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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 27 (1. Juli 1899)
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Nr. 27

JUGEND

1899

Das Buch im Tischkasten

oder

Befreiung des Bühnendichters aus allen
Nöthen

von Paul Lindau,

Zeichnungen von A. Schmidhammer

Um mich nicht als Sonderling aufzuspielen,
hatte ich im verflossenen Winter auch Influenza
gehabt. Der Arzt hatte mir gesagt: „Machen
Sie, daß Sie wegkommen, je früher, je bessert"

„wohin?"

„wohin Sie wollen. Sie brauchen vor
Allem kräftige ozonreiche Luft, wenn wir in
der Jahreszeit schon weiter vorgeschritten wären,
so würde ich Ihnen rathen: Nordsee. Aber
da ist es jetzt noch zu ungemüthlich. Um
diese Zeit ist noch kein Mensch da."

„wenn Sie weiter keine Bedenken haben..
Ungemüthlich wird mir der Sommerausenthalt
nur durch die Menschen. Ich glaube Sie nicht
zu überraschen, wenn ich Ihnen die bestimmte
Versicherung gebe, daß die Welt vollkommen
ist überall, wo der Mensch nicht hinkommt
mit seiner Oual. Aber Titat bei Seite, ich
würde jetzt nirgends lieber hingehen als nach
der Nordsee."

„Dann reisen Sie mit Gott! wenn Sie es vor
Langeweile nicht aushalten, können wir uns ja
noch immer über etwas Anderes verständigen."

Und so kam es, daß ich diesmal einer dir
ersten Kurgäste auf Helgoland war. Ich hatte
meine alte Wohnung im Oberlande, mit dem
freien Ausblick auf die Düne, die Seehunds-
klippen und die unendliche Fläche des grünlich
grauen Meeres; ich fand die alte freundliche
Bedienung, die alte Sauberkeit und Ruhe und
fühlte mich so behaglich, so unbelästigt, so
ausgeglichen wie nur möglich. Mit jedem
jungen Morgen segnete ich den guten Doktor
und seinen guten Rath, und ich hatte nur
eine Bekümmerniß, daß es nach der natürlichen
Entwicklung der Dinge mit dem Gottesfrieden
in kurzer Zeit aus fein werde. Der letzte
Hamburger Dampfer hatte schon eine erkleck-
liche Anzahl vorzeitiger Kurgäste gelandet.

Ich war bereits seit zehn, zwölf Tagen
auf Helgoland und hatte mit der einzigen
Ausnahme, daß ich meine glückliche Ankunft
telegraphisch angezeigt, die Feder noch nicht
in die Tinte getaucht, wir hatten ununter-
brochen das herrlichste Wetter gehabt: Sonnen-
schein und wind genug, um zu segeln.

Da kam ein rauher, grauer Regentag. Ich
hatte keine rechte Lust zum Ausgehen, und
ich redete mir ein, daß ich wohl in der rechten
Stimmung wäre, irgend etwas zu schreiben.
Ich öffnete also zum erstenmale wieder den
mir wohl bekannten, alten, wackeligen Schreib-
tisch mit der nachgiebigen Tischplatte, die bei
jedem, auch dem leisesten Drucke einen weh-
müthigen Klagelaut von sich gab — wie ein
vorwurfsvolles Seufzen, ob es denn durchaus
nöthig sei, daß ich da allerhand überflüssige
Sachen schriebe? Der altmodische Sekretär
war eigentlich sehr unpraktisch und unbequem;
aber es war ein alter Bekannter, und ich hatte
ihn gern.

Ich holte also mein Material zusammen
und ordnete es nach dem Schema, das sich
seit langen Jahren bewährt hatte, in die ver-
schiedenen Fächer ein. Als ich den obersten
Tischkasten linker Hand öffnete, bot sich mir
eine Ueberraschung dar. Da lag ein Buch.
Ein etwa einen Finger starkes, in Leder ge-
bundenes Schreibheft mit Goldschnitt, so eine
Art Album, wie es Backfische zur Lonfirmation
bekommen, ein Stammbuch, das gewöhnlich
mit Paul Gerhardt anfängt und mit Heinrich
Heine aufhört.

Das war es aber nicht, wie ich mich auf
den ersten indiscreten Blick überzeugte. Es
waren Aufzeichnungen, die offenbar von einem

Schriftsteller herrührten. Mehr hatte mich der
flüchtige Einblick nicht gelehrt, und mehr wollte
ich aus angeborenem Respekt vor fremdem
Eigenthum auch nicht erfahren.

Ich klingelte also, und schnell und geräusch-
los wie immer, trat das Mädchen, das mich
schon während der letzten drei Sommerferien
bedient hatte, in meine kleine niedrige Stube,
wir nannten sie die stille Luise.

„In der Schublade habe ich hier dies Buch
gefunden, das irgend Jemand hier vergessen
hat..."

„Jawohl, der Herr Doktor, der im vorigen
September und Oktober hier gearbeitet hat.
wir wollten es ihm nachschicken, aber wir
wußten nicht, wohin. Das kann da gerne
liegen bleiben, bis er's wieder holt."

