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1899

JUGEND

Nr. 6

Erst nach vielen Jahren habe ich verstan-
den, in wie breiten Tiefen dieser kurze Satz
wurzelte. Denn cs ist nicht nur die vornehme
Verschwendung uiid lässige Großartigkeit des
Daseins, daß das Schicksal uns an unzähligen
Reizen vorüberführt, die wir doch müssen zur
Seite liegen lassen, daß unzählige Möglich-
feiteix des Genieße»? unnusgeschöpft bleiben,
unzählige Spannkräfte, sich der Welt hinzu-
geben und sie in sich aufzunehmen, niemals
gelöst werden. Sondern, dem, das wir nun
wirklich gewinnen und genießen, quillt die Fülle
seines Reizes aus jenem, ivaran wir vorüber-
gegangen sind und dessen Schatten scinTrinmph-
geleit bilden. Die Empfindungskräfte, die sich
nicht an ihren eigensten Gegenständen nnsleben
können, nähren und steigern, wie Nebenflüsse,
die anderen, die ihre Befriedigung finden. Alle
Höhe, Sammlung, Zngespitztheit eines Genusses
lebt von den Möglichkeiten anderen Genießens,
an dein wir vorübergehen, und alle Empfindung
unsers Gewinnens und Erringen? zieht ihre
Tiefe und Kraft ans der Ersparniß dessen, was
zu gewinnen und zu erringen uns versagt wird,

Reihenfolge

Kurort, eine Art Sommerkloster, in dem die
Sünden wimerlichen Epiknräerthnms abgebüßt
werden; ungefähr wie manche kirchliche Bußen
auch sind: nicht, damit nun der Stand der
Reinheit erreicht, sondern damit Platz und
Muth für neue Sünden werde. Ich höre das
Gespräch zweier Herren, deren jeder eine be-
sondere Proportion zwischen Hypochondrie und
Lüsternheit darstellt. Sie scheinen einen still-
schweigende» Vertrag auf gegenseitiges Klage-
Anhören geschlossen zu haben,

„Denken Sie, ich liebe den Käse beim Diner
so sehr und ich kann ihn hier gar nicht ver-
tragen, Ich bin ganz unglücklich," „Ja, wird
er in Ihrem Hotel vielleicht vor der Mehlspeise
gegeben? Das geschieht hier öfters, und ich
konnte es auch nicht vertragen. Jetzt esse ich
in einem Hotel, wo er nach der Mehlspeise
kommt, und da ist er sehr bekömmlich," „Richtig,
daran wird es liegen! Auf die Reihenfolge
kommt es an. Das ist ja ein llnterschied wie
Tag und Nacht. Die Reihenfolge muß daran
Schuld sein,"

Ich glaube. Jeder hat schon bemerkt, daß
die tiefsten und wesentlichsten Verhältnisse der
Tinge uns oft zuerst an einem ganz schäbigen

Hans Rossmann (München).

und ridikülen Falle bewußt werden; es ist, als
müßten sie, gleichsam die allgemeinen Formen
des Seins, sich mit einem Inhalt so sehr ab-
stechcndcn Charakters erfüllen, um erst von
diesem Gegensatz Ich abhebend ihre Wahrheit
und ihren Glanz sichtbar zu machen. Ist nicht

unser Loos, seine Gesammtheit und Schluß-
bilanz, vielleicht wirklich viel unabhängiger
von den einzelnen Gaben, Treffern und Nieten,
Erhöhungen und Abstürzen, als wir cs denken
— und viel abhängiger von der bloßen Reihen-
folge, in der wir alles dies erfahren? Be-
denken wir unsere äußeren Schicksale — wie
anders hätte jedes gewirkt, wenn es uns zu
anderer Zeit getroffen hätte! Wie anders hätte
dasselbe Leid uns entwickelt, wenn es uns zur
Zeit der vollen Kraft getroffen hätte, wo wir
noch das Leben beherrschten und noch nicht
festgewordene Formen uns wehrlos machten!
Wie viel tiefer hätte dasselbe Glück uns be>
gliickt, wenn wir cs nach den langen trüben
Jahren, statt vorher, als wir noch jugendlich
verwöhnt und übermiithig waren, erfahren
hätten! Wie anderes bedeutet uns der Besitz,
den wir uns in der Jugend wünschten, selbst
wenn wir ihn im Alter die Fülle habenI „Auf
die Reihenfolge kommt cs an!" Fast möchte
man glauben, ein blindes Fatum habe jedem
sein Päckchen von Schicksalen an Lust und
Leid mitgegeben, und ivas Engel und Teufel
an uns Ihn» könnten, sei nichts, als daß der
eine sie in die eine, der andere in die andere
Reihenfolge ordnet, und das bedeute es, daß
der eine unser Leben selig, der andere unselig
machen könne! Ob wir den Käse vor der süßen
Speise oder die Speise vor dem Käse bekom-
men — das entscheidet, ob wir das Leben

„vertragen", ertragen können oder nicht-

G. S.

Gesang des Zleliens

(Aus dem „Diogenes")

Gros; ist das Leben und reicht
Ewige Götter schenkten es uns
Lächelnder Güte voll,

Uns den Sterblichen, Freudcgefchaffrnen.

Aber arm ist des Menschen Herr!

Schnell verzagt, vergisst es der reifenden

Früchte.

Immer wieder mit leeren Händen
Sitzt der Bettler an staubiger Straße,
Drauf das Glück mit den tönenden Bädern
Leuchtend vorbeifnhr.

Otto Lrich Hartleben.

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Index
Hans Rossmann: Zierleiste
Otto Erich Hartleben: Gesang des Lebens
 
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