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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 1 (Nr. 1-26)

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Nr. 21 (20. Mai 1899)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3778#0333

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Nr. 21

J UGEND

1899

Das Neueste in Humanität: Julius Diez (München)

3II Paris soll ein Hundefriedhof errichtet werdenI Für die todten Hunde wäre gesorgt; jetzt braucht
man nur noch für die lebendigen Menschen zu sorgen!

Für unser Volk nun (also vom Fürsten bis
zum Tagelöhner, nicht wahr?) ist die Dichtung
todt, in Büchern eingesargt und begraben. Die
paar Ausnahmen sind gar nicht zu rechnen. Es
kommt darauf an, die Dichtung durch den Hauch
des lebendigen Mundes zu wecken. Für das
Drama geschieht das im Theater, Allerdings:
die Dichtungen unter den Dramen sollen oft,
wie ich höre, in den Theaterarchiven liegen bleiben,
und in den aufgeführten Dramen soll zuweilen
das Dichterische gestrichen werden. Aber man
muß auch nicht alles glauben, was die Leute
sagen; die Hälfte davon ist schon genug. Fast
so nothwendig wie beim Drama ist die münd-
liche Vermittelung bei Lyrik und Novellistik,
namentlich bei jener. Für unser Volk (die Aus-
nahmen zählen nicht) sind Gedichtsammlungen
Bücher mit bunten Einbänden und dickem Papier,
das mit kurzen Zeilen von ziemlich gleicher
Länge bedruckt ist. Mehr weiß der Normal-
deutsche von solchen Büchern nicht-; denn wenn
er das wahrgenommen hat, hat er sie schon
wieder zugeklappt. So schauderhaste Bar-
baren sind aber die modernen Menschen und
speziell die modernen Deutschen nicht von
Natur, Sie haben nur nicht lesen gelernt;
sie können es aber lernen und müssen es
lernen. Und wenigstens so lauge, bis sie
selbst lesen gelernt haben, soll man ihnen vor-
lesen Wenn sie einmal ein wirkliches Gedicht
wirklich hören, so sperren sie Ohren, Mund
und Nasen aus über das, was alles darin-
steckt und daraus hervorschaut und hervor»
klingt. Es müssen nur die rechten Vor-
leser sein.

Die Zweifler an der Bildungsfähigkeit
des Publikums wollen wir auf analoge Ver-
hältnisse verweisen. Der Mediziner hört, sieht
und fühlt im Beginn seines Studiums nicht
mehr als andere Menschen; erst nach langer
Uebung, nach zahlreichen Beobachtungen ver-
mag er bei der Auskultation die leisesten Ge-
räusche der Lunge zu hören, mit einem
Blick des bloßen Auges die feinsten Abweich-
ungen vom normalen Aussehen eines Men-
schen zu erkennen. Die Taubstummen lernen
— was uns Ungeübten höchst schwierig er-
icheint — bis zu einer erstaunlichen Voll-

endung dem Sprechenden die Worte vom Munde
zu lesen. Die Sinne sind eben einer ungeheuren
Ausbildung fähig; dasselbe gilt mehr oder min-
der von allen Gehirn- und Rerveniunktionen,
Aber viel Erfahrung, viel Beobachtung muß
vorausgehen, das müssen wir uns gegenwärtig
halten, wenn wir Dichtung und Volk zu inti-
merer Berührung bringen wollen.

M, Kleiter

„Brauchen's kein Modell?"

„Sie sind ja voll Schmutz!"

„Dös is Murscht, i Hab einen schönen Rückenakt
hat der-kserr Professor g'sagt."

N6

Die schwierigste Aufgabe bei aller Kunst-
propaganda und bei den reichlich, aber meistens
schlecht betriebenen Volksunterhaltungen ist die
Gewinnung und Behauptung des richtigen Ni-
veaus, Von der einen Seile droht die Gefahr,
zu hoch zu greifen und über die Köpfe des Publi-
kums hinweg zu lesen, von der andern die nicht
minder große, sich durch das Publikum oder
durch die eigene, voreilige Erfolghascherei
auf ein unwürdiges Niveau hinabzerren zu
- lassen. Wenn das Publikum nach Hause geht
mit der Ucberzeugung: „Das ist nichts sür
uns, das ist zu hochstudiert, das ist lang-
weilig", daun ist für lange Zeit alles ver-
dorben, Man kann der Kunst nicht schlechter
dienen, als wenn man das Wort: „Für das
Volk ist das Beste gerade gut genug" dahin
versteht, daß man nun gleich das Höchste
und Schwierigste in der Kunst bieten müsse,
daß ein bedeutendes Kunstwerk unter allen
Umständen durch seine immanente Kraft und
Größe jedes Publikum überwältigen müsse.
Dieser mystische Glaube kann sehr gefährlich
werden.

Andrerseits ist es ja selbstverständlich,
daß die Kunst nicht verkürzt werden darf
um ihrer besseren Verbreitung willen. Be-
sonders daS endlose Verlangen des ungebil-
deten Haufens nach „Humor" verstehe man
nicht falsch. Man beschönigt es damit, daß
ja eben der Humor eine überlegene Betracht-
ung des Welttreibens, daß er so eigentlich
die Philosophie der Weisen sei. Aber den
tveltüberlegenen Humor versteht ja der Un-
gebildete, der Unentwickelte gar nicht. Er
lacht ja selten aus Ueberlegenheit, er lacht
ja meistens aus Dummheit, Und Dumm-
heit, die überlegen thut, ist ja gar erst ent-
setzlich, Der Ungebildete will sich gar nicht
über die Welt erheben, er will sich vor der
unangenehm großen, schwierigen, ihn be-
ängstigenden Welt „drücken", er will sie weg
lachen; er steckt den Kopf in Albernheiten
und glaubt so, den Verfolgungen des Lebens
zu entgehen. Also pflegt den Humor mit
der großen Liebe, die er verdient; aber das
Humorverlangen des großen Publikums
betrachtet euch sehr genau, eh' ihr ihm nach-
Register
Julius Diez: Hundefriedhof
Max Kleiter: Brauchen's kein Modell?
 
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