Nr. 8
JUGEND
1899
Zeitungsnachricht: „In parlamentarischen Kreisen und in der Presse beschäftigt man sich lebhaft mit den Vorgängen in der
Sitzung des Reichstags vom 30. Januar, in der Frhr. v. Stumm dem Admiral Tirpitz entgegentrat. Es wird als besonders
auffallend bemerkt, dass die offiziöse „Nordd. Allg. Ztg.“ sehr eifrig für Herrn v. Stumm Partei ergreift.“
Theuerste Erna!
Du weißt, wie gerne ich tanze — aber
gestern habe ich was mitgemacht, was mich
noch viel mehr amüsirt hat, wie der schönste
Ball. Mir waren auf einem U n sittlich -
keits-Eongreß, welchen der Lentrumsabge-
ordnete, der unsere Stadt im Reichstag ver-
tritt, einberufen hatte, und wo er für die
Lex Heinze gesprochen hat, von der ich
freilich noch nicht recht weiß, was sie ist, aber
Papa hat gesagt, das fei eine sittliche That.
Papa ist sehr für die Sittlichkeit, besonders
feit er die große Bausteinliefernng für die
neue Kirche bekommen hat und den Grden.
Die Versammlung — ich hatte das Grüne
an, das so ausgeschnitten ist und das Vetter
Franz so gerne hat— war furchtbar interessantI
Was ich gestern alles gelernt habe! Ich kann
es Dir gar nicht sagen, wenigstens nicht schrift-
lich! Hättest D n geglaubt, daß es solche Dinge
auf der Welt gibt? J d] gewiß nicht! Abscheu-
lich!! Aber so interessant!!
Ich habe alles sehr gut verstanden. Ls
wurde so ergreifend geredet über die Sünden-
xfühle und Lasterhöhlen der Großstadt. Selbst
die ältesten Leute, die kaum noch gehen können,
Männer und Frauen von?o, 80Jahren, weihen
sich mit heiligen, Eifer der öffentlichen Sitt-
lichkeit, ja, sie sind die ällereifrigsten und ener-
gischsten. Ls ist zu schön!
Es wurde den unsittlichen Leuten aber ge-
hörig die Wahrheit gesagt! wenn sie das zu
hören bekommen, müssen sie sich doch furchtbar
schämen! Auch über unsittliche Bücher und
Zeitschriften wurde gesprochen; ich habe mir die
Titel alle notirt und werde sie selbst studiren.
Mama merkt nichts. Man muß diese entsetz-
lichen Sachen doch kennen lernen!
Besonders auf eine Zeitschrift wurde heftig
gescholten, die in München erscheint. Denke
Dir,! Erna, darin sollen schon wiederholt völlig
unbekleidete Menschen abgebildet worden sein,
und nicht nur Männer, das ginge noch, nein,
Frauen!! Sogar unverheiratete!!! Das
abscheuliche Blatt soll noch die Ruchlosigkeit
gehabt haben, fick; damit zu entschuldigen, daß
es doch immer junge und hübsche Frauen ge-
wesen seien! O Erna, das mackst die Sache ja
nur noch furchtbarer! Auch über die Theater,
die Varietös, die Bildergalerien, die öffentlichen
Denkmäler, die Verkäufsläden, die Kinderkleid-
ung und vieles, vieles andere wurde noch sehr
abschreckend geredet. Erna! Ich mußte an die
erste Christengemeinde denken, von der es ja auch
Apostelgeschichte 4, Vers 32 heißt: „Es war
ihnen alles gemein!" Es war zu erhebend!
Leider trat auch ein Mensch auf und er-
klärte, in der Bibel wären auch kräftige Stellen
(die kennen wir ja auch alle; aber das ist doch
immer nur symbolisch gemeint!) und dieBildung
des Schönheitssinnes veredle und reinige das
Genußleben, die Heimlichkeit vergifte es da-
gegen. Ich war über die ordinären Reden
dieses Menschen doch s 0 entrüstet! Ich hätte
ihm gern zugerufen: „pfui, Sie Schwein!", wie
die Jungfrau Züs, die uns Gottfried Keller in
feinen „Kammmachern" als ein hehres Vorbild
keuscher Frauentugend hingestellt hat. Natür-
lich ließ die Versammlung den unreinen Geist
nickst ausreden.
