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1899

JUGEND

Nr. 9

sterblichen gestanden, Sie haben keine
Zeit, sich erheben zu lassen.“

Dabei blickt der Offizial auf. Ueber
die gesenkte Stirn des Alten schleicht
eine dicke Fliege. Der Schädel lässt
sich das ruhig gefallen, und der gegen-
über denkt: wie todt ist er doch, und
wird ganz nervös darüber. Endlich er-
trägt er es nicht mehr:

„So jagen sie doch um Gotteswillen
wenigstens die Fliege von Ihrer Stirn!
Thun Sie mir den Gefallen!“

Herr Kniemann macht eine mechan-
ische Bewegung mit der welken gelben
Hand und rechnet: „12,473.“

Da erholt sich der Andere wieder.

Er verschwendet ein strahlendes
Lächeln:

„Und es gibt Gassen dort,Gassen ..“
Pause. „Man muss nur zu gehen wissen.
Jeden Augenblick streift ein Mädchen
vorbei, blond und licht und lächelt, als
ob man ,Du‘ sagen sollte zu ihr. Und
hinter den Fenstern — da lauern sie
ja nur so, stampfen mit den kleinen
Füssen vor Ungeduld und warten —
auf das Glück. Und man streckt sich
und denkt: ,Ich bin das Glück“ und —
da ist man’s. Kunststück! Ich sage
Ihnen, lieber Herr Kniemann, wollen
muss man, das ist Alles. Befehlen
Sie sich morgen früh, wenn Sie auf-
stehen : ich bin der Kaiser von Europa.
Sie werden sehen: Sie sinds.“

„Waaa?“ krächzt der Revisor und
wagt sich ein wenig über die Brust-
wehr. Der Andere lacht gutmüthig in
das verängstete, faltige Vogelgesicht
hinein und brüstet sich einfach:

„Ja, so ist es dort.“

Der alte Beamte ertrinkt wieder in
seinen Folianten, aber beunruhigt er-
kundigt er sich nach einer Weile doch:
„Wo?“

„Wo,“ meint der Offizial, „na, im
Leben —“

Herr Kniemann denkt: Du wirst
mir sagen; denn er hat Erfahrung.
Er hat die Blattern gehabt und den
Scharlach und konfirmirt worden ist
er auch : — also. Er lächelt überlegen,
und das ist wie ein kleines Flämmchen
am Gasarm, irgendwo mitten in seinem
Kopf. Und nun da etwas durchschim-
mern will, merkt man erst, wie ver-
staubt diese matte Glaskugel ist.

Der junge Herr drüben lässt sich
nicht irre machen. Heute gibt er sich

heraus: Gesammelte Werke. — Er fährt
also fort:

„Denken Sie an einen Sommertag.
Scheint der nicht unermesslich? Und
das ist noch gar nichts, denn der Som-
mer hat viele Tage. Und keiner ist ganz
wie der andere, jeder ist ein Wunder
für sich. Draussen sind überhaupt lau-
ter Wunder und alle sind für uns.
Wenn wir nicht hinschauen, wer kann
dafür? Wir sitzen hier und thun Ge-
scheidteres. Wir schreiben Zahlen.
„Kohlentransport im Monat Dezember“
schreiben wir, und draussen ist das

Fritz Hegenbart (München)

Leben. „Kastenwagen No. 7815“ schrei-
ben wir, und draussen ist das Glück.

Ich werde Landwirth, Bauer meinet-
wegen. Man muss nämlich etwas thun,
wovon der liebe Gott weiss. Glauben
Sie, der kann hereinsehen in diesen
dumpfen Hinterhof? Damit er sich die
Laune verdirbt für zehn Feiertage!

Und dann dürfen Sie nicht verges-
sen: Alles ist Bewegung draussen, Auf
und Ab, Hin und Her— wie ein Tanz.
Keinem schlafen die Füsse ein, keinem
wird die Brust knapp über dem Herzen.
Man sollte von uns nicht sagen: sitzende
Lebensweise; denn das ist ein Selbst-
mord und heisst höchstens: sitzende
Todesart. Und ich habe noch lange
keine Lust zu sterben. Ich habe die
Absicht, vorher noch ein paar Cigaret-
ten zu rauchen in guter Gesellschaft.
Denn dort ist (nicht wie hier) Alles er-
laubt, auch das Rauchen.“

Der Kopf des Revisors ist während
dieser Rede langsam aufgetaucht und
liegt jetzt mit vorgeschobenem Unter-
kiefer auf einer Mappe, „Akten Litera
B,“ wie ein geschmackloser Briefbe-
schwerer. Er nickt aufmerksam: „Im
Leben?“

„Im Leben,“ bestätigt der junge
Mensch ernst und hat heisse Wangen.

„Es ist ja wahr: man tappt so eine
Weile herum an der Thür, man findet
nicht gleich in’s Leben hinein. Und
dann ist es ja auch die Gefahr, dieses
Leben. Es ist eben Gipfel und Ab-
grund, Insel und Welle — Alles. Alles!
Fühlen Sie, was das heisst? Das will
sagen: Christabend, Bescheerung —
Oh man hat ja gar nicht genug Hände,
um alle Gaben zu halten, nicht genug
Augen, sie zu bewundern — überhaupt
man ist arm vor Reichthum.“

„Im Leben.“ Diesmal ohne Frage-
zeichen. Und die arme Stimme des
Alten ahmt unbewusst dem Jubel des
Anderen nach. Der Revisor staunt
selbst, wie das klingt und versucht
noch einmal vorsichtig, wie einer, der
eine Sprache lernt: „im Leben.“ •

Und der drüben sagt fast zugleich:
„im Leben.“

Durch den Zweiklang wird das Wort
stark wie ein Eid oder wie ein Gebet.

Der junge Mensch fühlt das Feier-
liche, ist auf einmal wie mitten im
Wald und ganz still. Er denkt an seine
Mutter und schaut sie so, wie sie am
Sonntag ist: in der lila Haube, ein
wenig verweint von der Predigt, aber
doch lächelnd . . .

Jetzt hat er, trotz seines blonden
Schnurrbarts, ein Kindergesicht und
sieht so treuherzig aus, dass der Re-
visor weiss: Nein, der lügt nicht.

Er wartet noch auf irgend etwas.
Aber als der Offizial schweigt, setzt er
sich behutsam, schliesst das Buch und
schaut lange auf das grosse schmutzig-
weisse Löschblatt, welches als Unter-
lage dient.

JId astra
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Fritz Hegenbarth: Ad astra
 
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