Nr. 25
JUGEND
1899
Iphigenie: Ludwig Roders f
»»Heraus in eure Schatten, rege Wipfel
Des alten, heil'gen dichtbelaubten Haines,
Wie in der Göttin stilles Heiligthum,-
Tret’ ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,
Als wenn ich sie zum erstenmal beträte,
Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.“
Hm Meg sass eine Bettlerin;
Bans warf ihr einen Pfennig hin
Und war im innersten 6emiitbe
Gerührt von seiner grossen Güte.
Gleichzeitig kam ein andrer Mann;
Der sah das Bettelweib nicht an
tlnd ging vorüber stumm und kühl.
Das mehrte Bausens Stolj beträchtlich:
Gr selbst so gut und voll Gefühl
Und jener Hndre so verächtlich!
Kur Gins blieb Bans dabei verborgen :
Der Mann, der still vorbeigeschwenkt,
Del hatte schon am selben Morgen
Das Meib mit einer Mark beschenkt.
Ludwig Fulda
1-V IWtö
RADE-UJ
Die Freundin und das Zchäfchen
Von Lurt Martens
AAur selten noch und wählerisch nahm Fräu-
lein Anna Böckh Einladungen ans der
ersten Gesellschaft an. Seit sie die Dreißig über-
schritten, kaut sie sich auf den Bällen, den thes
dansants, den Sommerfesten und Schlittenpartien
überflüssiger denn je Vor; und abgesehen davon,
daß sie es endlich satt hatte, unter Qualen der
Langeweile Stunden hindurch vergnügt zu er-
scheinen, wußte sie auch, daß man sie nicht ein-
mal mehr als Dekorationsstück verwendbar fand.
Um so enger schloß sie sich jetzt den Kreisen,der
Studentinnen, der Boheme und der Künstler an,
besuchte deren Kneipen und die Mansarden, in
denen Ideen und Systeme ausgebrütet werden,
wo Geist und Dialektik hoch im Werthe stehen,
kurz wo Anna Böckh verstanden wurde. Auch in
den litterarischen Salons schätzte man ihre Kennt-
nisse, ihren scharfen Blick und den Witz, mit dem
sie alles unfreie und beschränkte Wesen verfolgte.
Gleichwohl hatte sie dies Mal für das Diner
der Generalin zugesagt, weil sie hörte, daß auch
ihr alter Freund Frank Larisch kommen werde.
Der ließ sich schon gar nicht mehr sehen. Wenn
er nicht in Kairo oder an den Lofoten spazieren
ging, vergrub er sich in den Bibliotheken oder
gar auf seinem weltfremden Gut dort in der
Pfalz.- Ein paar Mal wohl war sie ihm diesen
Winter begegnet, bei den Premiören, im philo-
sophischen Praktikum und zuletzt noch in einer
Versammlung, wo er selbst gesprochen hatte.
Doch das war stets» nur flüchtig gewesen. Früher
dagegen — wie oft, mit welcher Unermüdlichkeit
hatten sie da ihre Gedanken und Erfahrungen
ausgetauscht! Ja, es war vorgekommen, daß
sie ihm nachreiste, um irgend eine Frage mit
ihm zu erledigen. Vor zehn Jahren hatten sie
sich in der Universität kennen gelernt und eine
säst vollständige Uebereinstimmung ihrer Ansichten
konstntirt. Beide standen damals in jener Periode
einer Opposition aus Grundsatz, der frühreife
Köpfe sich nm so leidenschaftlicher hinzugeben
pflegen, je plötzlicher und klarer das Weltbild
sich vor ihnen aufrollt. Gemeinsam übten sie
Grimm und Hohn an den nichtswürdigen Er-
scheinungen des sozialen Lebens; gemeinsam
lenkten sie allmählich in gemäßigtere Bahnen
ein, ohne doch je sich anders zu vereinen als
auf den Höhen des abstrakten Denkens. Des-
halb waren sie auch, zu Anna Böckhs Bedauern,
nie dazu gelangt, ihre höchstpersönlichen, sozu-
sagen ihre physiologischen Erlebnisse vor ein-
ander zu erörtern. Anna Böckh war oft nahe
daran gewesen, Bekenntnisse abzulegen oder
ihrem Freunde zu entlocken; indes hielt sie noch
immer ein ihr selbst unbegreiflicher Ueberrest
von Prüderie hiervon zurück. —
Erfülltes Achmeiyen
tHenn Du Diu in DufS und Dunkel
TTammpi die reichen, krausen Haare,
Isti's, als ob ein blau (Zefunkel
^nifiernd Din vom Haupke fahre.
<Ind ich spure scheue Monnr:
Mir uns ~TTräfle groß umwinden,
Die an ^ages lirüber ^aune
(Hel! nnd Iieuke nie erfinden —
ÖXi« des Haares blancr HnuKeu
lieb! im Dliel; nnd Aug der Seelen —
ÖJCie der (Ieifi so ^ll-versnnken,
ftöfrnn die Mesen sich vermählen —
Mir der Muuderkreis der (DZchlie
TJCns gereift! Hali zur Erwarmung
Achd im ^hnmigsfefi! der Hächlie
j§{ill vollendeli znr TTmattmnng.
