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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 27 (1. Juli 1899)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3779#0009
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Nr.

27

U

G

E

N

D

1899

's war eigentlich zu dumm, daß ich diesen spleeni-
gen Gedanken nicht los werden konnte, den in
dem verstaubten Heft da vor mir ein Mr. Archer
ziemlich konfus entwickelt hatte. Den Gedanken näm-
lich, daß der Mensch das volle Recht habe, sobald
es ihm beliebe, die Thüre dieser Welt von außen zu-
zumachen; und daß der Mitwelt daraus die Pflicht
erwachse, dem Erdenmüden den Weg nach dem Jen-
seits mit möglichster Schonung und Artigkeit zu weisen.
Zu dumm war das!

Denn meine Seele blutete aus keiner frischen
Wunde, kein Schicksalsschlag hatte mich getroffen, mein
Leben war ebensowenig durch ein fatales Plus, als
durch ein erschütterndes Minus aus dem Gleichgewicht
gekommen. Mein ganzer Lebensüberdruß war schließ-
lich nur eine Summe jener kleinsten Widerwärtigkeiten,
die für uns der tägliche Kampf mit dem Racker Objekt
mitbringt, der tägliche Verkehr mit dem lieben Neben-
menschen und dem lieben Ich: abgerissene Schuh-
bänder, peinliche Begegnungen, die Grobheit eines
guten Freundes, schmutzige Teller im Gasthaus, ein
Bettelbrief, eine verpaßte Gelegenheit — und so weiter.
Es war ein schwarzer Tag hinter mir, an dem die
Sonne der Lebensfreude den grauen Nebel kleinlicher
Sorgen nicht einmal hatte durchbrechen können!

Und jetzt brannte meine Lampe — schief natür-
lich und schwehlend — und vor mir lag ein altes
Heft, zu unterst aus dem Bücherschrank geholt, und
auf dem braunen, brüchigen Holzpapier verbreitete sich
Mr. William Archer über das „Recht auf Selbst-
mord" —

Ach, war ich müde!

Der Aerger ist etwas viel Garstigeres, als der
Schmerz; er macht uns kleiner und schwächender
Schmerz macht uns größer und stärker im Kampfe mit
jenen Gewalten, deren Ueberwindung Leben heißt! —
Das war ein schöner Gedanke, den mußte ich mir
aufschreiben! Gleich! — Oder doch lieber erst morgen!
— Ich war ja so müde!

Uebrigens wäre es doch zu albern, sich so im
letzten Grunde wegen eines fehlenden Hemdknopfes oder
eines verpaßten Pferbebahnwagens wegekeln zu lassen

von der Tafel der Lebendigen-

Ach — war ich — müde!-

Walther Püttner (München)

DAS RECHT mjr

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Walter Püttner: Titelei zum Text "Das Recht auf Selbstmord"
Fritz Frh. v. Ostini: Das Recht auf Selbstmord
 
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