Kr. 4
JUGEND
1899
und konnte Stunden an der Wiege ver-
bringen. Seine Liebe zu dem Kinde schien
die der Mutter fast noch zu übertreffen,
jedenfalls äusserte er sie leidenschaft-
licher, als die Frau.
Ein und ein halbes Jahr quälender, ver-
gifteter Mutterfreuden, —- dann war’s ge-
kommen! Heimtückisch hatte es sich an
die Kleine herangeschlichen, und wie ein
Flämmchen war das kurze Menschenleben
unter dem Hauch des Todes plötzlich er-
loschen!—
-Wie es bohrt und brennt in
Kopf und Herzen! —
Eine Menge neu gekommener Kränze
liegen unten in der offenen Halle, und
der starke Duft des Tannengrüns und der
Blumen dringt herauf bis in ihr ver-
schlossenes Zimmer.
Es fährt nun ein Wagen vor, — sie horcht!
Schwere, langsame Schritte kommen die
Treppe herauf—im Seitengang verhallen sie.
Wie nachtwandelnd, steht die Frau auf,
geht hinaus — und lauscht. Die Töne, die
sie hört, machen sie erschauern! —
Heiseres Schluchzen dringt aus dem
Kinderzimmer, das unberührt geblieben
war, seit man die kleine Todte dort aus
ihrem Bettelten gehoben und unten auf-
gebahrt hatte.
Sie stösst die Thüre auf. Auf dem
Tische Medizinflaschen und Pulverdosen,
ein kleines Räderschäfchen und eine
Gummipuppe liegen auf dem Boden.
Den Arm auf der Tischplatte, den Kopf
auf den Arm gelegt, sitzt ihr Gatte und
weint laut. Zum ersten Male kann er sich
seinem Leid schrankenlos hingeben, —
ohne Zeugen, wie er meint!
Ihre Augen werden weit und starr,
stieren Blickes heften sie sich auf diese
bebende Mannesgestalt.
Die weissen Lippen, wie im Krampfe
eingezogen, öffnen sich schwer und lang-
sam— ein gellender, misstönender Auf-
schrei, von einem schrillen Lachen be-
gleitet:
„Der Vater!“
Dann schlägt sie plötzlich schwer auf
den Boden nieder. Max Grad.
Tante Giovanna
Piemontesisches Volkslied
(Aus den Canti popolari del Piemonte des Grafen
Costantino Nigra.)
Tante Giovanna sitzt vor der Thür,
sitzt vor der Thür und spinnt am Rocken.
Geht der Herr Medicus vorbei:
Tante Giovanna, wie stehfs Befinden ?
— Nicht zum Besten befind’ ich mich,
hab’ an Kopfweh so viel zu leiden.
— Tante Giovanna, wässert den Wein,
seid dann frisch undgesund schon morgen.
— Wollt’ ich wässern meinen Wein,
war’ ich schon morgen früh gestorben.
Wenn ich einmal gestorben bin,
Dann begrabt mich in einem Keller,
Leget den Kopf mir unter’s Fass
und den Mund fein unter den Zapfen.
Alle Leute, die kommen nach Wein,
werden den Mund mir frisch erhalten.
PAUL HEYSE.
Julius Diez (München).
Am Nordpol: „Jetzt war's aber schon die höchste Seit, daß wir 'mal entdeckt würden!"
Die Kopfabschneider
(Eine Fabel der Sumatra-Malaien)
einem Tage wurden zwei Knaben
geboren, der eine im Norden von Mias,
in Boto Niha Jove, und der andere im
Süden, in Mazingö. Dem ersten gab man
den Namen Gondru Sawa'f Ana’a, während
der zweite Latilia Serani hiess.
Als sie gross geworden, zogen sie Beide
eines Tages aus, um einen Kopf abzuschnei-
den, Jeder von ihnen hatte es auf den
Kopf des Anderen abgesehen.
Sie bewaffneten sich Beide bis an die
Zähne. Ihre Lanzen hatten siebzig Haken.
Der Rücken ihrer Klewangs*) hatte die
Dicke eines Lawayobaumzweiges, ihre
Schilde die eines Handgelenks und ihre
Panzer waren aus Büffelfell gefertigt.
Auf den Botombawo-Bergen, im Mittel-
punkte der Insel, trafen sie sich.
„"Wer bist Du,“ fragte Latilia Gondru.
*) breite Säbel.
„Ich bin Gondru Sawa'i Ana'a,“ er-
widerte dieser.
