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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 27 (1. Juli 1899)
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1899

JUGEND

Nr. 27

Ein charmanter, kleiner, alter Herr be-
grüßte mich und fragte im Tone eines lang-
jährigen Hausarztes, warum ich ein so be-
trübtes Gesicht mache: „Was taugt Ihnen
nicht am Leben?" fragte er gemüthlich.
„Alles taugt mir nicht! Das Leben ist eine

. Kette von Unausstehlichkeiten! Es ist-"

„Ich wußte ja, Sie sind ein Client für
uns," sagte er und faßte mich ohneweiters
beim Arm. „Kommen Sie nur mit!"

Und ich ging ohne Widerrede. Warum?
weiß ich nicht. Dieses korrekte und freundliche
Männlein hypnotisirte mich. Wir, schritten
schweigend über die letzten Häuser der Stadt
hinaus und kamen in einen Park, in dem nur
wenige, ernst und fremd aussehende Menscher:
sich ergingen. Die herrlichen Rasenflächen
prangten in sammtigem Grün, aber es spiel-
ten keine Kinder auf ihnen. Weiße Schwäne
schwammen in stillen Wassern- Und je weiter
wir kamen, um so einsamer ward es, um so
höher und dunkler wuchsen die Bäume em-
por. Kein Mensch war mehr auf den Wegen,
außer uns. Schwarze Schwäne zogen aus
einem Teich geräuschlos ihre Kreise. Wir
durchschritten einen Cypressenhain, der aus-
sah, wie aus einem Bilde Böcklin's geschnit-
ten und standen plötzlich vor einem riesen-
haften, tempelartigen Gebäude. Es war
ganz aus schwarzem und dunkelgrünem Sye-
nit und blutrothern Porphyr. Die großen
Fenster gewährte!: keinen Einblick in's In-
nere; ihr Glas war undurchsichtig, von dü-
steren Farben. Ueber dem Eingang, den:
die Thorflügel fehlten, glänzte ein großes
goldenes Fragezeichen —

„Wo sind wir?" fragte ich meinen Be-
gleiter.

„Am Bahnhof!" sagte er und sah mich
mit einem Lächeln an, dessen Humor mir auf
einen Augenblick das Mark in der Wirbel-
säule erkältete. Ich verstand ihn:

Ter Bahnhof zur Fahrt in s Jenseits! Ich
that ganz kaltblütig und sagte:

„Ein famoser Bau! — Staatlich?"
„Aber ich bitte Sie! Sehen Sie nur die-
sen vornehmen Luxus, dieser: exquisiten Ge-
schmack! Der Entwurf des Ganzen von Stuck,
die Ausstattung bis auf den letzten Stiefel-
zieher aus den „Vereinigten Werkstätten für
Kunst in: Handwerk", Alles ist echter Sie!::,
echte Bronze, echte Kunst! Das Fragezeichen
über der Thür' hat Eckmann gezeichnet! —
Aktien, lieber Freund! 80 über Pari! Wer
wird heute noch mit Pferdebahn oder Elek-
trizität spekuliren! — Selbstvernichtunas-
aktien!"

Wir träte:: durch das Thor. Eine schwere,
angenehm kühle Luft empfing uns. Mar:
nahm mir den Regenschirm ab. Mein Füh-
rer wies auf eine Thüre mit der Aufschrift
„Notariat" — ich verstand ihn und wehrte
mich:

„Ich möchte vorerst nur sehen —"
„Gut! Ich wollte Sie nur in das Bureau
führen, wo unsere Passagiere ihre irdischen
Angelegenheiten vor der Abreise zu ordnen
pstegen.^ Nebenan können Sie auch gleich
die — Fahrtaxe erlegen."

„Darf man fragen, wieviel das Bittet
nach dem Hades kostet?"

WAW

Paul Rieth (München)
ich werde jetzt Ji^ochgeboren!“

,fCde Xiieschen!

„Hundert Mark, ohne die Beseitigungs-
koster:. Wir haben aber auch einen Tarif
für minder Bemittelte. — Also, Sie wolle::
wirklich nicht?"

„M—m!" ich schüttelte mit dem Kovfe.

„Sie werden bedauern, diese kleine Forma-
lität nicht im Voraus erledigt zu haben.
Darf ich bitten —"

Er öffnete eine dunkle Bronzethüre und
dann traten wir in einen Gang, an der: sich
links und rechts wie in einer Badeanstalt
zahlreiche Kabinen reihten. Wir betraten die
nächste, ein mit dunklem Marmor bekleidete?
Gemach — oben ein prächtiger Mohr:
blumenfries in Florentiner Mosaik. Von
der Decke herab hing eine Ampel, die einen
bläulichen Schimmer verbreitete; die Fenster
waren mit dichten Portieren verhängt. Ar:
der Wand bohrte sich die Lukretia eines alten
Meisters der: Dolch in die weiße Brust —

„Eine unserer Zellen gemischten Systems",
erklärte der freundliche alte Herr. „Wir
heißen sie die If you please-Cabinen!"

Richtig! Auf einem orientalischen Tisch-
chen lag eine hochfeine Garnitur von Re-
volvern und Dolchmessern, darüber war ein
Wandkästchen, durch dessen Scheiben man
schöne Glasflaschen mit den Aufschriften:
Strychnin, Cyankali, Morphium, Arsenik re.
sah, von der Decke hing eine rothseidene
Schnur mit raffinirt gearbeiteter Schlinge;
ein Ruhebett mit dunklem Bärenfell bedeckt,
stand in einer Ecke. Ich nahm ein Buch von:
Tische — eine Anleitung zur Benützung
aller dieser liebenswürdigen Gegenstände:
Sie war so hübsch und stimnmngsvoll ge-
schrieben, daß man ordentlich Lust bekam.
Der Fußboden, r:r:merklich geneigt geqer:
die eine Kante, in der eine Rinne lief, war
polirter Stein. Man sah in den Ecken die
Hähne einer Wasserspülung.

„Was sind dies für Flaschen?" Ich
deutete auf ein Credenztischchen mit Bou-
teillen und Gläsern.

„Delicöser alter Cognac, Cherry Brandy,
Portwein und Marsala. Wollen Sie ein
Gläschen fine Champagne?"

„Ich danke!"

Die Flasche, aus der gestern vielleicht noch
ein armer Teufel einer: Steigbügeltrunk vor
dem Ritt in die andere Welt genornmei:,
lockte mich nicht, trotzdem sie vier Sterne
am Kragen trug.

Auch eine Spieluhr stand im Zimmer;
als mein Blick auf sie siel, setzte sie meir:
Führer in Gang. Sofort erklang in weichen,
tiefen Tönen die wehmüthige Weise eines
WaldteufebWalzers... „Zum Einschlafen!"
sagte der alte Herr. „Und jetzt kommen Sie
ir: eine andere Abtheilung."

Wir durchschritten den Corridor, welcher
stumm lag, wie eine Gruft. Nur ar:s einer
Zelle, deren Thür geschlossen war, tönte die
Stimme eines Spielwerks — der Chopin-
sche Trauerrrmrsch!

Mich übcrlief's — „zum Einschlafen!"
flüsterte ich und der Alte nickte.

Eir:e schwere Thür schlug hinter uns zu
und wir befanden uns in einem kürzerer:
Gang, der ebenfalls zu beiden Seiten Zeller:
hatte. In leiser: Schwingungen erzitterte der
Fußboden und es surrunte und surrte.
Register
Paul Rieth: "Ade, Lieschen!"
 
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