Offo (Hch Hsrklekou
&
Parabel
JUGEND
1899
Iphigenie: Ludwig Roders f
»»Heraus in eure Schatten, rege Wipfel
Des alten, heil'gen dichtbelaubten Haines,
Wie in der Göttin stilles Heiligthum,-
Tret’ ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,
Als wenn ich sie zum erstenmal beträte,
Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.“
Hm Meg sass eine Bettlerin;
Bans warf ihr einen Pfennig hin
Und war im innersten 6emiitbe
Gerührt von seiner grossen Güte.
Gleichzeitig kam ein andrer Mann;
Der sah das Bettelweib nicht an
tlnd ging vorüber stumm und kühl.
Das mehrte Bausens Stolj beträchtlich:
Gr selbst so gut und voll Gefühl
Und jener Hndre so verächtlich!
Kur Gins blieb Bans dabei verborgen :
Der Mann, der still vorbeigeschwenkt,
Del hatte schon am selben Morgen
Das Meib mit einer Mark beschenkt.
Ludwig Fulda
1-V IWtö
RADE-UJ
Die Freundin und das Zchäfchen
Von Lurt Martens
AAur selten noch und wählerisch nahm Fräu-
lein Anna Böckh Einladungen ans der
ersten Gesellschaft an. Seit sie die Dreißig über-
schritten, kaut sie sich auf den Bällen, den thes
dansants, den Sommerfesten und Schlittenpartien
überflüssiger denn je Vor; und abgesehen davon,
daß sie es endlich satt hatte, unter Qualen der
Langeweile Stunden hindurch vergnügt zu er-
scheinen, wußte sie auch, daß man sie nicht ein-
mal mehr als Dekorationsstück verwendbar fand.
Um so enger schloß sie sich jetzt den Kreisen,der
Studentinnen, der Boheme und der Künstler an,
besuchte deren Kneipen und die Mansarden, in
denen Ideen und Systeme ausgebrütet werden,
wo Geist und Dialektik hoch im Werthe stehen,
kurz wo Anna Böckh verstanden wurde. Auch in
den litterarischen Salons schätzte man ihre Kennt-
nisse, ihren scharfen Blick und den Witz, mit dem
sie alles unfreie und beschränkte Wesen verfolgte.
Gleichwohl hatte sie dies Mal für das Diner
der Generalin zugesagt, weil sie hörte, daß auch
ihr alter Freund Frank Larisch kommen werde.
Der ließ sich schon gar nicht mehr sehen. Wenn
er nicht in Kairo oder an den Lofoten spazieren
ging, vergrub er sich in den Bibliotheken oder
gar auf seinem weltfremden Gut dort in der
Pfalz.- Ein paar Mal wohl war sie ihm diesen
Winter begegnet, bei den Premiören, im philo-
sophischen Praktikum und zuletzt noch in einer
Versammlung, wo er selbst gesprochen hatte.
Doch das war stets» nur flüchtig gewesen. Früher
dagegen — wie oft, mit welcher Unermüdlichkeit
hatten sie da ihre Gedanken und Erfahrungen
ausgetauscht! Ja, es war vorgekommen, daß
sie ihm nachreiste, um irgend eine Frage mit
ihm zu erledigen. Vor zehn Jahren hatten sie
sich in der Universität kennen gelernt und eine
säst vollständige Uebereinstimmung ihrer Ansichten
konstntirt. Beide standen damals in jener Periode
einer Opposition aus Grundsatz, der frühreife
Köpfe sich nm so leidenschaftlicher hinzugeben
pflegen, je plötzlicher und klarer das Weltbild
sich vor ihnen aufrollt. Gemeinsam übten sie
Grimm und Hohn an den nichtswürdigen Er-
scheinungen des sozialen Lebens; gemeinsam
lenkten sie allmählich in gemäßigtere Bahnen
ein, ohne doch je sich anders zu vereinen als
auf den Höhen des abstrakten Denkens. Des-
halb waren sie auch, zu Anna Böckhs Bedauern,
nie dazu gelangt, ihre höchstpersönlichen, sozu-
sagen ihre physiologischen Erlebnisse vor ein-
ander zu erörtern. Anna Böckh war oft nahe
daran gewesen, Bekenntnisse abzulegen oder
ihrem Freunde zu entlocken; indes hielt sie noch
immer ein ihr selbst unbegreiflicher Ueberrest
von Prüderie hiervon zurück. —
Erfülltes Achmeiyen
tHenn Du Diu in DufS und Dunkel
TTammpi die reichen, krausen Haare,
Isti's, als ob ein blau (Zefunkel
^nifiernd Din vom Haupke fahre.
<Ind ich spure scheue Monnr:
Mir uns ~TTräfle groß umwinden,
Die an ^ages lirüber ^aune
(Hel! nnd Iieuke nie erfinden —
ÖXi« des Haares blancr HnuKeu
lieb! im Dliel; nnd Aug der Seelen —
ÖJCie der (Ieifi so ^ll-versnnken,
ftöfrnn die Mesen sich vermählen —
Mir der Muuderkreis der (DZchlie
TJCns gereift! Hali zur Erwarmung
Achd im ^hnmigsfefi! der Hächlie
j§{ill vollendeli znr TTmattmnng.
Offo (Hch Hsrklekou
&
Parabel