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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 30 (22. Juli 1899)
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1899

9

JUGEND

Nr. 30

Flieh, auf, hinaus ins weite Land!

Reiseträume von Otto Ernst

Kn den Pfingsttagcn ist er wieder aufgestanden.
«8- Die Pranken hoch emporgestreckt zum An-
iprung ....

Kusch!!

Und langsam, sehr langsam duckt er sich noch
einmal in den Winkel.

Der Wanderdämon.

Wer stets daheim geblieben ist, in dem schläft
er einen tiefen Schlaf. Ein solcher Mensch spricht
ganz unschuldig solche Lästerungen aus wie:

„Wozu soll ich reisen? Kann ich's irgendwo
schöner und behaglicher haben als in Ham-
burg?"

Oder:

„Gelstn Sie mir mir dem Reisen! Der reinste
Selbstbetrug! Man gibt recht viel Geld aus,
fühlt sich fortwährend unbehaglich und sagt
immer „O wie schön!", um sich nur zu be-
schwichtigen. Hab auch 'mal so'n Rundreisebillet
durch ;it Harz gehabt. Bin gar nicht erst aus-
gestiegen. Gleich durchgefahren und wieder nach
Hause. . . ."

Und was dergleichen Ahnungslosigkeiten mehr
sind.

Aber wenn jener Dämon nur einmal Blut
geleckt hat... .

Nehmen wir an, Du machtest Deine jährliche
Reise im Juli, so meldet er sich nach der ersten
Reise im Juni, nach der zweiten im Mai, nach
der dritten schon im April, und nach wenigen
Jahren, wenn Du gerade vor dem Tannenbaum
stehst und eine goldene Nusz hineinhängen willst,
wachsen sehnsüchtige Bergriesen in Dir empor,
und über weltweite Alpengründe fließt Herden-
geläut und millionensternige Blumenpracht.

Du schüttelst schnell den Kopf . . . Still! !
Kusch Dich!! .... Und der große, machtvolle
Weihnachtsfriede deckt das liebe Ungeheuer zu
— günstigen Falls, bis der erste Star unter
Deinem Fenster schrillt. Dann regt es sich ohne
Gnade, und bald darauf wieder, wenn die
„9 Sommertage des März" kommen — oder
ausbleiben, je nachdem — und dann an dem
Tage, da der eine große, warme Athemzug der
Befreiung durch die Städte geht und alle Men-
schen, auch die in den Krankenstuben, sprechen:
„Ja, jetzt ist der Frühling wirklich da!" —
und dann in immer kürzeren Zwischenräumen.

In den Pfingsttagen richtete er sich gewaltig
empor; ich spürte seinen heißen Athen: an der
Wange ....

An einem heiligen Pfingstmorgen in früher
Kindheit ist er ja auch zum ersten Mal in mir
geweckt worden. Damals nahm ein älterer
Bruder mich bei der Hand und führte mich das
Ufer des breiten Elbstromes hinunter. Und

sieh: jenseits des breiten, sonnigen Glanzes lagen
blaue Berge; denkt Euch nur: blaue Berge!
Als mir mein Bruder dann noch sagte, die
Bläue komme von den Heidelbeeren her, mit
denen die Berge über und über bewachsen wären,
da wuchs mein Verlangen ins Unendliche. Von
jenen blauen Bergen kam meine Wanderlust.

Nun hatst ich gesehen, daß es noch eine Welt
gab jenseits unseres Dorfes. Mehr noch ge-
fühlt als gesehen! Mein inneres Leben hatte
ein Jenseits bekommen, eine nebelblaue Weite,
in der meine Träume tanzen konnten. Von
jenem Tag an gab es in meiner Seele Heimath
und Fremde. Wir waren weit, weit gegangen,
wenigstens für meine kurzen Kinderbeinchen, und
zum ersten Male fühlst ich den geheimnißvollen
Zauber, den Ueberwindung des Raumes und
Wechsel der Umgebung mir sich bringen. Ich
weiß nicht, ob es anderen auch so ist: aber für
mich hat die Ueberwindung großer Entfernungen,
wie'siez. B. die Dampfkraft ermöglicht, etwas
Anziehend-Unheimliches. So ein Handlungs-
reisender — ich bitte um Entschuldigung, wenn
ich mich irre, und es gibt ja gewiß auch andere
— spielt heute Abend seinen Skat in Leipzig und
morgen Abend in Berlin, und wenn er beide
Male gleiche Karten hat, ist es ihm ganz einerlei.
Hab' ich recht? Nun ja, es kann auch wohl
nicht anders sein. Aber ich sage mir in solchem
Falle gedankenvoll: „Gestern in München —

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J• -fr. Witzei (München)
Register
Josef Rudolf Witzel: Unnützer Streit
Otto Ernst: Flieh, auf, hinaus in's weite Land
 
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