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Julius Diez (München)

wie viele Schuß Pulver ist die
Kritik wertst i

ä3f einen ? Das wäre zu wenig und nament-
lieh unhöflich. Einen ganzen? Das wäre
zu viel. Bielleicht oder manchmal nur
Es ist sehr schwer, etwas Bestimmtes da-
rüber auszusagen. Und ist das überhaupt
nöthig? Haben wir nicht schon genug an der
Kritik, brauchen wir auch noch eine Kritik
der Kritik?

Die arme Kritik! Sie hat sich da, indem
sie die Kunst dem Leben erklären will, schön
zwischen zwei Stühle gesetzt. Vor Allem hat
sie es zu Stande gebracht, daß die Beiden

— das Leben und die Kunst, sagen wir Er
und Sie — überhaupt auf verschiedenen
Stühlen sitzen. Wenn ich recht berichtet bin,
so saßen sie früher gemüthlich zusammen auf
einem Kanapee und hatten einander so lieb:
Er ei» schon nicht mehr ganz junger Lebe-
mann, aber geschont und im Vollbesitze etlicher
respektabler Johannistriebe; und sie, das holde
Mägdulein, trotz ihrer himmlischen Abstamm-
ung ein erfrischendes Naturkind mit rothen
Wangen und leuchtenden Augen. Aber alles
in Ehren, obschon es oft recht lustig war, je
nach der Zeit, der Gelegenheit und — dem Geld-
beutel. Denn es ist doch natürlich, daß im
Laufe der Jahrhunderte das Kanapee manchmal
neu gepolstert werden mußte und daß die Beiden
oft veranlaßt wurden die Kleider zu wechseln.
Es soll sogar vorgekommen sein, daß sie stellen-
weise sehr dürftig angezogeu dasaßen, und
zwar nicht etwa blos zur Zeit der alten Griechen
und Römer, sondern auch später und sogar
unter dem Krummstab. Aber wie gesagt,
alles in Ehren.

Da kam die alte Schulmeisteriu Kritik
und setzte sich auf das Kanapee zwischen die
Kunst und das Leben. Weiß der Teufel, wo-
her sie gekommen; sie war niemals jung und
muß wohl als alte Jungfer das Licht der
Welt erblickt haben. Böse Zungen sagen, sie
sei die natürliche Tochter eines deutschen Pro-
fessors und der ersten Zeitungsausträgerin.
Andere wolleir sie für eine ostwestliche Urenkelin
der Salome ausgeben, da auch ihr Emblem
in der Schüssel mit dem abgeschlagenen Haupte
besteht, nnr daß dieses nicht mehr in einer
Blut-, sondern in einer Tintenlache schwimmt.

Mit einer solchen Tintentante war natürlich
die Kanapeeherrlichkeit futsch, und so nahmen
sich die Beiden — das Leben und die Kunst

— jedes einen eigenen Stuhl. Durch diese
Trennung haben sie an Harmlosigkeit und

Frische viel eingebüßt. Er ist freudlos und
blasirt, die sonst so prächtigen Johannistriebe
versagen oft selbst auf stärkeren Anreiz. Und
sie — daß Gott erbarm'! Ein armes bleich-
süchtiges Ding, zitterig, nervös bis in die
Fingerspitzen. Nur ab und zu werfen sie sich
noch verstohlen ein Kußhändche» zu, wenn es
die Alte aus ihrem Tugendschemel nicht sieht,
oder auch, um sie ein wenig zu ärgern. Manch-
mal ist die Alte sogar über die Maßen frei-
gebig und spielt ein wenig die Gelegeuheits-
macheriu, indem sie die Liebenden zu Um-
armungen ermuntert — was natürlich die
Beiden gar nicht freut, denn wahre Liebe will
freiwillig genossen sein. Mit einem Worte,
die Alte zwischen den zwei Stühlen hat kein
Glück mit ihrer Liebespolizei und Schulmeisterei;
sie ist rechts und links sehr unbeliebt, sogar
als Tyrannin und Störenfried verhaßt. Aber
da sitzt sie nun einmal und wird wohl ewig
sitzen bleiben.