Zuletzt sprach noch ein junger, stattlicher
Geistlicher über die Frage: „wie gewinnen
wir die Frauen für uns?" Ach Erna, wenn
Du das Grgan gehört hättest! Zu wonnigl
Dann wurde, glaub' ich, beschlossen, daß
die Regierung die Unsittlichkeit verbieten soll.
Mama wurde auch in eine Konnnisston ge-
wählt, die sich abwartend verhalten soll.
Am Ausgang wurde noch eine Broschüre
über „Die Lasterhöhlen der Großstadt", ver-
theilt, eine Art Führer durch die Sing- und
Bierhallen der Vorstadt, von denen Papa so
viele Aktien hat. Und was stand ganz hinten
auf der Broschüre?
Buchdruckerei
„Zur Läuterung der Seelen"
(mit Dampfbetrieb).
Seine Druckerei, Erna! weißt Du noch, wie
er noch Untersekundaner war und wie wir uns
iminer in den Anlagen mit ihm trafen? Hättest
Du damals gedacht, daß er ein so sroinmer Mensch
werdet: würde? Ich gewiß nickst.
Lebe wohl! Ls grüßt und küßt Dich
Deiile Mazda.
Neuestes Programm
vorn pariser Rasperle-Theacer:
„La Verite est en Marche“
Großes Teufels- und Spektakelstück in tausend Akten,
vorgeführt vom Ensemble der Grande Ration. Bis
auf weiteres täglich mehrere Vorstellungen!
Klinglingcling, teara, bum bum!
So was muß man sehen!
Hochverehrtes Publikum,
Bleib' nicht draußen stehen!
Klinglingeling, bum bum, trara!
Rein zum Eierlegen!
Unser Zugstück „Panama"
Wae ein Dreck dagegen!
Klinglingcling, die Wahrheit kommt,
Unaufhaltsam naht sic;
Als ihr Anwalt stellt sich prompt
EhrenEstcrhazy.
Kommt die Frau Justitia,
— Aber nun wird's Helle! —
Klinglingcling, bum bum, trara,
— Aber nicht zu schnelle! —
Hu I ein Phosphorlicht erglänzt!
Heulen und Gewinsel!
Fernher droht das Schreckgespenst
Don der Tcufclsinscl.
Himmelkruzibombcnschock I
Toller wird's und toller:
Picquart kriegt 'ncn steifen Grogg,
Beaurcpaire den Koller.
Aus dem Fegefeuer steigt
Henry's arme Seele
Mit dem Aktenbund und zeigt
Die durchschnitt'ne Kehle.
Joseph Reinach's Lichtgestalt
Naht für Augenblicke,
Und — kriecht in den Hinterhalt
Louragirt zurücke.
Himmclkruzibombenschock!
Ist das eine Posse! ■
picquart soff den steifen Grogg,
Bard fällt in die Gosse.
Jesuiten, Militär,
Judenvolk und Christen,
Mannsleut', wcibsleut', immer mehr,
Namentlich Juristen.
Drumont heult und Deroulede
Und der Arthur Meyer;
wo man geht und wo man steht,
playcn faule Eier.
Himmclkruzibombenschock,
Ist das ein Theater!
picquart soff den steifen Grogg,
Dupuy hat den Kater.
Und so geht das bunte Spiel
Fort in toller Reihe;
wenn der Vorhang eben siel,
Spielt man's flugs auf's neue.
Und wir lassen laut Kontrakt
Mit den Herrn Aktörcn
Täglich einen neuen Akt
Nebst den andern hören.
Klinglingeling, trara, bum bum,
Trommel und Trompeten!
Hochverehrtes Publikum,
Bitte einzutretcn!
Quasimodo
Herausgeber: Dr. GEORG HIRTH; verantwortliche- ReuDtteur: F. von OSTINI; G. HIRTH’s Kunstverlag, verantwortlich für den Inseratentheii: G. EICHMANN; sämmtlich in München.
Druck von KNORR & HIRTH, Ges. m. beseht. Haftung in München.
ALLE RECHTE VORBEHALTEN.
