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Nr. 30

JUGEND


^ 1899

und yeute in Posen!" Und darin liegt
dann so ein übermenschlicher Schicksals-
klang wie etwa in den Worten: „Heute
roth — morgen todt." Es genügen schon
die Bahnhöfe solcher zwei Endpunkte, um
Schauer der Naumüberwindung in mir
zu erwecken. Es mag wohl daher kommen,
daß alle Dinge für mich Gesichter haben, seien
es auch nur Steinwände, eiserne Träger oder
bestaubte Fensterscheiben, keine Menschengesichter,
sondern solche Gesichter, wie sie Steinwände,
eiserne Träger und bestaubte Fensterscheiben eben
haben.

Und dann kamen alle die Pfingstfeste, da ich
in der Nacht vor der Ausgießung des heiligen
Geistes mit meiner Mutter bis 2 Uhr, bis 3 Uhr
bei der Lampe saß und seligen Blickes zusah,
wie sie aus dem vergangenen Pfingststaat des
Vaters den neuen Pfingststaat des Sohnes er-
stehen ließ. Ich sehe noch, wie auf den treuen,
nimmermüden Händen der gelbe Lampen,'chinuuer
lag, ein Schimmer, der mir dann vor den stillen
Augen zum gelben Sonnenschein auf Wald und
Wiesenpfaden ward. Das schönste von allem
Glück sind die geweihten Stunden der Erwartung,
besonders die schweigend bewegten Nachtstunden,
nach denen die Licht- und Klangfanfaren eines
großen Morgens kommen sollen.

In solchen Nächten braucht man keinen Schlaf.
Leg' Dich mit der Erwartung von Leiden nieder,
und aus dem längsten und schwersten Schlaf
erwachst Du ohne Erquickung; wiegt sich aber
Dein Herz auf Flügeln fröhli her Hoffnung, so
nippst Du wie ein Vogel einen einzigen Tropfen
aus dem Wasser der Träume und fliegst gestärkt
in den Morgen hinaus.

Ja, mit starken Beinen marschirten wir in
allererster Frühe des Morgens hinaus. "Die
Tradition verlangte das: erste, keuscheste Herr-
gottsfrühe. „Herrgottsfrühe" —welch ein wunder-
bares Wort! Alle Menschen schlafen noch; selbst
die Vögel hocken noch im Nest; nur der Herrgott
und Du sind schon wach, und Du fragst ganz
unbefangen hinauf: „Wie wird's denn heut'
werden?" denn er hat noch Zeit, ein Wort an
Dich allein zu wenden. Und leichte Sommer-
kleider verlangte die Tradition, bei den Mädeln
sogar helle Kleider, wenn es auch sanft und hart-
näckig regnete und der Regen nur selten unter-
brochen ward durch ein wenig Schnee. Was
Faust vom Ostermorgen sagt, mag ja im 16. Jahr-
hundert richtig gewesen sein, heutzutage stimmt
es nicht mehr, wenigstens nicht in Norddeutsch-
land. Am Osterfeste macht man Schlittenpartieen,
freut sich aber, wenn inan wieder beim Ofen
sitzen und Grog trinken darf. Pfingsten ist das
Fest, da die Menschen aus ihren steinernen
Gräbern auferstehen, um Licht zu trinken.

Und solch ein Fest verregnen lasseu (wo-
möglich noch mit Schnee dazwischen), das kann
nur der Teufel thun; denn ein Herrgott bringt
dergleichen einfach nicht über's Herz. Pfingsten
im strömenden Regen beginnen und verrinnen
sehen, das war so, wie wenn unser bester Freund
uns meuchlings einen Dolchstich versetzt; man
stand am Fenster und sprach in sich hinein:

„Das war kein Heldenstück, Oktavio!"

Hans Rossmann (München)

. Ich zog meine Eltern so oft an's Fenster und
wiederholte so oft die Behauptung, es beginne jetzt
im Westen „auszuklaren", daß sie bald ganz meiner
Meinung wurden und die günstigsten Prognosen
stellten. Auf das Wetter hatte das freilich keinen
Einfluß. Und es rührt mich noch heute ganz
seltsam, wenn ich Arbeiter mit ihren Frauen und
Kindern in dünnen weißen Pfingstgewändern,
die melancholisch am Leibe herunterhängen, unter
dem Regen fröstelnd dahinschleichen sehe. Wer
sich aus jedem Tage einen Sonntag machen
kann, der hat gut mit überlegenem Spotte
lächeln: „Warum heben diese Leute sich ihren
Staat und ihr Vergnügen nicht auf für einen
späteren Tag? Ein Sonntag ist doch wie der
andere!"

Ganz recht: ein Sonntag ist wie der andere;
aber keiner ist wie der Pfingstsonntag. Am
Pfingstsonntag ist in diesen Leuten das Maß
der Frühlingssehnsucht voll, und es muß über-
strömen.

Ja, Sommerkleider mußten es sein und
Strohhüte, und in der Flasche mußte Himbeer-
essig sein — für unerfahrene Zungen ein köst-
licher Trank — und in der „Botanisir"-Dose ein
Frühstück mit Schinken, Eiern oder noch selteneren
Dingen. Ich gebe gern zu — ich seh' nicht ein,
warum ich mich geniren soll — daß meine Selig-
keit ein inniges Gemisch war von Schönheits-
freude und Schinkenhoffnung; aber ich bestreite
auf das entschiedenste, daß sie nur aus letzterer
bestanden habe, wie bei einigen meiner Kamera-
den. O nein, ich sah wohl die festliche Schönheit
der breiten Wiesen, aus denen behende Burschen
nach schlanken, tanzenden Mädchen haschten; ich
blickte wohl mit heimlichem Entzücken seitwärts
in grüne, heiligdunkle Säulengänge, wo die
Amseln furcht- und harmlos über den Weg
liefen; ich sah wohl die Schönheit auf den Ge-
sichtern, wenn dem blinden Geiger ein Groschen
in den Hut siel; ich bemerkte wohl, daß die
weißen Segel auf dem Fluß so stilllächelnd da-
hintändelten, als ergingen sie sich ziel- und
wunschlos auf den Fluthen der ewigen Seligkeit,
und ich sah wohl, wie die Birke ihr langes
Haar über's Gesicht fallen ließ, daß die Gräser
damit spielten, und wie sie sich immer wieder
neigte und immer wieder, mit zärtlicher Geduld,
wie eine junge Mutter. Und wenn ich damals
gewußt hätte, daß das das Glück sei, was um
die flüsternden Zweige flimmert und über den
wandernden Strömen schimmert — wenn ich das
geahnt hätte.!

Kann es euch wundern, daß gerade am
Pfingstfest die Wandersehnsucht in mir aufstand,
unbarmherzig, stark, wild, rauh, und dann mit
einem Mal das ganze Innere mit lieblicher
Gluth erfüllend?

Daß ich mit einem Mal an einen kleinen
Steg über einen Arm des grünen Dürrensees
denken mußte, an ein paar Brettlein, von denen
aus man eine andre Welt erblickt? - Denn diese
ungeheure, schweigende Runde wildauftrotzender
Felsen gehört unmöglich zu der Welt, die wir

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Hans Rossmann: Zierleiste: Klee
 
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