Nr. 25
JUGEND
1899
N/^iisi irr
JDer da gerne über die Verderbt-
heit der neuen Zeit jammert, mag
an der letztgewordenen Modo seine
Helle Freude haben. Selten oder nie
noch waren die Formen des Frauen-
körpers so nachdrücklich ausgeprägt,
nie ist der Stoff so unpraktisch zcr-
schnitzelt worden, als bei den moder-
ne», durchbrochen gearbeiteten, über-
all zertheilten Kleidern, sind kostspie-
ligere Ausstattungen und Schneiderkünste ge-
bräuchlich gewesen, als im Augenblick. Um das
Sündenmaß voll zu machen, wogt all der
oben abgckargte Stoff in eigenartigen Wclleu-
falten als ringsuinher reichende Schleppe am
Boden herum. Die Kostbarkeit dieser Utode ist
dem ungeschulten Auge fast unentdeckbar; es
sieht alles im Ganzen so schlicht, so unscheinbar
aus, und gerade darin liegt das äußerste Raf-
sinement der gutgekleideten Frau von heute.
Der kjauptbestandtheil der kostspieligen Eleganz
ist überhaupt unsichtbar, aber das, Rauschen
und Knistern der seidenen Unterkleidung vcr-
räth Alles, nur nicht, ob die Dauic noch die
althergebrachten intimen Dessous oder nur ein
schwarz-seidenes Radfahrbcinkleid trägt, denn
diesfalls wird die seidene Unterjupe zu einem
Bestaudtheil der Robe selbst, deren trtoff daun
nur als loser Theil leicht darüberfällt. Eine
Fülle seidener, reichbcsetzter Rüschen und Vo-
lants, von außen und innen, geben den über-
einander fallenden Rändern dieser mächtig er-
weiterten Rocktheile Stütze und Fülle nach
unten, während der Vberthcil, anpasscud wie
eitle Taille gearbeitet, die Gestalt bis zum Knie
eng umschließt. Rückwärts ist der Rock ohne
jede Naht glatt übergespannt und schließt vorne
seitlich mit Knöpfen. Dieses Prinzip ist das
einzig feststehende; sollst gelten in der aller-
jüngsten Damenmode die neuen kunstgewerb-
lichen Grundsätze für Wohnungseinrichtung,
die da lauten: Jeder Mensch trägt in seiner Seele
die Sehnsucht nach einer gewissen Linie, nach
eincin Farbenaccord, den er aber selbst liicht
zu Tage zu fördern im Stande ist. Er braucht
einen seelisch gleichgestiminten Künstler dazu,
den es irgendwo auf Erden geben muß, damit
dieser die Geschichte herausbringcn kann. Der
muß die gefundene Seelenlinie auf Stuhlbeine
und Tischplatten übertragen — die dann häufig
dementsprechend ausschanen — und nur in
dieser Umgebung kann der Betreffende sich
wahrhaft glücklich fühlen, weil jene Stuhlbeine
sein Ich bedeuten. Diese neue Lehre von der
Individualität ist cs nun, was die neue Ele-
ganz ausmacht. Auch der Schneider soll jetzt
die „Linie" seiner Kundschaft suchen und sie
nicht nur illl Schnitt, sondern hauptsächlich in
dein Flächenornament ansdrücken, in das sich
die ganzen Toilettenbesätze
aufznlösen fdjcineit, in den
Eueren der Tunika, des Rock-
alisatzes, der Revers oder der
in merkwürdigen Schweif-
ungen ausgeschnittenen vordertheile, ohne jeden
Scherz ein Stück Arbeit für den Kunstgewcrbe-
zeichner. Die Individualität muß tu Farbcn-
combination, im Ausputz mit dem oft wider-
sinnigsten Material, in zahllosen Details sich
geltend machen, mit anderen Worten, es soll
keine zwei ähnlichen Kleider geben, wie es
keine zwei ganz gleichen Gesichter gibt. Selbst
die englischen Jackcncostüme und lhemdcn-
blousen, diese uniforme Unerläßlichkeit jeder
Dmuentoilctte, müssen durch irgend einen ganz
speziellen Schneidertrie, den man aber beileibe
nicht auf den ersten Blick merken darf, sich
von der Menge unterscheiden.