Eines Tages weinte die Kunst bitterlich.
„Es ist nicht mehr zum Aushalten," sagte sie
schluchzend; „diese böse Sieben bringt mich
noch ganz um den Verstand. Ich gebe mir
die erdenklichste Mühe, ihren fortwährend sich
steigernden, oft über's Kreuz hüpfenden An-
sprüchen zu genügen. Ich zermartere mir das
Gehirn, um neue Vorwürfe, neue Mittel und
Wege zu entdecken, — da kommt sie mit ihrer
embryonenMordenden Ben-Akibitzerei und be-
weist mir haarscharf, daß das alles schon da-
gewesen sei. Lasse ich aber mein Herzblut in
die Arbeit fließen, so nennt sie das falsche Be-
geisterung, krankhafte Phantasie, hohles Pathos
u. s. w. Wenn sie doch wenigstens ihren Tadel
in menschenfreundliche und höfliche Worte klei-
den wollte; aber nein sie ist grausam, wie die
Inquisition. Ich leide an Schlaflosigkeit. Dazu
die Nahrungssorgen, der Konkurrenzneid, die un-
sichere flaue Zurückhaltung des Publikums."—

„Na höre mal", sagte das Leben, „das
kannst Du mir nicht verdenken. Als gebildeter
Mensch liest man doch mehrere Zeitungen,
und da schreibt denn eine jede anders. Was
von der einen in den Himmel gehoben wird, er-
scheint in der anderen unkünstlerisch, schief, imi-
tirt und dergleichen. Neulich las ich im „Pforz-
heimer Beobachter", daß das neue Stück mei-
nes Freundes Pimpelhuber au sich vorzüglich
sei, aber durch eine miserable Aufführung allen
Reiz eingebüßt habe, wogegen der „Hinkende
Bote für Pforzheim und Umgegend" umgekehrt
das Stück literarisch werthlos nannte und ben
leider unleugbaren „äußeren Erfolg" lediglich
auf das Konto der Mimen setzte. So wogen
die Urtheile hin und her; Theater, Kunstaus-

stellung, Konzertsaal kann ich nicht betreten,
ohne eine Kollision meines Genusses mit den
widersprechenden Kritiken zu befürchten, die ich
am nächsten Tage lesen werde. Habe ich sie
gar vorher gelesen, dann komme ich mir vollends
elend vor. Dann leide ich au einem kritischem
Kopf- und Bauchweh, das mir alle Freude
nimmt. In einem solchen Anfall von Zeitungs-
Seekrankheit habe ich neulich versucht, beim
„Hinkenden" gegentheilige Ansichten in einem
unmaßgeblichen „Eingesandt" anzubringen, da
bin ich aber schön angekommen! Im Vergleich
mit der unfehlbaren Schwärze der Drucker-
schwärze erscheint nämlich jedes andere schwär-
zeste Schwarz nur wie ein armer Waisenknabe.
In der Unfehlbarkeit haben die Rezensenten den
Papst um verschiedene Pferdelängen geschlagen,
und ihre Zahl ist groß! Sei mir nicht böse, liebe
Kunst, ich bin wirklich ganz rathlos; ich liebe
Dich, mich reizt Deine schöne Gestalt, aber theils
bin ich zu dumm, theils bin ich zu alt."

Während dieses Dialogs zwischen der Kunst
und dem Leben saß die Kritik sehr unruhig
auf ihrem Schemel. Sie drehte den Kopf oft
nach rechts und links, vorwärts und rückwärts,
immer mit großer Wuptizitüt, so ähnlich wie die
großen Automateumenschen int Thöatre variöte.
Dabei machte sie sehr wunderliche Gesichter, schloß
die Augen, lächelte unheimlich und fächelte mit
einem japanischen Fächer gegen den Wind.

„Lauter dummes Zeug," sagte sie daun mit
schriller Stimme. „Bon der Bedeutung der
Presse und der Kritik habt Ihr ja gar keine
blasse Ahnung, obschon Ihr ohne sie iricht leben
könnt. Nehmen wir an, ich würde streiken, —
würdet Ihr nicht Beide alsbald nach mir rufen,
wie der Hirsch nach dem Wasser? Was seid Ihr
ohne mich? Dich, Du kleine ehemals so wilde
Hummel ijie meinte die Kunst), muß ich täg-
lich mit der Nase auf meine ewigen Gesetze des
künstlerischen Schaffens stoßen, vor lleberhebuug
und Entartung warnen. Ohne mich verkaufst
Du keine Bilder, keine Bücher, keine Theater-
und Konzertbillets. Und was Dich anbelaugt,
werthes Leben, euphemistisch auch Publikum
genannt, so bewahre ich Dich mütterlich vor
Unwissenheit und Schaden; ich liefere Dir die
solide Basis für Deine Kuustbegeisterung, ohne
daß Du Dich dabei durch eigenes Grübeln in
weitere Unkosten zu stürzen brauchst. So bin
ich Euch Hebamme, Kindsmagd und Beicht-
vater in einer Person, gleichviel, ob ich als
weiser Jude oder als unkluger Christ auftrete.
Ihr selbst wollt ja geleitet, belehrt und ge-
lobt sein, und was Euch irgendwie genirt, das
wollt Ihr getadelt sehen; geht aber nicht Alles
nach Wunsch, dann jammert Ihr über die böse

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Julius Diez: Kritik
Georg Hirth: Wieviele Schuß Pulver ist die Kritik werth?
 
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