„Ich bin hierher gekommen, um mir
Deinen Kopf zu holen,“ fuhr Latilia fort.
„Und ich, um mir den Deinigen zu
holen,“ entgegnete Gondru.
Sofort entspann sich der Kampf. Doch
ihre Lanzen hakten sich in einander fest
und sie konnten sie nicht mehr losbringen.
Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als ihre
Klewangs zu ergreifen, doch diese blieben
an einander kleben, und sie konnten sich
ihrer nicht mehr bedienen. Als sie nun
den Kampf Leib an Leib fortsetzen wollten,
ging es mit ihren Schildern ebenso wie mit
ihren Schwertern.
„Machen wir freundschaftlich ein Ende,“
sagten sie sich, „und ersetzen wir die Köpfe
durch etwas Nützlicheres.“
Latilia zog aus seinem Beutel eine Pi
sangfrucht und gab sie Gondru, der sie
vor sich in die Erde pflanzte. Sie wuchs
augenblicklich und trieb weitere Früchte.
Gondru gab Latilia seinerseits ein Be-
thelblatt, das dieser ebenfalls in die Erde
pflanzte. Das Blatt schlug Wurzel und
rankte sich sofort um die Lanze, die er
als Stütze in die Erde gerannt hatte.
Dann trennten sie sich und Jeder nahm
einen Vorrath von Pisang und Bethel mit,
und Gondru sagte zu Latilia: „Gib Jeder-
mann bei Dir im Süden davon!"
„Und Du thue dasselbe im Norden,“
entgegnete Latilia.
Als Latilia in sein Dorf zurückgekehrt
war, versammelte er die Einwohner um sich
und sagte ihnen, er hätte einen Kopf mit-
gebracht.
„Wo ist der Kopf?“ fragten sie ihn.
„Ich werde ihn Euch zeigen,“ versetzte
er und vertheilte Bethel unter sie: „Das
ist der Kopf, den ich mitgebracht habe.“
Gondru that dasselbe in seinem Dorfe,
und die Leute riefen im Süden wie im
Norden: „Das lasse ich mir gefallen, das sind
Köpfe, die man essen kann; wir ziehen
sie denen vor, die sich nur dazu eignen,
die Wände unserer Hütten zu schmücken.“
(Deutsch ven W. Th.)
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und konnte Stunden an der Wiege ver-
bringen. Seine Liebe zu dem Kinde schien
die der Mutter fast noch zu übertreffen,
jedenfalls äusserte er sie leidenschaft-
licher, als die Frau.
Ein und ein halbes Jahr quälender, ver-
gifteter Mutterfreuden, —- dann war’s ge-
kommen! Heimtückisch hatte es sich an
die Kleine herangeschlichen, und wie ein
Flämmchen war das kurze Menschenleben
unter dem Hauch des Todes plötzlich er-
loschen!—
-Wie es bohrt und brennt in
Kopf und Herzen! —
Eine Menge neu gekommener Kränze
liegen unten in der offenen Halle, und
der starke Duft des Tannengrüns und der
Blumen dringt herauf bis in ihr ver-
schlossenes Zimmer.
Es fährt nun ein Wagen vor, — sie horcht!
Schwere, langsame Schritte kommen die
Treppe herauf—im Seitengang verhallen sie.
Wie nachtwandelnd, steht die Frau auf,
geht hinaus — und lauscht. Die Töne, die
sie hört, machen sie erschauern! —
Heiseres Schluchzen dringt aus dem
Kinderzimmer, das unberührt geblieben
war, seit man die kleine Todte dort aus
ihrem Bettelten gehoben und unten auf-
gebahrt hatte.
Sie stösst die Thüre auf. Auf dem
Tische Medizinflaschen und Pulverdosen,
ein kleines Räderschäfchen und eine
Gummipuppe liegen auf dem Boden.
Den Arm auf der Tischplatte, den Kopf
auf den Arm gelegt, sitzt ihr Gatte und
weint laut. Zum ersten Male kann er sich
seinem Leid schrankenlos hingeben, —
ohne Zeugen, wie er meint!
Ihre Augen werden weit und starr,
stieren Blickes heften sie sich auf diese
bebende Mannesgestalt.
Die weissen Lippen, wie im Krampfe
eingezogen, öffnen sich schwer und lang-
sam— ein gellender, misstönender Auf-
schrei, von einem schrillen Lachen be-
gleitet:
„Der Vater!“
Dann schlägt sie plötzlich schwer auf
den Boden nieder. Max Grad.