Der Unbefangene freilich sieht von Allcdenr
nichts weiter als eine Art Mnmienbindcn, in
denen sich manche Damen, zwischen beit Falten
ihrer Schleppe watend, auf schier unbegreifliche
Weise fortbewegcn. Dabei muß man aber zu-
geben, wir stehen wieder einmal auf dem schä-
tzenswertsten Standpunkt einer ausgesprochenen
Modcform — keine vagen Uebcrgangsversuche,
bei denen man beständig fragt: was soll nun
werden? Pente darf man sagen: So ist es
modern. Und so scharf charakteristisch gehört
es sich auch an einer Iahrhundertswende. Die
Modeubildcr von Z8°>y—zgno sollen ja in tau
send Jahren noch kulturhistorische Bedeutung
haben.
Das Hübscheste vott allem ist die Sommer-
hutmode. Das ist kühn, reizvoll, farbig und
doch nicht unangenehm grell, wirklich voll
Phantasie und Geschmack. Bunt leuchtender
Sammt, prächtige Blumen, lange, kcckgebogenc
Wildschützenfedern überall mitten durch, die
anmuthig leicht geschwungenen Formen in die
Stirn oder aufs Haar gerückt oder seitlich ba-
lanzirend, wie es gerade kleidet, ohne irgend-
welche Zwangsvorschrift, und doch etwas Ein-
heitliches, ein unverkennbarer Styl in allem.
Spitzen oder Tüll, mit gewissermaßen nur sym-
bolisch wirkenden Strohborten hie und da, sind
oftmals die ganze Grundform. Lauter neue
Blumcuartcn werden als berechtigter Hutschmuck
herbcigezogen — vollständig nach dem erhabenen
Beispiel der neuzeitlichen (Ornamentik. Azaleen,
violett und wcißscheckige Petunien, Johannis
beerbüschel und — natürlich! — Lilie und
Iris, wie sollten sie auch nicht! Große graue
oder schwarze fjiitc, mit langen Straußfedern
gedeckt, Bindeschärxen von Tüll mit mächtigen
Kinnschlcifen, das alles bekrönt die japanestsch
hochfrisirten Köpfchen der schwankend dünnen
Blumenstengel, als die sich unsere Damen dar-
zustcllcn lieben, wenn sich kein körperliches
Hinderniß dieser Absicht entgegenstellt.
Die sommerlichen Gewänder, auch Wolle
und Seide, sind alle transparent, hauchdünn,
auf durchscheineude Taffetunterkleider berechnet.
Ecru und weißer Glasbattist, buntblumiger
Grgandy und namentlich Spitzenstoff, als höchste
Hauptsache, bis zur Unerschwinglichkeit echt oder
bis zur Unleidlichkeit ordinär imitirt. Die Wasch-
stoffe dagegen sind jetzt in dieser verkehrten
Welt nur schwerste russische Leinwand und
bretterdickes Englischleder, meist für im Teure
masculin gearbeitete Jäckchen - Eostüme und
Figaros berechnet, aber dafür in den grellsten
und zartesten Blumcnfarben vorhanden, die
sich, um nur ja die moderne Intimität zwischen
Damcutoilette und bildender Kunst zu betonen,
gerne „Pastellfarben" heißen lassen. Jedenfalls
lautet das höchste Eompliment, das heute einer
Wienerin gemacht wird, sie sehe ganz secessio-
nistisch aus, oder wie aus der „Jugend" heraus
— die wahrscheinlich ein gut Theil der Rich
tungnahme unserer Damen auf dem Gewissen
haben dürfte.
