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1899

• JUGEND -

Nr. 30

kennen und in der wir leben. Dies Thal der
ewigen Ruhe ist von der Welt des Strebens
geschieden durch ewige Felsen. Hier trank ich
bei lebendigem Leib die Wollust des Sterbens.
Du stehst und starrst und suhlst, wie unter Dir
das Tägliche versinkt; immer noch tiefer ver-
sinkt es, immer noch tiefer. Und starrend ver-
sinkst Du selbst in unergründliche Tiefen der
Seeleneinsamkeit. Du hast nicht Freund, nicht
Weib, nicht Kind mehr; Dein Leben ist ausge-
löscht; Du bist der letzte Mensch unter den furcht-
baren Schauern steiniger Oede.

Und wie Dein Blick noch starrend hängt am
ragenden Geklüft, da steht mit einem Mal auf
schimmerndem Grat eine ferne Erinnerung in
rosigem Gewände und blickt Dir gerab* in's
Aug'. Habt ihr's gesehen, daß auf den höchsten
Höhen Erinnerungen wohnen? Daß sie auf
leuchtenden Zinnen stehen, über den schneeschim-
mernden Grat wandeln, an grauen drohenden
Abgründen hangen?

Ueber einem gebietenden Gipfel leuchtete mir
die Erinnerung auf an den Tag, da ich, ein
achtjähriger Bube, durch die blendend illuminirten
Straßen meiner Heimathstadt geführt wurde
und von allen Lippen das Wort klang: Der
Friede ist geschlossen.

Jenen sanften Abhang herab kam die Er-
innerung, wie ich,, ein Jüngling, fast noch ein
Knabe, durch abendlich-goldene Felder ging,
des Francis Bacon scharfes „Organon" in der
Tasche, die Leiden des jungen Werther aber im
Herzen und im Kopfe.

Ueber jenen Sattel aber mußte im nächsten
Augenblick Hand in Hand der liebliche Reigen
jener Stunden heraufkommen, da ich mit Ortrun
am Strande saß und sie mir ihre Blumen in's
Gesicht warf, weil sie zu schüchtern war, sie mir
in die Hand zu geben.

So thaust Du allmählich wieder auf von Er-
starrung und Tod und liest in dem Gezack der
Höhen und Abgründe die Linien eines Menschen-
lebens; Du hebst endlich wieder den Stab zu
neuem Wandern, und mit Dir wandern droben
auf den Bergen die wilden, grauen Stunden Dei-
ner Kämpfe und alle sanften Tage Deiner Liebe. —

Und kann es euch wundern, daß ich Pfingsten
auch an Cenzi denken mußte, an Cenzi von Mayr-
hofen im Zillerthal, deren Licht uns gastlich ent-
gegenleuchtete, als wir drei Wandergesellen
Abends nach zweistündigem Marsch im Regen
nach diesem Dorfe gelangten, weich bis in's
Gemüth? An Cenzi, das Mädchen mit der
revolutionären Orthographie und dem reichen
Gemüth, das uns mit einer durchaus flüssigen
Suppe und einem sehr reservirten Kalbsbraten
erquickte und auf unseren einstimmigen Liebes-
schwur erklärte, daß sie unsere Gefühle erwidere,
alles für einen Gulden siebzig? Freilich kann
ick noch heute den nagenden Zweifel nicht los
werden, ob Cenzi unsere Gulden nicht noch

inniger liebte als uns; denn wenn wir noch
dabei waren, das Letzte aus der Flasche in/s Glas
zu gießen, so fragte sie schon mit Leidenschaft:
„Mögen S' noch ane?" und wenn wir dann
mit Gefühl erwiderten: „Ja, bringen S' noch
eine Viertel," dann sprach sie: „Mögen N net
a Halbe?" Eine so naive, quellfrische Gulden-
sehnsucht findet man nur noch bei den unver-
fälschten Kindern des Gebirgs.

