Nr. 5
JUGEND
1899
Christian Wild (München).
wie das einer jungen Konfirmandin, und zweitens
war er solch ein Vollblutidealist, etwas ganz
Seltenes unter den jungen Aerzten.
Es war eine Erinnerung vom letzten Sommer,
eine äußerst ideale Erinnerung, die seiner Brust
Seufzer entpreßte und seine Stirn mit Wolken
bedeckte.
Er hatte sich damals draußen am Seestrande
eine Bodenkammer in einer Fischerhütte gemiethet,
um in vollem Ernst und ganz ungestört sich
solchen Studien widmen zu können, die keine
Kliniken und Anatomiesäle erforderten.
Aber der Fischer, dem die Hütte gehörte, hatte
eine zwanzigjährige Tochter, ein stattlich schönes
Mädchen, der richtige sogenannte Jngeborg-
Typus mit „Locken wie Gold und Augen blau",
und in diesen Augen las Eberhard Berg wäh-
rend des Sommers so eifrig, daß er nur ganz
wenig Zeit dazu hatte, in den Büchern zu lesen.
Er liebte sie wahr und innig und rein, er
liebte sie, wie ein Vollblutidealist liebt, schrieb
ihr zu Ehren Verse und hielt sich selbst Straf-
predigten, wenn er es bisweilen nicht hatte Unter-
lassen können, sie draußen im Hag aus seine
Kniee niederzuziehen und die strahlenden Augen
und leicht erbebenden Lippen zu küssen.
Sie ließ es mit kindlicher Widerstandslosig-
keit geschehen, die ihn die ganze Größe ihrer
vollkommenen Unschuld und Naivität ahnen ließ,
und sie nahm das Geld und die anderen Gaben,
die er ihr hinterließ, ohne Protest und Gewinn-
sucht, wie ein Kind Beeren oder Schiffchen an-
nimmt.
Er hatte ihr kein Gelübde gegeben, und sie
hatte keines gefordert. Wenn er sie flüsternd
fragte, ob sie ihn liebe, schmiegte sie sich nur
still an seine Brust. Sie wußte in einer be-
zaubernden Weise zu schweigen, das geliebte
Wesen, die beredter war, als alle weiblichen
Liebesworte auf Erden.
Nicht alle Vollblutidealisten bethätigen in
ihrem Leben so getreu ihre Weltanschauung, wie
er. Aber Eberhard Berg bezwang den Sturm
in seinem siedenden Blut, bot seine ganzeWillens-
krast auf, nicht „ihre Seele zu besudeln," und
machte sich schon Vorwürfe wegen eines Kusses
und einer Liebkosung.
Es war ja sein Eigen-
thum, um das er so be-
sorgt war, denn sie sollte
seine Frau werden, so wahr
cs einen Gott im Himmel
gab. Er wollte es ihr jetzt
noch nicht sagen, es sollte
ganz plötzlich kommen, wenn
der Gedanke bald ausgeführt
werden konnte; er wollte sie
nur mit dem unlösbaren
Bande der Hingebung an
sich fesseln, und er sah so
deutlich, daß er das gethan
hatte. Als sie im Herbst
beim Abschied in Thränen
ausbrach, lag sie wie eine
gebrochene Rose in seinem
Arm, und als er dann spät
im Oktober sich von den Stu-
dien losriß und hinaussuhr
und sie auf ein paar Tage
besuchte, war sie blaß ge-
worden und abgemagert aus
— Trauer um ihn.
Wie glänzten nicht ihre
Augen, als er versprach, näch-
sten Sonimer wiederzukom-
men. Dann. . . — —
Und nun war es Som-
mer! Nun war die Zeit
für ihn gekommen, zu seiner
Strandhütte zurückzukehren.
Nun ging sie draußen um-
her und wurde von Sehnsucht, von Unruhe und
Hoffnung verzehrt, ihn jetzt bald vom Deck des
Dampfboots ihr zuwinken zu sehen.
Und nun würde er nicht kommen_gar
nicht .... niemals mehr .... Und seine kleine
Strandblume würde hinwelken und sterben. Sie
gehörte nicht zu jenen Mädchen, die sich nach
einem solchen Schlage wieder aufrichten und
trösten_
Er reifte nun zu Jener, die an Bildung und
gesellschaftlicher Stellung seines Gleichen war,
z i ihr, die in einigen kurzen Wintertagen dort
oben in Nordland die Strandblume in seiner
Erinnerung völlig verblassen ließ, und er war
ja sehr, ganz unsäglich glücklich nur diese boh-
renden Selbstvorwürfe ließen ihm keine Ruhe.