Natalie Bruck-Aufienberg
(lüicn)
Arthur Hirth (München)
400
JUGEND
1899
N/^iisi irr
JDer da gerne über die Verderbt-
heit der neuen Zeit jammert, mag
an der letztgewordenen Modo seine
Helle Freude haben. Selten oder nie
noch waren die Formen des Frauen-
körpers so nachdrücklich ausgeprägt,
nie ist der Stoff so unpraktisch zcr-
schnitzelt worden, als bei den moder-
ne», durchbrochen gearbeiteten, über-
all zertheilten Kleidern, sind kostspie-
ligere Ausstattungen und Schneiderkünste ge-
bräuchlich gewesen, als im Augenblick. Um das
Sündenmaß voll zu machen, wogt all der
oben abgckargte Stoff in eigenartigen Wclleu-
falten als ringsuinher reichende Schleppe am
Boden herum. Die Kostbarkeit dieser Utode ist
dem ungeschulten Auge fast unentdeckbar; es
sieht alles im Ganzen so schlicht, so unscheinbar
aus, und gerade darin liegt das äußerste Raf-
sinement der gutgekleideten Frau von heute.
Der kjauptbestandtheil der kostspieligen Eleganz
ist überhaupt unsichtbar, aber das, Rauschen
und Knistern der seidenen Unterkleidung vcr-
räth Alles, nur nicht, ob die Dauic noch die
althergebrachten intimen Dessous oder nur ein
schwarz-seidenes Radfahrbcinkleid trägt, denn
diesfalls wird die seidene Unterjupe zu einem
Bestaudtheil der Robe selbst, deren trtoff daun
nur als loser Theil leicht darüberfällt. Eine
Fülle seidener, reichbcsetzter Rüschen und Vo-
lants, von außen und innen, geben den über-
einander fallenden Rändern dieser mächtig er-
weiterten Rocktheile Stütze und Fülle nach
unten, während der Vberthcil, anpasscud wie
eitle Taille gearbeitet, die Gestalt bis zum Knie
eng umschließt. Rückwärts ist der Rock ohne
jede Naht glatt übergespannt und schließt vorne
seitlich mit Knöpfen. Dieses Prinzip ist das
einzig feststehende; sollst gelten in der aller-
jüngsten Damenmode die neuen kunstgewerb-
lichen Grundsätze für Wohnungseinrichtung,
die da lauten: Jeder Mensch trägt in seiner Seele
die Sehnsucht nach einer gewissen Linie, nach
eincin Farbenaccord, den er aber selbst liicht
zu Tage zu fördern im Stande ist. Er braucht
einen seelisch gleichgestiminten Künstler dazu,
den es irgendwo auf Erden geben muß, damit
dieser die Geschichte herausbringcn kann. Der
muß die gefundene Seelenlinie auf Stuhlbeine
und Tischplatten übertragen — die dann häufig
dementsprechend ausschanen — und nur in
dieser Umgebung kann der Betreffende sich
wahrhaft glücklich fühlen, weil jene Stuhlbeine
sein Ich bedeuten. Diese neue Lehre von der
Individualität ist cs nun, was die neue Ele-
ganz ausmacht. Auch der Schneider soll jetzt
die „Linie" seiner Kundschaft suchen und sie
nicht nur illl Schnitt, sondern hauptsächlich in
dein Flächenornament ansdrücken, in das sich
die ganzen Toilettenbesätze
aufznlösen fdjcineit, in den
Eueren der Tunika, des Rock-
alisatzes, der Revers oder der
in merkwürdigen Schweif-
ungen ausgeschnittenen vordertheile, ohne jeden
Scherz ein Stück Arbeit für den Kunstgewcrbe-
zeichner. Die Individualität muß tu Farbcn-
combination, im Ausputz mit dem oft wider-
sinnigsten Material, in zahllosen Details sich
geltend machen, mit anderen Worten, es soll
keine zwei ähnlichen Kleider geben, wie es
keine zwei ganz gleichen Gesichter gibt. Selbst
die englischen Jackcncostüme und lhemdcn-
blousen, diese uniforme Unerläßlichkeit jeder
Dmuentoilctte, müssen durch irgend einen ganz
speziellen Schneidertrie, den man aber beileibe
nicht auf den ersten Blick merken darf, sich
von der Menge unterscheiden.