Die stille Luise entfernte sich lautlos, wie
sie gekommen war, und das Buch blieb im
Tischkasten gerne liegen...

Aber nicht lange.

Ich hatte die Feder eingetaucht, vor mir
lag seit einer halben Stunde ein leeres Blatt,
dessen unbefleckte Unversehrtheit mich zu ver-
drießen anfing. Draußen regnete es in Strömen.
Ich war zerstreut. Und ich machte mir endlich
klar, daß meine Gedanken bei dem Buche im
Tischkasten waren. Und endlich siegte, wie ich
mit Beschämung eingestehen muß, meine Neu-
gier über edlere Regungen.

Ich zog das Kästchen auf. Ick nahm das
Buch und las es. Las es zunächst flüchtig,
oberflächlich, frivol. Dann aber aufmerksamer
und bedächtiger, und schließlich mit wahrem
Respekt, mit einem Gefühle von weihevoller
Andacht.

Es war kein gewöhnliches Buch, das mir
der Zufall in die Hand gespielt hatte. Es
war eine völlige Offenbarung! Eine praktische,
wirklich brauchbare „Technik des Dramas,"
vor der sich die schwer verdauliche Tüftelei
Gustav Freytags verstecken konnte. Hier waren
die Mittel und Wege zur Festlegung des Bühnen-
erfolgs auf dem verläßlichen Boden der Erfahr-
ung klar bezeichnet. Es war gewissermaßen der
magische Schlüssel, der das Reich der Mütter
erschließt, — der Urkräfte, wie sie ein zugkräftiges
Theaterstück zusammenbrauen. Die Kunst, in

vierundzwanzig Stunden ein gefeierter Bühnen
dichter zu werden, — hier war sie für Jeder
mann, der lesen konnte, enthüllt.

Und da es noch immer regnete, und die
Fülle der fremden Gedanken, die ich in mich
aufnahm, viel zu gewaltig war, um eigenen
Raum zu gönnen, schrieb ich das ganze Heft
ab. vieles war darin ausgestrichen, nicht etwa
weil es unbrauchbar, sondern im Gegentheil,
weil es wegen seiner Brauchbarkeit schon ver-
wendet war. Es wurde mir nicht schwer, in
der Erinnerung an einige der großen Erfolge
der letzten Jahre, festzustellen, mit welchem
Nutzen der Autor vieles schon verwerthet hatte.

Ich halte es für eine Pflicht der schrift-
stellerischen Nächstenliebe, diese werthvollen
Blätter der Oeffentlichkeit zu übergeben. Einem
Kundigeren möge es überlassen bleiben, sie
zu sichten und systematisch zu ordnen. Ich
copire sie so, wie sie der Autor, den Eingeb-
ungen des Augenblicks folgend, niedergeschrieben
hat.

Auf der ersten Seite steht der Titel: „Stoffe
und Bekenntnisse" und darunter das Motto:
„Das sind Hoffnungen, das sind Entwürfe!.."

Daran schließen sich nun allerhand Be-
trachtungen, Erfahrungen, Einfälle,Vorschriften,
die sich auf die Bühnenschriftstellerei beziehen.

Diese Aufzeichnungen sind in drei Theile
gegliedert:

I. Allgemeineres.

II. Besonderheiten.

III. Anregungen und Beobachtungen.

Des Werkes erster Theil

Allgemeineres

Liebe, Gefühl und dergleichen.
„Unsere Zeit steht im Zeichen des Verkehrs."
wahres Wort. Alles ist auf volkswirth-
schaft zurückzuführen. Auch die Dichtung.
Die dramatische Kunst, eine Marktfrage wie
jede andere, hat sich nach der Tonjunctur zu
richten.

Augenblickliche Lonjunctur für: höhere
Richtung:

a) Schauspiel des Elends und der Verkommen-
heit.

d) Märchenspiel mit blauer Blume.

c) patriotisches Lrhebungsdrama mit Tusch.
Anspruchsloseres Genre:

d) Das brave, alte Lustspiel, zeitgemäß auf-
gepolstert; zum Ausruhen nach gethaner
Arbeit. Für die freundliche Mehrheit,
mit dem Motto: „Ich gehe in's Theater,
um mich zu amüsiren. Leben traurig
genug!"

Aufgelegter Kassenerfolg.

e) Volksstück a) mit oder ß) ohne Gebirgsluft.
a) Mit Gebirgsluft: ländlicher Dialekt,

Zither, Raufen;

ß) ohne Gebirgsluft: großstädtischer Dia-
lekt, marschartiger Aufzug mit Evolu-
tionen und Potpourri.

Am dankbarsten: d) Lustspiel (oder Schwank)
und e, ß, Volksstück ohne Gebirgsluft.

Diese beiden habe ich daher bei meinen
Lompositionen besonders im Auge, und auf

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Register
Arpad Schmidhammer: Zeichnungen zum Text "Das Buch im Tisch-Kasten"
Paul Lindau: Das Buch im Tischkasten
 
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