen-,
doch der Verlauf der Erkrankung war bei den
Einzelnen sehr verschieden. Die Schwerblütigen,
mit Mißtrauen und Neid erblich Belasteten,
behielten den pessimistischen Klaps wohl zeit-
lebens, die Leichtblütigen halfen sich durch Er-
brechen. Indessen verhinderte es unser Mangel
an Lebenserfahrung, daß wir nun das infek-
tiöse Wesen des Mannes sofort erkannten; wir
mahmen sein sardonisches Gesicht immer noch
ernst und disputirten ehrlich mit ihm, während
die kleine Kellnerin, die uns bediente, in ihrem
gesunden weiblichen Instinkt ihn vom ersten
Tage an richtig taxirt hatte. „Wie Sie sich nur
inxt so einem ekligen, unheimlichen Meyschen so
lange herumstreiten mögen," sagte sie oft zu uns.

Eigentlich verdächtig wurde der Kerl mir
und meinen Gesinnungsgenossen zuerst auf
dein Gebiete der Politik. Das lag an unserer
Jugend und an der Zeit. Es war zu Anfang
der 60er Jahre, Alles war damals — trotz
dein Nationalverein — nebelhaftes Sehnen.
Die Leidenschaft des Hoffenden ist immer größer,
als die des Besitzenden — beati possidentes.
So geht es auch mit der männlichsten der
Leidenschaften, derjenigen, welche uns mehr als
alle anderen (die Liebe nicht ausgenommen)
zur Selbstaufopferung und zum Vergießen von
Menschenblut hinreißen kann, dem Patrio-
tismus: wenn er sich sicher fühlt, dann wird
er faul. Wenige Jahre später (z. B. nach der

Schlacht bei Sedan) wäre mir das Geschimpfe
auf die deutsche Einheit und die preußische
Kraft, auf die wir unsere Hoffnung gesetzt
hatten, sehr Wurst gewesen. Aber damals
kam es zu den heftigsten Erörterungen, wobei
dem fraglichen Herrn die Ehre eines politischen
Gegners erwiesen wurde. Damals fiel in der
Debatte das Wort, das die Lebenden für immer
entfremden sollte: einer von uns nannte ihn
„vaterlandsloses Schwein."

Der Jugend flinkes Richtschwert ist der Zorn.
Es stand mir nun fest: er gehörte zu den Un-
holden, die aus tiefer philosophischer Ucberzeug-
ung das Böse wirken, ein leibhaftiger Mephi-
stopheles. So erschien er mir auf der Mitte
der Brücke als zielbewußter Selbstmensch. Erst
später, als mein Heidenrespekt vor den guten
wie den schlechten Philosophen in die Brüche
gegangen war, fiel es mir wie Schnppen von
den Augen. Der politische Pessimisnius ist
nämlich, bei Gebildeten sicher noch mehr als
bei Ungebildeten, immer nur die letzte Kon-
sequenz des Neides und der Undankbarkeit.
Der Aermste hatte in seiner Psyche ein großes
Loch — das Verbum „danken" konnte er nicht
begreifen, geschweige denn konjugiren. Die
Idee, irgend einem Wesen oder gar einem
Menschen Dank schuldig und daher verpflichtet
zu sein, war ihm ein Greuel. Wenn er Einem
begegnete, der ihm Gutes gethan hatte, dann
machte er ganz instinktiv Kehrt, nur um ihn
nicht grüßen zu müssen. Für Alles, was ihm
an unverdienten Wohlthaten in den Schooß
gefallen war, von der Geburt und Mutter-
milch bis zum Erbarmen seiner zahlreichen
Gläubiger, hatte er die häßlichsten Erklärungen
aus der Rüstkammer des Egoismus. Folglich
haßte er auch alle Liebe, vorab die Liebe zur
Heimath, zum Volksthum, zum Vaterlande.
Sein nicht unbeträchtlicher Scharfsinn konzen-
trirte sich darauf, das gähnende Loch in seiner
Psyche zu rechtfertigen und seinen jugendlichen
Zuhörern klar zu machen, daß sie nur mit einem

solchen Loch ein menschenwürdiges Dasein zu
führen im Stande seien. Sein ganzer Altruis
mus bestand in dem Streben, seine nicht an
diesem Defekt leidenden Mitmenschen auf die
eigene Jchsynthese herabzuschrauben.

Heute würde ich den Fall etwa so kenn-
zeichnen: Der Mann hatte ein formell zwar
normal entwickeltes Menschenhirn, aber diejen-
igen energetischen Systeme, welche recht eigentlich
die Kulturfähigkeit des Menschen ausmachen,
hatten darin keine Epigenesis, keine Entwick-
lungsfähigkeit. Die erforderlichen Zellen und
Bahnen werden wohl vorhanden gewesen sein,
aber sie waren für die altruistischen Merk
systeme taub, blind, todt, funktionell werthlos
Die Menschen, welche mit solchen systematischen
Defekten behaftet und allen Korrekturen unzu-
gänglich, d. h. unheilbar sind, beanspruchen
unser größtes Mitleid. Denn sie stehen trotz
sonstiger Geistesgaben in mancher Hinsicht tief
unter vielen Thieren. Auch in der Thierreihe
beruht ja die psychische Knlturfähigkeit auf der
Entwickelung altruistischer Neigungen neben den
rein sexuellen; auch dort ist die Dankbarkeit,
die freundschaftliche Hingebung, das Pflichtge-
fühl maßgebend für die Werthschätzung, durch
welche wir einzelne Hausthiere zu unfern „Ka-
meraden" erheben. Wir schlachten und essen das
schwer lenksame, dumme und hochgradig undank-
bare Schwein mit Wonne. Je „menschlicher"
(wenn ich so sagen darf) das Thier uns näher
getreten ist, desto größer wird unsere Scheu, es
zu morden oder gar zu verzehren. Selbst der
blutharte Jägersmann kann sich nicht der Thräne
erwehren, wenn er seinen tollgewordenen treuen
Hund erschießen muß. Umgekehrt erfüllt uns
die Feindseligkeit und Undankbarkeit aller Arten
von Raubzeug mit Mordlust, und sogar in der
Rechtspflege und im Krieg gilt die unerbittliche
Logik: Tod den Tödtern.

Doch die Weiterverfolgnng dieser biologi-
schen Dinge würde uns hier zu weit führen.
Auch den Erfahrungssatz, daß in der höchsten

Glück im Winkel

Julius Carben (München).
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Julius Carben: Glück im Winkel
 
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