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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 29 (15. Juli 1899)
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1899

JUGEND

Nr. 29

mit keinem der vorhandenen Stoffe aus dem
Schatze der Vergangenheit befreunden kann.

Dann gibt es ein einfaches probates Mittel,
um aus aller Verlegenheit herauszukommen:
Man nimmt ein altes Stück, gleichviel
welches, und dreht es vollkommen
herum. Sagt doch schon Uhland ungefähr:
„So läßt sich Alles, Alles wenden!"

Man wird sich wundern, wie vermittels
dieses einfachen Verfahrens ein ganz neues,
durchaus originelles Stück entsteht, zu dem die
recllerclle de la paternit£ bis zur Unmöglich-
keit erschwert ist.

Beispiel: Der umgekremxelte „Faust".

Hauptpersonen: Heinrich Fingerling, Kan-
didat der Theologie (quondam Faust), Martin,
sein Hauswirth (früher Frau Martha Schwerl-
lein), Rita, Putzmacherin (sonst Gretchen gc-
nannt), Lottchen Stoffeles, Einkäuferin für
Konfektionen (Mephistopheles).

# *

%

Handlung: Heinrich Fingerling hat oft
umgesattelt, hintereinander Philosophie, Jura
und Medicin studirt, ohne innere Befriedigung,
bis er endlich durch innere Erleuchtung auf
den rechten Pfad der Theologie geführt wird.
Macht schnell seine Examina, wird schon als
junger Kandidat durch die Wahl zum zweiten
stellvertretenden Vorsitzenden des „Iünglings-
vereins" ausgezeichnet.

Als er eines Sonntags, erbaut durch die
schöne Predigt, aus der Kirche kommt, tritt
ihm ein junges Mädchen in den weg, ge-
schmackvoll aber etwas auffällig gekleidet,
Augenbrauen mit dem Stifte leicht nachgezogen,
stark gepudert. Sie sieht ihn an mit... mit
Blicken!... na! Und sie flüstert ihm etwas zu.

Er schlägt die Augen nieder und eilt be-
jtürzt davon. ^ Denn so etwas war ihm nie
geschehen. Niemand konnte Uebles von ihm
sagen., Und als er in seinem Stübchen ist,
da^ nicht Jedermann so rein hält, ftagt er
sich angstvoll: ob man denn in seinem Be-
tragen was Freches, Unanständiges gesehen
habe.

Sein Stübchen kommt ihm so schwül, so
dumpfig vor, obwohl es draußen eigentlich gar
nicht warm ist. Er wollte, der Vater (der im
Stücke nicht auftritt) käme nach Haus. Er
wul sein Nachmittagsschläfchen machen, zieht
fernen zweireihigen schwarzen Gehrock aus und

singt dabei mit tiefem Baß ein arglos Lied-
chen; etwa: „Alle Vögel sind schon da! Alle
Vögel, alle!"

Als er den Sonntagsrock in den Schrank
hängen will, entdeckt er am Haken drei Zigar-
ren mit einem Veilchenstrauß gebunden. Kein
Zweifel, ein sinniges Geschenk von ihr, von
Rita!.. Soll er, soll er nicht? Das schwache
Fleisch unterliegt. Er steckt eine Zigarre an.
Sumatra-Import! Ja, wer sich das leisten
kann! Ach, wir Armen!

Db er Unrecht gethan hat? Der kalte
Schweiß tritt ihm auf die Stirn. Es wird ihm
so, er weiß nicht, wie! — Er muß hinaus,
schnell hinaus!

Zu seinem Hauswirth und alten Vertrauten,
dem Klemxnermeister Martin, der gern ein
Glas über den Durst trinkt. Findet dort eine
junge, höchst elegante Dame, Lottchen Stoffeles,
die soeben von Einkäufen für ihr Haus aus
Paris heimgekehrt, eine Bestellung an Martin
auszurichten hat. Ist dort im Moulin-Rouge
mit Martins todtgeglaubter Frau zusammen-
getroffen. Sie lebt vergnügt und läßt ihn
grüßen. Im Uebrigen sind Lottchens Taschen
leer. Nichts hat sie für ihn mitgebracht, nicht
einmal ein Andenken, wie es jeder Handwerks-
bursch im Grunde seines Ränzels aufbewahrt,
rein gar nichts!..

In Wahrheit ist das nur ein Vorwand für
den Besuch, dessen eigentlicher Zweck: eine
Zusammenkunft zwischen Heinrich und Rita
vorzubereiten. (Lottchen und Rita Freundinnen,
im selben Modegeschäst angestellt.)

Heinrich unterliegt der Versuchung. Martin
redet zu.

Für die Dämmerstunde wird ein Stelldich-
ein im Gärtchen hinter Martins Hause ver-
abredet. Garden-party carree: Heinrich und
Rita, Martin und Lottchen.

Rita geht in's Zeug. Heinrich weiß nicht,
wie ihm geschieht, sagt zu allen Sachen ja!
wenn er nur alleine schlief! Dann ließ er
ihr den Riegel offen. Aber Vater im Neben-
stübchen hat leisen Schlaf. Aber Rita, in derlei
Angelegenheiten sehr bewandert, überwindet
alle Hindernisse. Heinrich wird verführt. Weh
seinem Kranze! wenn sie's nur im Geschäft

nicht erzählt, daß sie bei ihm war_

Nachdem Rita ihre Neugier befriedigt,
wendet sie sich von ihm, läßt Heinrich im
Elend, verzweifelnd.

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Seine Unthat wird ruchbar. Der hat da-
von munkeln hören und der, und wenn es
erst ein Dutzend weiß, dann weiß es auch
die ganze Stadt. Alle braven Bürgersleute
weichen seitab von ihm. wird aus dem Iüng-
lingsverein ausgestoßen.

Da stürzt er in wilder Verzweiflung zu
Martin. „Nachbar, Euer Fläschchen." Und
nun ist's vollends um ihn geschehen. Ver-
kommt in Völlerei. Nachdem er mit Einer
heimlich angefangen, kommen bald ihrer mehre
daran, und das Gefallen am Fläschchen artet
zur Trunksucht aus. Sinkt tiefer und tiefer.

Endet, als Arbeitscheuer aufgegriffen, in Rum-
melsburg. Rita, der sich die Thore des Lor-
rectionshauses erschließen, kommt zu spät um
ihn zu retten.

(Es wäre auch eine Kleinigkeit, den Schluß
versöhnlich zu machen. Heinrich würde stand-
haft bleiben, Rita, von wahrer Liebe ergriffen,
ihrem bisherigen Wandel entsagen, und aus
den beiden braven Menschen ein glückliches
Paar werden. Dann noch ein kurzes Nach-
spiel: Heinrich im Kreise der Seinigen. Er
wohlbestellter Pastor, Sie glückliche Mutter,
in allen Stücken so akkurat, hat ein reizendes
Kind, das auf ihrem Arm freundlich ist, zappelt
und groß wird.)

Eigene Beobachtungen, Studien nach dem
Leben.

Auch diese werden von manchem gerühmt.
Beispiel: Ich selbst habe wahrgenommen. .*)

*) Diese Zeile ist durchgestrichen. Der Rest der
Seite ist leer. Darnit schließen die Aufzeichnungen.

Anmerkung des Abschreibers.
Register
Arpad Schmidhammer: Kleine Zeichnungen zum Text "Das Buch im Tischkasten" (Teil III)
 
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