JUGEND
1899
Zeitungsnachricht: „In parlamentarischen Kreisen und in der Presse beschäftigt man sich lebhaft mit den Vorgängen in der
Sitzung des Reichstags vom 30. Januar, in der Frhr. v. Stumm dem Admiral Tirpitz entgegentrat. Es wird als besonders
auffallend bemerkt, dass die offiziöse „Nordd. Allg. Ztg.“ sehr eifrig für Herrn v. Stumm Partei ergreift.“
Theuerste Erna!
Du weißt, wie gerne ich tanze — aber
gestern habe ich was mitgemacht, was mich
noch viel mehr amüsirt hat, wie der schönste
Ball. Mir waren auf einem U n sittlich -
keits-Eongreß, welchen der Lentrumsabge-
ordnete, der unsere Stadt im Reichstag ver-
tritt, einberufen hatte, und wo er für die
Lex Heinze gesprochen hat, von der ich
freilich noch nicht recht weiß, was sie ist, aber
Papa hat gesagt, das fei eine sittliche That.
Papa ist sehr für die Sittlichkeit, besonders
feit er die große Bausteinliefernng für die
neue Kirche bekommen hat und den Grden.
Die Versammlung — ich hatte das Grüne
an, das so ausgeschnitten ist und das Vetter
Franz so gerne hat— war furchtbar interessantI
Was ich gestern alles gelernt habe! Ich kann
es Dir gar nicht sagen, wenigstens nicht schrift-
lich! Hättest D n geglaubt, daß es solche Dinge
auf der Welt gibt? J d] gewiß nicht! Abscheu-
lich!! Aber so interessant!!
Ich habe alles sehr gut verstanden. Ls
wurde so ergreifend geredet über die Sünden-
xfühle und Lasterhöhlen der Großstadt. Selbst
die ältesten Leute, die kaum noch gehen können,
Männer und Frauen von?o, 80Jahren, weihen
sich mit heiligen, Eifer der öffentlichen Sitt-
lichkeit, ja, sie sind die ällereifrigsten und ener-
gischsten. Ls ist zu schön!
Es wurde den unsittlichen Leuten aber ge-
hörig die Wahrheit gesagt! wenn sie das zu
hören bekommen, müssen sie sich doch furchtbar
schämen! Auch über unsittliche Bücher und
Zeitschriften wurde gesprochen; ich habe mir die
Titel alle notirt und werde sie selbst studiren.
Mama merkt nichts. Man muß diese entsetz-
lichen Sachen doch kennen lernen!
Besonders auf eine Zeitschrift wurde heftig
gescholten, die in München erscheint. Denke
Dir,! Erna, darin sollen schon wiederholt völlig
unbekleidete Menschen abgebildet worden sein,
und nicht nur Männer, das ginge noch, nein,
Frauen!! Sogar unverheiratete!!! Das
abscheuliche Blatt soll noch die Ruchlosigkeit
gehabt haben, fick; damit zu entschuldigen, daß
es doch immer junge und hübsche Frauen ge-
wesen seien! O Erna, das mackst die Sache ja
nur noch furchtbarer! Auch über die Theater,
die Varietös, die Bildergalerien, die öffentlichen
Denkmäler, die Verkäufsläden, die Kinderkleid-
ung und vieles, vieles andere wurde noch sehr
abschreckend geredet. Erna! Ich mußte an die
erste Christengemeinde denken, von der es ja auch
Apostelgeschichte 4, Vers 32 heißt: „Es war
ihnen alles gemein!" Es war zu erhebend!
Leider trat auch ein Mensch auf und er-
klärte, in der Bibel wären auch kräftige Stellen
(die kennen wir ja auch alle; aber das ist doch
immer nur symbolisch gemeint!) und dieBildung
des Schönheitssinnes veredle und reinige das
Genußleben, die Heimlichkeit vergifte es da-
gegen. Ich war über die ordinären Reden
dieses Menschen doch s 0 entrüstet! Ich hätte
ihm gern zugerufen: „pfui, Sie Schwein!", wie
die Jungfrau Züs, die uns Gottfried Keller in
feinen „Kammmachern" als ein hehres Vorbild
keuscher Frauentugend hingestellt hat. Natür-
lich ließ die Versammlung den unreinen Geist
nickst ausreden.