Was hätte er nicht dafür gegeben, wenn er sie
niemals gesehen, wenn er sie durch das Feuer,
das er in ihrem Herzen entzündet, niemals un-
glücklich gemacht hätte, sie, die er noch vor wenigen
Monaten so lieb gehabt.
Vergebens sagte er sich selbst, nicht einer
unter tausend Männern hätte, wie er, empfunden,
alle Welt hätte über seine Schwärmerei und
überspannten Phantasien gelacht. Ihr war ja
„kein Schaden" zugesügt, er hatte kein Gelübde
gebrochen. Was half ihm das Alles, da er doch
fühlte, daß er selbst niemals zu dieser niedrigen,
rohen Anschauung herniedersteigen könnte.
So, nun ivar eingepackt, und nun nur noch
eine Stunde im Dienste der Pflicht, eine Runde
unter der Führung des Meisters in einem Hoch-
quartier des Leidens, der Gebäranstalt Gethse-
mane, wo hauptsächlich solche, die kein offizielles
Recht auf Muttersteuden hatten, doch deren
Schinerzen auskosten durften.
Der Professor begann die Runde, sprach und
demonstrirte ein paar Fälle von langwierigem
Kindbettfieber, da .... plötzlich wich alle Farbe
aus Eberhard Berg's Gesicht, und seine Füße
drohten zu versagen. Dort lag seine — Strand-
blume!
Ob sie, als die Runde zu Ende war, ein
Zeichen des Wiedererkennens gab, als sie an
ihrem Bett vorbeikamen, weiß er noch heute
nicht, nur daß er sich dann wieder allein in den
Krankensanl hineinschlich, die Wärterin hinaus-
schickte, sich auf einen Stuhl am Bett der „Strand-
blume" setzte und flüsterte:
„Eline.so muß ich Dich Wiedersehen!"
„Ja, Harr Jesses, lieber Herr Kandedat, dat
is e Elend!"
„Wer hat Dich in diese Lage gebracht?"
„Na, des Lootsen's Söhn to Hus uff de
Insel!"
„Wie .... wie lange hast Du mit ihm ver-
kehrt ?"
„Der Harr Kandedat fragen .... Jo, wir
sind gute Fremde gewesen so zwee Johre, und
dann mußt' es so unglücklich kommen, dat ik ..."
„Zwei Jahre!_Dann sind Sie jetzt also
verheirathet?"
„I na, Harr Jesses, wenn wir nur hätte hi-
rathe könne!"
Eberhard Berg strahlte plötzlich auf und fühlte
sich sichtbar erleichtert. Er hatte seine Reisekasse
bereits bei sich und es würde ihm keine Schwierig-
keit bereiten, Ersatz dafür zu bekommen, und sein
Herz floß vor Dankbarkeit gegen die Vorsehung
über.
Er leerte seine Brieftasche und sein Porte-
monnaie in ihre etwas abgemagerten Hände.
„Reicht es, Eline?"
„Jo, Harr Jessas, jo, dat gl ob' ich wohl.
Gott segne den Harrn Kandedat! Dat is, wie ik
im Sommer Joseph seggt, als er eifersüchttg
war, denn er httwte den Harrn Kandedat mit mir
im Hag gehen geseh'n! Na, na, beruh'ge Dir
man, seggt ih, denn so 'n finer Herr kömmt
niemals nich mehr to uns. Tusend Dank! Ih
kann nur nich begriepe, wie Se so frindlich sein
können!"
„Na, adieu denn, Elise!"
„Adies, adies! Und ville Dank för all Ihr«
Güte und Feindlichkeit gegen mi Arme!"
Als Herr Kandidat und künftiger vr. Eber-
hard Berg zu seiner gepackten Reisetasche nach
Hause ging, drehten sich die Leute auf der Straße
nach ihm um, denn er eilte mit elastischen
Schritten und stolzer Haltung, wie ein Trium-
phator, dahin, sein Gesicht strahlte vor Freude,
und seine Lippen und Augen lachten.
Als er die Thüre zu seinem Zimmer öffnete,
stand darin seine alte Aufwärterin. Er faßte sie,
schwang sie drei-, viermal im Kreise herum und
schrie: „Frau Grönlund, haben Sie jemals einen
glücklichen Menschen gesehen? Dann gucken Sie
mich an!"
Und als er am Abend nach Nordland ab-
dampfte, stand er erst eine Weile am Coups-
senster, dann murmelte er, halb schwärmerisch,
halb philosophisch: „Ja, ja, so ist das Leben!"
Und dann nahm er aus seiner Brieftasche
eine Photographie heraus, küßte sie zärtlich und
rief: „Aber schön und herrlich und froh, trotz
alledem!"
Mach dem Manuscrtpt übersetzt vonL. Brausewetter.)
