Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 1 (Nr. 1-26)

DOI Heft:
Nr. 6 (4. Februar 1899)
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.3778#0095

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. 6

. JUGEND -

*

1899

Momentbilder
sub specie aeternitatis

Gegensatz

Auf dem Aventin liegt eine Klosterkirche,
<3. Alessio, mit einem kleinen, dunkeln Garten,
in dem es von Jahrhunderten schweigt. S o
still kann es nur in Rom sein, wie nur die
Menschen tief und schwer und reif zu schweigen
wissen, die ebenso zu reden wußten. Vom Rande
des Gartens aus sieht man unter sich den
Tiber und unter ihm die lärmende Straße
nach 8. Paolo fuori le mura, mit der knattern-
den Trambahn, den laut spielenden Kindern,
den Foresticri niit ihren plötzlichen und eckigen
Bewegungen.

In dem Genuß dieser Stille aber liegt etwas
wie Grausamkeit, denn wir empfinden sie nur
um den Preis, daß wir auf jene Bewegung
und Hast hinunterschauen, daß aller Lärm und
Unruhe des Lebens in uns nachzittert, als
Hintergrund ihres Gegensatzes. Ist es nicht
der eigentliche Fluch alles Menschlichen, daß
wir jegliches Ding nur im Unterschiede gegen
sein Anderes genießen können? Das war das
Größte und Wunderbarste des Paradieses, daß
es seine Freuden ohne diese Bedingung bot
— wie, im ganz schwachen Nachklang, noch
das Gliick der Kinder ohne Gegensatz und Ver-
gleichung lebt. Hat nicht eben dadurch der
Sündenfall uns arrs dein Paradies vertrieben,
daß er uns Gutes und Böses erkennen lehrte,
das heißt, daß wir nun das Gute nicht mehr
für sich, in seiner selbstgenugsamen Seligkeit,
genießen können, sondern immer nur unter
der Bedingung des danebenstehenden Bösen,
nur wie einen Sieg, den es ohne einen Be-
siegten nicht geben kann? Ist nicht
auch unsern tiefsten Freuden Rein-
heit und Einheit ein unerreichbares
Ideal geworden, weil all' unser
Empfinden ein Empfinden von
Unterschieden ist? Eritis sicuthomo
«cientes bonum et malum.

Moral

Mein Junge kommt aus der
Schule, mit einer komplizirten
Miene, wie sie seinem graden Wesen
unnatürlich ist — 'etwas Selbstzu-
friedenes und zugleich Mürrisches,
etwas Trotziges und zugleich Unsich-
eres. „Was hat es gegeben, Hans?"

„Ach, die andern Jungen haben
'ne tolle Dummheit gemacht." „Die
andern Jungen? Erzähl' doch
mal." „Der eine Lehrer hat so
'ne Redensart, wenn er sich über
was ärgert: ,Da möchte man ja
gleich zusammenbrechen 1° Und dabei
tritt er immer ganz wüthend mit dem
Fuß auf. Und mm haben dieJungen
das eine Bein vom Katheder durch-
gesägt und nur ein bischen wieder
untergeschoben, nnd als er das wie-
der sagte und stark auftrat, brach er
wirklich damit zusammen." „Das
ist ja eine bodenlose Frechheit, das
wär' ja noch schöner gewesen, wenn
Du das mitgeniacht hättest." Ich
war froh, daß der Junge an dem
dummen Streich nicht betheiligt
war; aber ein wenig wunderte
ich mich doch, denn den Versuchungen
selbst zu dem derbsten Uebermuth
Pflegte er sonst nicht zu widerstehen.

Er war eine Weile still, und dann
sagte er, beinahe mit einer schaden-

frohen Miene: „Ja weißt Du, Vater, eigent-
lich hält' ich's auch ganz gern gethan, denn
ich kann den Lehrer nicht leiden; aber dann
dacht' ich mir, es wäre doch eigentlich sehr
gemein, und wenn's doch einmal geschehen
sollte, na, dann'woM'ich -wenigstens nicht mit
daran schuld sein."

Ist das nicht vielleicht eine tiefere Formel
für alle Moral, als Maudeville und Helvetius
aufgefunden haben? Gegen das böse Thun,
als eignes Thun, rhätte man gar nichts einzu-
wcnden; aber iöenn'es dann so abscheulich aus-
sieht — nein, daran möchte man doch Nicht
mit schuld sein. Die Dinge mögen noch so toll
und unmoralisch laufen, das nimmt man ruhig
hin; aber die Andern sollen es gethan haben,
die eigene Seele will man salviren. Sollte
Moral etwa auf die Schadenfreude hinaus-
laufen, daß es in der Welt frevelhaft und
drüber und drunter zngeht, und daß man da-
beistehen kann und sagen: i ch kann doch nicht
dafür, ihr seid's gewesen, meine Schuld ist
es nicht? Sollte Moral, so könnte ein Nietzsche-
aner fragen, sollte Moral etwa — Bosheit sein?