Tante Giovanna
Piemontesisches Volkslied
(Aus den Canti popolari del Piemonte des Grafen
Costantino Nigra.)
Tante Giovanna sitzt vor der Thür,
sitzt vor der Thür und spinnt am Rocken.
Geht der Herr Medicus vorbei:
Tante Giovanna, wie stehfs Befinden ?
— Nicht zum Besten befind’ ich mich,
hab’ an Kopfweh so viel zu leiden.
— Tante Giovanna, wässert den Wein,
seid dann frisch undgesund schon morgen.
— Wollt’ ich wässern meinen Wein,
war’ ich schon morgen früh gestorben.
Wenn ich einmal gestorben bin,
Dann begrabt mich in einem Keller,
Leget den Kopf mir unter’s Fass
und den Mund fein unter den Zapfen.
Alle Leute, die kommen nach Wein,
werden den Mund mir frisch erhalten.
PAUL HEYSE.
Julius Diez (München).
Am Nordpol: „Jetzt war's aber schon die höchste Seit, daß wir 'mal entdeckt würden!"
Die Kopfabschneider
(Eine Fabel der Sumatra-Malaien)
einem Tage wurden zwei Knaben
geboren, der eine im Norden von Mias,
in Boto Niha Jove, und der andere im
Süden, in Mazingö. Dem ersten gab man
den Namen Gondru Sawa'f Ana’a, während
der zweite Latilia Serani hiess.
Als sie gross geworden, zogen sie Beide
eines Tages aus, um einen Kopf abzuschnei-
den, Jeder von ihnen hatte es auf den
Kopf des Anderen abgesehen.
Sie bewaffneten sich Beide bis an die
Zähne. Ihre Lanzen hatten siebzig Haken.
Der Rücken ihrer Klewangs*) hatte die
Dicke eines Lawayobaumzweiges, ihre
Schilde die eines Handgelenks und ihre
Panzer waren aus Büffelfell gefertigt.
Auf den Botombawo-Bergen, im Mittel-
punkte der Insel, trafen sie sich.
„"Wer bist Du,“ fragte Latilia Gondru.
*) breite Säbel.
„Ich bin Gondru Sawa'i Ana'a,“ er-
widerte dieser.
„Ich bin hierher gekommen, um mir
Deinen Kopf zu holen,“ fuhr Latilia fort.
„Und ich, um mir den Deinigen zu
holen,“ entgegnete Gondru.
Sofort entspann sich der Kampf. Doch
ihre Lanzen hakten sich in einander fest
und sie konnten sie nicht mehr losbringen.
Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als ihre
Klewangs zu ergreifen, doch diese blieben
an einander kleben, und sie konnten sich
ihrer nicht mehr bedienen. Als sie nun
den Kampf Leib an Leib fortsetzen wollten,
ging es mit ihren Schildern ebenso wie mit
ihren Schwertern.
„Machen wir freundschaftlich ein Ende,“
sagten sie sich, „und ersetzen wir die Köpfe
durch etwas Nützlicheres.“
Latilia zog aus seinem Beutel eine Pi
sangfrucht und gab sie Gondru, der sie
vor sich in die Erde pflanzte. Sie wuchs
augenblicklich und trieb weitere Früchte.
Gondru gab Latilia seinerseits ein Be-
thelblatt, das dieser ebenfalls in die Erde
pflanzte. Das Blatt schlug Wurzel und
rankte sich sofort um die Lanze, die er
als Stütze in die Erde gerannt hatte.
Dann trennten sie sich und Jeder nahm
einen Vorrath von Pisang und Bethel mit,
und Gondru sagte zu Latilia: „Gib Jeder-
mann bei Dir im Süden davon!"
„Und Du thue dasselbe im Norden,“
entgegnete Latilia.
Als Latilia in sein Dorf zurückgekehrt
war, versammelte er die Einwohner um sich
und sagte ihnen, er hätte einen Kopf mit-
gebracht.
„Wo ist der Kopf?“ fragten sie ihn.
„Ich werde ihn Euch zeigen,“ versetzte
er und vertheilte Bethel unter sie: „Das
ist der Kopf, den ich mitgebracht habe.“
Gondru that dasselbe in seinem Dorfe,
und die Leute riefen im Süden wie im
Norden: „Das lasse ich mir gefallen, das sind
Köpfe, die man essen kann; wir ziehen
sie denen vor, die sich nur dazu eignen,
die Wände unserer Hütten zu schmücken.“
(Deutsch ven W. Th.)
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