Zuletzt sprach noch ein junger, stattlicher
Geistlicher über die Frage: „wie gewinnen
wir die Frauen für uns?" Ach Erna, wenn
Du das Grgan gehört hättest! Zu wonnigl
Dann wurde, glaub' ich, beschlossen, daß
die Regierung die Unsittlichkeit verbieten soll.
Mama wurde auch in eine Konnnisston ge-
wählt, die sich abwartend verhalten soll.
Am Ausgang wurde noch eine Broschüre
über „Die Lasterhöhlen der Großstadt", ver-
theilt, eine Art Führer durch die Sing- und
Bierhallen der Vorstadt, von denen Papa so
viele Aktien hat. Und was stand ganz hinten
auf der Broschüre?
Buchdruckerei
„Zur Läuterung der Seelen"
(mit Dampfbetrieb).
Seine Druckerei, Erna! weißt Du noch, wie
er noch Untersekundaner war und wie wir uns
iminer in den Anlagen mit ihm trafen? Hättest
Du damals gedacht, daß er ein so sroinmer Mensch
werdet: würde? Ich gewiß nickst.
Lebe wohl! Ls grüßt und küßt Dich
Deiile Mazda.
Neuestes Programm
vorn pariser Rasperle-Theacer:
„La Verite est en Marche“
Großes Teufels- und Spektakelstück in tausend Akten,
vorgeführt vom Ensemble der Grande Ration. Bis
auf weiteres täglich mehrere Vorstellungen!
Klinglingcling, teara, bum bum!
So was muß man sehen!
Hochverehrtes Publikum,
Bleib' nicht draußen stehen!
Klinglingeling, bum bum, trara!
Rein zum Eierlegen!
Unser Zugstück „Panama"
Wae ein Dreck dagegen!
Klinglingcling, die Wahrheit kommt,
Unaufhaltsam naht sic;
Als ihr Anwalt stellt sich prompt
EhrenEstcrhazy.
Kommt die Frau Justitia,
— Aber nun wird's Helle! —
Klinglingcling, bum bum, trara,
— Aber nicht zu schnelle! —
Hu I ein Phosphorlicht erglänzt!
Heulen und Gewinsel!
Fernher droht das Schreckgespenst
Don der Tcufclsinscl.
Himmelkruzibombcnschock I
Toller wird's und toller:
Picquart kriegt 'ncn steifen Grogg,
Beaurcpaire den Koller.
Aus dem Fegefeuer steigt
Henry's arme Seele
Mit dem Aktenbund und zeigt
Die durchschnitt'ne Kehle.
Joseph Reinach's Lichtgestalt
Naht für Augenblicke,
Und — kriecht in den Hinterhalt
Louragirt zurücke.
Himmclkruzibombenschock!
Ist das eine Posse! ■
picquart soff den steifen Grogg,
Bard fällt in die Gosse.
Jesuiten, Militär,
Judenvolk und Christen,
Mannsleut', wcibsleut', immer mehr,
Namentlich Juristen.
Drumont heult und Deroulede
Und der Arthur Meyer;
wo man geht und wo man steht,
playcn faule Eier.
Himmclkruzibombenschock,
Ist das ein Theater!
picquart soff den steifen Grogg,
Dupuy hat den Kater.
Und so geht das bunte Spiel
Fort in toller Reihe;
wenn der Vorhang eben siel,
Spielt man's flugs auf's neue.
Und wir lassen laut Kontrakt
Mit den Herrn Aktörcn
Täglich einen neuen Akt
Nebst den andern hören.
Klinglingeling, trara, bum bum,
Trommel und Trompeten!
Hochverehrtes Publikum,
Bitte einzutretcn!
Quasimodo
Herausgeber: Dr. GEORG HIRTH; verantwortliche- ReuDtteur: F. von OSTINI; G. HIRTH’s Kunstverlag, verantwortlich für den Inseratentheii: G. EICHMANN; sämmtlich in München.
Druck von KNORR & HIRTH, Ges. m. beseht. Haftung in München.
ALLE RECHTE VORBEHALTEN.