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Christian Wild (München).
wie das einer jungen Konfirmandin, und zweitens
war er solch ein Vollblutidealist, etwas ganz
Seltenes unter den jungen Aerzten.
Es war eine Erinnerung vom letzten Sommer,
eine äußerst ideale Erinnerung, die seiner Brust
Seufzer entpreßte und seine Stirn mit Wolken
bedeckte.
Er hatte sich damals draußen am Seestrande
eine Bodenkammer in einer Fischerhütte gemiethet,
um in vollem Ernst und ganz ungestört sich
solchen Studien widmen zu können, die keine
Kliniken und Anatomiesäle erforderten.
Aber der Fischer, dem die Hütte gehörte, hatte
eine zwanzigjährige Tochter, ein stattlich schönes
Mädchen, der richtige sogenannte Jngeborg-
Typus mit „Locken wie Gold und Augen blau",
und in diesen Augen las Eberhard Berg wäh-
rend des Sommers so eifrig, daß er nur ganz
wenig Zeit dazu hatte, in den Büchern zu lesen.
Er liebte sie wahr und innig und rein, er
liebte sie, wie ein Vollblutidealist liebt, schrieb
ihr zu Ehren Verse und hielt sich selbst Straf-
predigten, wenn er es bisweilen nicht hatte Unter-
lassen können, sie draußen im Hag aus seine
Kniee niederzuziehen und die strahlenden Augen
und leicht erbebenden Lippen zu küssen.
Sie ließ es mit kindlicher Widerstandslosig-
keit geschehen, die ihn die ganze Größe ihrer
vollkommenen Unschuld und Naivität ahnen ließ,
und sie nahm das Geld und die anderen Gaben,
die er ihr hinterließ, ohne Protest und Gewinn-
sucht, wie ein Kind Beeren oder Schiffchen an-
nimmt.
Er hatte ihr kein Gelübde gegeben, und sie
hatte keines gefordert. Wenn er sie flüsternd
fragte, ob sie ihn liebe, schmiegte sie sich nur
still an seine Brust. Sie wußte in einer be-
zaubernden Weise zu schweigen, das geliebte
Wesen, die beredter war, als alle weiblichen
Liebesworte auf Erden.
Nicht alle Vollblutidealisten bethätigen in
ihrem Leben so getreu ihre Weltanschauung, wie
er. Aber Eberhard Berg bezwang den Sturm
in seinem siedenden Blut, bot seine ganzeWillens-
krast auf, nicht „ihre Seele zu besudeln," und
machte sich schon Vorwürfe wegen eines Kusses
und einer Liebkosung.
Es war ja sein Eigen-
thum, um das er so be-
sorgt war, denn sie sollte
seine Frau werden, so wahr
cs einen Gott im Himmel
gab. Er wollte es ihr jetzt
noch nicht sagen, es sollte
ganz plötzlich kommen, wenn
der Gedanke bald ausgeführt
werden konnte; er wollte sie
nur mit dem unlösbaren
Bande der Hingebung an
sich fesseln, und er sah so
deutlich, daß er das gethan
hatte. Als sie im Herbst
beim Abschied in Thränen
ausbrach, lag sie wie eine
gebrochene Rose in seinem
Arm, und als er dann spät
im Oktober sich von den Stu-
dien losriß und hinaussuhr
und sie auf ein paar Tage
besuchte, war sie blaß ge-
worden und abgemagert aus
— Trauer um ihn.
Wie glänzten nicht ihre
Augen, als er versprach, näch-
sten Sonimer wiederzukom-
men. Dann. . . — —
Und nun war es Som-
mer! Nun war die Zeit
für ihn gekommen, zu seiner
Strandhütte zurückzukehren.
Nun ging sie draußen um-
her und wurde von Sehnsucht, von Unruhe und
Hoffnung verzehrt, ihn jetzt bald vom Deck des
Dampfboots ihr zuwinken zu sehen.
Und nun würde er nicht kommen_gar
nicht .... niemals mehr .... Und seine kleine
Strandblume würde hinwelken und sterben. Sie
gehörte nicht zu jenen Mädchen, die sich nach
einem solchen Schlage wieder aufrichten und
trösten_
Er reifte nun zu Jener, die an Bildung und
gesellschaftlicher Stellung seines Gleichen war,
z i ihr, die in einigen kurzen Wintertagen dort
oben in Nordland die Strandblume in seiner
Erinnerung völlig verblassen ließ, und er war
ja sehr, ganz unsäglich glücklich nur diese boh-
renden Selbstvorwürfe ließen ihm keine Ruhe.
