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JUGEND

1899

Nr. 12

Der ewige Michel

/Er wird immer wieder neu geboren. Das
W erhält ihn sozusagen jung, hat aber
auch die große Schattenseite, daß er immer
wieder von vorne anfangcn muß zu lernen,
die angeborne Querköpfigkeit abzulegen,
überhaupt ein vernünftiger Mensch zu wer-
den. Sonst ist er ein Prachtkerl; aber das
Ewigvonvornanfangen ist wirklich zum
Teufclholen. Darin ist ihm der ewige Jude
entschieden überlegen: als ausgelernter klu-
ger Weltgreis herumzulaufcn ist freilich auch
recht fad, aber der Mann weiß doch immer
was er will, und meistens kommt er da-
hin, wohin er zu kommen wünscht.

Diesmal, so um das Ende der 50 er
dieses nun auf die Neige gehenden Jahr-
hunderts war unser ewiger Michel wieder
heirathsfähig geworden; kaum der Kinder-
schule entwachsen, hatte er die Schinderkule
des abermaligen Zusammenbruchs aller
nationalen Hoffnungen durchgemacht und
war, vaterlandsmüde und zornentbrannt,
in die Neue Welt gegangen, zu denen
Amerikanern, wo die Freiheit nicht tropfen-
weise als Medizin gegeben, sondern in Moß-
krügen vom Faß verzapft wurde.

Das thut er gern, nämlich in's Weite
schweifen, wenn's ihm daheim ungemnth-
lich wird. Er erbaut sich dann an den
Herrlichkeiten fremder Nationen, die er an-
fangs über den Schellenkönig lobt, bis ihm
zum Hundcrtsteumale klar wird, daß er es
mit kalten Egoisten zu thun hat. Er sucht
draußen die Freiheit, die er meint, die sein
Herz erfüllt! Ja Prosit! Was nützte ihm
denen ihre Freiheit, da man ihm auf Schritt
und Tritt zu verstehe» gab: „Halt's Maul,
deutscher Michel, Mensch zweiter Klasse!"
Die unablässigen Demüthigungen ließen
ihn drüben nicht froh werden. Das Heim-
weh packte ihn gewaltig.

- Es war in der Nacht des 18. Oktober
. 1859. Er schoß und sang und weinte, dann
schlief er sachte ein. Da erschien ihm seine
hehre Schwester, dieJungfrau Germania. Sie
hatte die schwarzrothgoldene Fahne an einen
mächtigen Eichbaum gelehnt und setzte sich
nun gemüthlich zu unserem Büchel in's Gras.

„Sag' mal, lieber Michel, warum bist
Du eigentlich fo traurig? Hat Dich das
Bischen Reaktion so ganz aus Rand und
Band gebracht? Ich meine doch, an der-
lei Dummheiten könntest Du von früher
gewöhnt sein. Allerdings, da Du alle hun-
dert Jahre zwei bis dreimal neu geboren
wirst, so vergißt Du das alte Elend, und
ich muß Dir immer auf's Neue klar machen,
wie thöricht es ist, wegen solcher Lappalien
den Muth zu verlieren. In der Geschichte,
namentlich in der deutschen, und ihrer Nutz-
anwendung warst Du von jeher sehr schwach,
mein lieber Michel. Schwelgst zu sehr in
rosigen Legenden, die Dich allzu weich stim-
men; die „gute alte Zeit," die ja nur in
Deiner überreizten Phantasie existirt, nimmt
Dir die Kraft, das Ungemach der Gegen-
wart und Zukunft mit Würde zu bekämpfen."