Aufenthalt

Blumengarten, Herbstmorgen. Um die halb
aufgeblähten Rosen, für Hie es keine Zukunft
mehr gibt, legt sich rostiges Braun, es läßt
seine welken Falten mit trägem Triumphe ihre
Spitze erkriechen, bis es mit ihnen stirbt. Vom
nächtlichen Regen liegen und hängen an den
grünen Blättern Wassertropfen, auf rhremWege
vom Himmel zur Erde anfgefangen und so für
eine kurze Stunde dem Schicksal des Verdnnstens-
und Versickerns entgehend. Die Sonne läßt
milde, herzliche Strahlen in ihnen spiegeln und
glänzen.

Julius Diez (München).

„Kein Alter ist ganz frei von einem

solchen Kitzel“ (Goethe)

Und so ist unsere Seele; ein Tropfen Ueber-
irdischkeit, bestimmt, sich zu verflüchtigen nnd
in die Erde zu sinken — und einen Augenblick
aufgehalten, zwischen seiner Heimat im Aether
und seinem dunkeln Vergehen schwebend, grade
laug genug, um einmal die Herrlichkeit des
Lichtes aufzusaugen, abzuspiegcln, in die Bunt-
heit aller Farben zu brechen.

Beseeltheit

In einer Gesellschaft wurde der Satz des
griechischen Dichters zitirt: „Das Beste von
Allem ist, nicht geboren zu werden." Ein
Berliner beinerkte dazu: „Aber wie Wenigen
wird das zu Theill"

Wenn die christliche Lehre Recht hat, so muß
für die Seele ihr Sein werthvoller sein, als ihr
Nichtsein, sonst würde sie nicht den Gläubigen
das ewige Leben versprechen und die Verstockten
mit Vernichtung (wenn schon nicht mit ewigen
Hüllenstrafen) bedrohen. Wenn aber das Be-
seelt-Seiu ein höheres Gut ist als das Nicht-
Beseclt-Sein — so müßte es eine Unvollkom-
menheit der Welt heißen, wäre sie an irgend
einem Punkte uubefeelt! Ucberall, wo nur
Seele sein kann, muß sie auch wirklich sein!
Ter vorlaute Berliner hat Recht: Keinem
Punkte des Seins kann die Beseeltheit vorcnt-
halten sein. Wenn cs wirklich, wie das Christen-
thum schließen läßt, das Schlimmste für eine
Seele ist, nicht zu sein, so muß die Welt, die
Schöpfung des allgnügen Gottes, ganz und
gar Seele sein. —

Es ist für mich immer eine der reinsten
Freuden gewesen, wenn sich so aus der Ober-
flächlichkeit unbedachter Worte ein Senkblei in
die Tiefen der Dinge werfen ließ und das Un-
sinnige den Rahmen für einen Sinn hergab,
von dem es sich nichts träumen
ließ. TaS ist nicht heimtückische
Ueberhebung, sondern Bescheiden-
heit. Denn darin liegt etwas wie
Trost nnd Hoffnung, daß auch
unsere Weisheit, an deren Weis-
heit wir so oft zweifeln müssen,
für einen uns verborgenen Sinn
Raum habe, den höhere Geister
freundlich deutend ihr zusprechen —
da doch bei dem Angeklagten in
dubio immer die bessere Absicht an-
gcnonimen wird-

Entsagung

Ich hatte einen Studienfreund,
der in unsern Kreisen nur „der Stoi-
ker" genannt wurde. Gewähren und
Versagen, mit denen die Natur ans
unsere Wünsche antwortet und in
deren nie schweigendem Rhythmus
das Leben, bis in seine einzelnen
Stunden hinunter, verläuft, beglei-
tete er nicht mit der Selbstverständ-
lichkeit von Freude- und Schmerz-
gefühlen, sondern jedes Verzichten-
Müssen schien ihm eine feine Lust
zu hereiten. Ich sagte ihm einmal,
er hieße eigentlich mit Unrecht der
Stoiker; er wäre vielmehr ein Epi-
kuräer, ein Epikuräer der Entsag-
ung. „Das ist nicht richtig," er-
widerte er. „So pervers fühle ich
nicht, daß ich meine Erfüllungen
in der Nicht-Erfüllung suchte. Jur
Gegentheil, ich glaube, daß ich
alles Gewinnen und Besitzen tiefer
genieße, als ihr. Aber ich kann
mich auch an dem Verzichten freuen,
weil ich cs als eine Seite des
positiven Genießens verstehe."

92
Register
Julius Diez: Kein Alter ist ganz frei..
G. S.: Momentbilder
 
Annotationen