Was hätte er nicht dafür gegeben, wenn er sie
niemals gesehen, wenn er sie durch das Feuer,
das er in ihrem Herzen entzündet, niemals un-
glücklich gemacht hätte, sie, die er noch vor wenigen
Monaten so lieb gehabt.
Vergebens sagte er sich selbst, nicht einer
unter tausend Männern hätte, wie er, empfunden,
alle Welt hätte über seine Schwärmerei und
überspannten Phantasien gelacht. Ihr war ja
„kein Schaden" zugesügt, er hatte kein Gelübde
gebrochen. Was half ihm das Alles, da er doch
fühlte, daß er selbst niemals zu dieser niedrigen,
rohen Anschauung herniedersteigen könnte.
So, nun ivar eingepackt, und nun nur noch
eine Stunde im Dienste der Pflicht, eine Runde
unter der Führung des Meisters in einem Hoch-
quartier des Leidens, der Gebäranstalt Gethse-
mane, wo hauptsächlich solche, die kein offizielles
Recht auf Muttersteuden hatten, doch deren
Schinerzen auskosten durften.
Der Professor begann die Runde, sprach und
demonstrirte ein paar Fälle von langwierigem
Kindbettfieber, da .... plötzlich wich alle Farbe
aus Eberhard Berg's Gesicht, und seine Füße
drohten zu versagen. Dort lag seine — Strand-
blume!
Ob sie, als die Runde zu Ende war, ein
Zeichen des Wiedererkennens gab, als sie an
ihrem Bett vorbeikamen, weiß er noch heute
nicht, nur daß er sich dann wieder allein in den
Krankensanl hineinschlich, die Wärterin hinaus-
schickte, sich auf einen Stuhl am Bett der „Strand-
blume" setzte und flüsterte:
„Eline.so muß ich Dich Wiedersehen!"
„Ja, Harr Jesses, lieber Herr Kandedat, dat
is e Elend!"
„Wer hat Dich in diese Lage gebracht?"
„Na, des Lootsen's Söhn to Hus uff de
Insel!"
„Wie .... wie lange hast Du mit ihm ver-
kehrt ?"
„Der Harr Kandedat fragen .... Jo, wir
sind gute Fremde gewesen so zwee Johre, und
dann mußt' es so unglücklich kommen, dat ik ..."
„Zwei Jahre!_Dann sind Sie jetzt also
verheirathet?"
„I na, Harr Jesses, wenn wir nur hätte hi-
rathe könne!"
Eberhard Berg strahlte plötzlich auf und fühlte
sich sichtbar erleichtert. Er hatte seine Reisekasse
bereits bei sich und es würde ihm keine Schwierig-
keit bereiten, Ersatz dafür zu bekommen, und sein
Herz floß vor Dankbarkeit gegen die Vorsehung
über.
Er leerte seine Brieftasche und sein Porte-
monnaie in ihre etwas abgemagerten Hände.
„Reicht es, Eline?"
„Jo, Harr Jessas, jo, dat gl ob' ich wohl.
Gott segne den Harrn Kandedat! Dat is, wie ik
im Sommer Joseph seggt, als er eifersüchttg
war, denn er httwte den Harrn Kandedat mit mir
im Hag gehen geseh'n! Na, na, beruh'ge Dir
man, seggt ih, denn so 'n finer Herr kömmt
niemals nich mehr to uns. Tusend Dank! Ih
kann nur nich begriepe, wie Se so frindlich sein
können!"
„Na, adieu denn, Elise!"
„Adies, adies! Und ville Dank för all Ihr«
Güte und Feindlichkeit gegen mi Arme!"
Als Herr Kandidat und künftiger vr. Eber-
hard Berg zu seiner gepackten Reisetasche nach
Hause ging, drehten sich die Leute auf der Straße
nach ihm um, denn er eilte mit elastischen
Schritten und stolzer Haltung, wie ein Trium-
phator, dahin, sein Gesicht strahlte vor Freude,
und seine Lippen und Augen lachten.
Als er die Thüre zu seinem Zimmer öffnete,
stand darin seine alte Aufwärterin. Er faßte sie,
schwang sie drei-, viermal im Kreise herum und
schrie: „Frau Grönlund, haben Sie jemals einen
glücklichen Menschen gesehen? Dann gucken Sie
mich an!"
Und als er am Abend nach Nordland ab-
dampfte, stand er erst eine Weile am Coups-
senster, dann murmelte er, halb schwärmerisch,
halb philosophisch: „Ja, ja, so ist das Leben!"
Und dann nahm er aus seiner Brieftasche
eine Photographie heraus, küßte sie zärtlich und
rief: „Aber schön und herrlich und froh, trotz
alledem!"
Mach dem Manuscrtpt übersetzt vonL. Brausewetter.)
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