Der Unbefangene freilich sieht von Allcdenr
nichts weiter als eine Art Mnmienbindcn, in
denen sich manche Damen, zwischen beit Falten
ihrer Schleppe watend, auf schier unbegreifliche
Weise fortbewegcn. Dabei muß man aber zu-
geben, wir stehen wieder einmal auf dem schä-
tzenswertsten Standpunkt einer ausgesprochenen
Modcform — keine vagen Uebcrgangsversuche,
bei denen man beständig fragt: was soll nun
werden? Pente darf man sagen: So ist es
modern. Und so scharf charakteristisch gehört
es sich auch an einer Iahrhundertswende. Die
Modeubildcr von Z8°>y—zgno sollen ja in tau
send Jahren noch kulturhistorische Bedeutung
haben.
Das Hübscheste vott allem ist die Sommer-
hutmode. Das ist kühn, reizvoll, farbig und
doch nicht unangenehm grell, wirklich voll
Phantasie und Geschmack. Bunt leuchtender
Sammt, prächtige Blumen, lange, kcckgebogenc
Wildschützenfedern überall mitten durch, die
anmuthig leicht geschwungenen Formen in die
Stirn oder aufs Haar gerückt oder seitlich ba-
lanzirend, wie es gerade kleidet, ohne irgend-
welche Zwangsvorschrift, und doch etwas Ein-
heitliches, ein unverkennbarer Styl in allem.
Spitzen oder Tüll, mit gewissermaßen nur sym-
bolisch wirkenden Strohborten hie und da, sind
oftmals die ganze Grundform. Lauter neue
Blumcuartcn werden als berechtigter Hutschmuck
herbcigezogen — vollständig nach dem erhabenen
Beispiel der neuzeitlichen (Ornamentik. Azaleen,
violett und wcißscheckige Petunien, Johannis
beerbüschel und — natürlich! — Lilie und
Iris, wie sollten sie auch nicht! Große graue
oder schwarze fjiitc, mit langen Straußfedern
gedeckt, Bindeschärxen von Tüll mit mächtigen
Kinnschlcifen, das alles bekrönt die japanestsch
hochfrisirten Köpfchen der schwankend dünnen
Blumenstengel, als die sich unsere Damen dar-
zustcllcn lieben, wenn sich kein körperliches
Hinderniß dieser Absicht entgegenstellt.
Die sommerlichen Gewänder, auch Wolle
und Seide, sind alle transparent, hauchdünn,
auf durchscheineude Taffetunterkleider berechnet.
Ecru und weißer Glasbattist, buntblumiger
Grgandy und namentlich Spitzenstoff, als höchste
Hauptsache, bis zur Unerschwinglichkeit echt oder
bis zur Unleidlichkeit ordinär imitirt. Die Wasch-
stoffe dagegen sind jetzt in dieser verkehrten
Welt nur schwerste russische Leinwand und
bretterdickes Englischleder, meist für im Teure
masculin gearbeitete Jäckchen - Eostüme und
Figaros berechnet, aber dafür in den grellsten
und zartesten Blumcnfarben vorhanden, die
sich, um nur ja die moderne Intimität zwischen
Damcutoilette und bildender Kunst zu betonen,
gerne „Pastellfarben" heißen lassen. Jedenfalls
lautet das höchste Eompliment, das heute einer
Wienerin gemacht wird, sie sehe ganz secessio-
nistisch aus, oder wie aus der „Jugend" heraus
— die wahrscheinlich ein gut Theil der Rich
tungnahme unserer Damen auf dem Gewissen
haben dürfte.
Natalie Bruck-Aufienberg
(lüicn)
Arthur Hirth (München)
400