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Nr. 9

JUGEND

1899

Sie haben nie vor diesen Un

IM LEBEN VON RAINER MARIA RILKE

F\er Herr Revisor ist über den Schreib-
tisch gebogen wie ein Gasarm mit
einer matten Glaskugel am Ende.

Er ist fleissig, und es ist keine Klei-
nigkeit, fleissig sein, wenn man so ein
Gegenüber hat.

Die Schreibtische haben Aufsätze
zum Glück und man kann dahinter unter-
tauchen wie hintereiner Brustwehr. Der
Revisor hat seinen kahlen Kugelkopf
ganz tief über seine Zahlen geschraubt,
so dass die Worte des Offizials darüber-
hin in die königlich-ärarische Wand-
karte „das Eisenbahnnetz von Europa“
einschlagen.

Man sieht: der junge Mensch, der
zum letzten Mal in der Kanzlei ist, hat
alle Achtung vor dem geheiligten Eigen-
thum des Staates verloren. Er erlaubt
sich Alles. Er sagt z. B. jetzt:

„— wirklich, Herr Kniemann,
lieber Strassenkehrer sein — oder —
was weiss ich, als hier so langsam
flach und staubig werden. Sehen Sie,
bitte, diese Wände — rechts, links;
wie in ein altes Buch gelegt ist
man: das vergessene Lesezeichen
des Herrn Vorgängers, der über
dieser Stelle eingeschlafen ist.“

„17,850,“ sagt der Revisor
Kniemann und weicht der Riesen-
seite des Grundbuches aus, die
beim Umblättern wie ein Segel
an ihm vorüberfährt.

„Sie wollen sagen, man bleibt

nicht immer Offizial — “ erklärt der
Anderediese Geste, „man wird Revisor,
Bureauvorstand, vielleicht sogar Inspek-
tor d. h. man wird aus einem Schmöker
in einen Goldschnittband gelegt, etwa
aus ,Der Mörder in der Kohlenkiste*
in ,das Buch der Lieder*. Aber ich sage
Ihnen: man bleibt Lesezeichen, höch-
stens, dass man nach obenhin in Be-
förderungszeiten die Aufschrift trägt:
,Vergiss mein nicht.* Danke. Ich bin
mir zu .. zu plastisch für diesen Zweck
Ich muss hinaus —“

„Ja,“ ächzt der Revisor theilnahmslos
und fängt die Reihe nochmals von unten
zu addiren an. Er hat sich verrechnet.

„Dort gibt es Morgen, Mittag und
Abend,“ schwärmt der Jüngere. „Haben
Sie das hier vielleicht? Von 8—3 haben
Sie hier, was ist das, bitte? Und was
bleibt übrig vom ganzen Tag? So ein

Rest von ein paar Metern, Ausverkauf
und herabgesetzte Preise. Es reicht zu
nichts, nicht einmal eine Weste könnte
man sich machen lassen daraus. - Aber
dort: Dort gibt es Licht und Luft, Farbe
und Freiheit, ja . . .“

„Wo?“ macht der Revisor misstrau-
isch und zählt weiter.

„Im Leben,“ prahlt der Andere.
„Junger Mensch,“ ärgert sich Herr
Kniemann und zählt weiter.

Der Offizial aber kann nicht aufhören
zu träumen. Heute ist er Dichter, Ein-
tagsdichter freilich nur: sentimental und
ein wenig altmodisch, ohne die Scham
und die Einfachheit der echten Poeten;
aber er begeistert sich an sich selbst.
Wie eine Kerze, an der Jemand einen
Liebesbrief verbrennt, ist er und träumt:
„Diese Gärten im Frühling — es hat
etwas Rührendes. Ich meine die kleinen
Hofgärten, in welche die Küchen-
fenster sehen, immer eines über dem
anderen. Ueberall singt es, in den
Bäumen und in den Fenstern, und
singt auf den Märkten und alle
Gassen entlang.

Haben Sie hier einmal etwas sin-
gen hören, Herr Revisor? Nein, sag
ich, das haben Sie nicht. — Und die
Plätze erst: da stehen steife, feier-
liche Standbilder und lauter Men-
schen herum, die sich erheben
Gedenken grosser Männer.

Bernhard Pankok (München).
Register
Rainer (René) Maria Rilke: Im Leben
Bernhard Pankok: Zierrahmen
 
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