„Aber Du kluge Schwester, woher den
Muth nehmen, wenn alle und jede Gelegen-
heit, wobei wir endlich ein angesehenes
und starkes Volk werden könnten, Einem

J. Carben (München)
„Immer höher muss ich steigen,

Immer weiter muss ich schaun.“ (Goethe)

wie Sand durch die Finger rinnt? Du
giebst mir immer gute Lehren, ich solle mich
ermannen, solle aus der Geschichte lernen
und die Stirnlocke des Jahrhunderts erfassen.
Aber wenn ich dann zufasse, — plumbs,
da habe ich die Locke in der Hand und die
Gelegenheit ist futsch. Ich bin eben ein
zerrissener und zerschlissener Mensch, ein
armer Pechvogel, der nie auf einen grünen
Zweig kommt."

„Jawohl, weil Du den vielerlei Seelen
zu sehr nachgiebst, die in Deiner Brust
wohnen. Ich habe ja nichts dawider, daß
Du frisch, frei, fröhlich und fromm, zu-
gleich ein Sänger und ein Held, ein For-
scher und ein Träumer sein willst. Behalte
nur Dein großes, leicht gerührtes Herz!
Darin bist Du allen anderen überlegen und
darum beneiden sie Dich. Aber in politischen
Dingen, siehst Du, lieber Michel, da darfst
Dtt nicht zu gleicher Zeit römisch und deutsch,
preußisch und österreichisch, fortschrittlich
und konservativ, freiheitlich und muckerisch,
republikanisch und monarchisch sein wollen.
Du stehst auf zu vielen und verschiedeit hohen
Standpunkten, denen Du bis auf's i-Tiipferl
gerecht werden willst. Kannst ja alle diese
Standpunkte begreifen, aber darfst darüber
nicht das große Eine vergessen — die deut-
sche Macht! Ohne sie keine Einigkeit, kein
Ansehen, kein Zusammenhalt, kein ehren-
voller Frieden, natürlich auch keine gemein-
same Freiheit, lim sie aber zu erreichen
und zu erhalten, da heißt's eben in man-
chen sauren Apfel beißen, und namentlich
nicht z>t viel jammern und den Beleidigten
spielen, wenn nicht gleich Alles nach Deinem
mit widersprechenden Idealen vollgepfropf-
ten Dickschädel geht."

„Schwester, Du wirst grob," sagte der
Michel, „doch ich höre Dich gern. Ich be-
wundere Deinen überlegenen Geist, aber
schau! ich weiß mir gar nicht zu helfen.
Mein Karren ist gründlich verfahren. Jeder
will was anderes. Der Bundestag ist wor-
den zur stockfinsteren Bundesnacht. Die
brennende Sehnsucht fühle ich wohl, aber
nirgends, wohin ich auch schaue, ein Licht-
blick in der Finsterniß des Jahrhunderts."

„Doch, Michel, cs tagt! Wie und wo-
her, das sage ich Dir lieber noch nicht, sonst
wirst Du mir vor der Zeit rebellisch und
machst mir am Ende gar noch einen Strich
durch die Rechnung. Ich rathe Dir gut:
Fahre mit mir nach Deutschland. Wenn
Dich unterwegs friert, kannst Du Dich in
die schwarzrothgoldene Fahne einwickeln; sie
wird so nicht mehr lange halten und sich's
gefallen lassen müssen, durch eine andre,
mit etwas Weiß, ersetzt zu werden" —

„Was sagst Du da, Schwester, eine
andre Fahne? Nein, da thne ich nicht mitl
Das wäre charakterlos, da freut mich die
ganze Geschichte nicht!"

„Hab's mir doch gedacht! Siehst Tu,
Michel, mit solchem dummen Zeug hast Du
Dir die schönsten Gelegenheiten verpaßt.
Was geht Dich die Farbe des Mantels an,
wenn er nur warm hält? Und hast
Dn's vergessen, daß der alte Fuchs Pal-
merston unsere alte Flagge als Zeichen
der Seeräuber gebrandmarkt hat? Komm
mit mir, in drei Wochen feiern sie daheim
Register
Julius Carben: Immer höher muß ich steigen
Georg Hirth: Der ewige Michel
 
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