Oder nimmt es euch wunder, daß ich an
Monika dachte, an Monika vom Mahlknechts-
joch, die in jeder Beziehung runde Monika mit
den runden Augen, die über alles lachte? Wenn
man sagte: „Monika, bestellen Sie mir eine
Droschke!" so lachte Monika; das Merkwürdige
aber war, wenn man sagte: „Monika, bringen
Sie mir einen Kaiserschmarren," so lachte sie
auch. Am meisten aber lachte sie, als einer von
uns den Lehrsatz aufstellte: ,/n bischen dumm
ist jeder." Die Sache ist ja auch komisch. Und
dann brachte sie einen niemals ganz zu bewältig-
enden Kaiserschmarren und eine Erbsensuppe, die
so unendlich war, wie ihre Fröhlichkeit, und alles
stellte sie uns hin mit so mütterlicher Freundlich-
keit, als wären wir ihre drei jüngsten Buben,
die sie einmal gründlich durchfüttern müsse.

Oder daß ich an Mali dachte in der Dominikus-
hütten, die mordssaubere, blitzäugjge Mali, die
so freundlich und so bethulich war und dann
zu dem Buben auf dem Hof, als sie nicht wußte,
daß Jemand auf dem Altane stand und sie
hörte, die eindringlichen und hochtonigen Worte
sprach: „Willst glei die Ziegen in Ruh lassen,
Du sakrischer Lauskerl, malefizischer!" Sie sprach
das in einer Weise, die den Gedanken an eine
eheliche Verbindung in das Innerste der Brust
selbst eines geübten Ritter St. Georg zurückge-
scheucht hätte. Oder an den Aufstieg zum Pfit-
scher Joch, am Stampflerferner vorbei und an
den kleinen dunklen Seen, die wie schwarze
Augen regungslos in den Himmel starren? Oder
an den Abstieg in das menschenarme, melan-
cholische Pfitschthal, wo ich, als wir nahe vor
St. Jakob angekommen waren, immer wieder
zurückschauen mußte nach einer Kirche, über der
ein himmlisches Licht entzündet war. Ihr müßt
dem Wort „himmlisch" erst alle die Bedeutungen
ausziehen, die unsere kleinen Mädchen ihm auf-
hängen, wenn sie von „himmlischen" Tüllgardinen
oder von „himmlischen" Zeichenlehrern sprechen.
Nehmt einmal bitte das Wort „himmlisch" in
seiner reinsten Ursprünglichkeit und denkt euch
ein allerreinstes Licht! Ueber dem Kirchlein
lag ein Gletscher im hellsten Mittagssonnenschein,
und der Thurm wies mitten in den Glanz.
Es war ein alleinseligmachendes Kirchlein; wer
hindurchging, der mußte unmittelbar in's ewige
Licht gelangen, und selbst der schwärzeste Böse-
wicht, wenn er in den Bannkreis dieses Leuchtens
trat, mußte sogleich erstrahlen wie der weißeste
der Engel.

Ach leider ist dieses himmlische Licht ein
Trug; in den Köpfen der Menschen fanden wir
nichts davon. Welch ein psychologisches Raffine-
ment, welche Kunst der Mittheilung gehörte dazu,
um wieder auf den richtigen Pfad zu gelangen,
den wir im strömenden Regen verloren hatten,
und endlich einen Wagen zu bekommen, der
uns in diesem Regen nach Sterzing brachte.
Die Fahrt dauerte 3 stunden, von denen wir
nach ungefährer Schätzung eine auf unseren
Sitzen und nur zwei in der Luft verbrachten.
Wir waren vorurtheilslos genug, über jeden
Stoß zu lachen, wenn unser Lachen nur nicht
regelmäßig durch den nächsten Stoß abgebrochen
worden wäre. Gleichwohl war unsere Stimm-
ung die ausgelassenste Heiterkeit, wenn wir auch
dazwischen mitunter den stillen Gedanken hatten,
daß unser Wägelchen im nächsten Augenblick
in tausend Splitter zerschmettert werden oder
mit Insassen und Pferden in den Abgrund hin-
unterkollern würde, wo der durch den langen
Regen übermäßig geschwellte Pfitschbach mit
Donnern und Brausen abwärtsstürzte. Der
Kutscher stieß ein „Jesus Maria!" über- das
andere aus. Es war eine jener Situationen,
die man, wenn man einmal darin ist, mit lächeln-
dem „Mannesmuth" hinnimmt, deren Wieder-
holung man aber künftig nach Möglichkeit zu
vermeiden im Stillen beschließt. Der niedlichste
von allen Humoren war aber, daß wir schließ-
lich noch auf eine lange Strecke aussteigen
mußten und nun zu Vieren den an allen Rä-
dern gebremsten Wagen zurückhielten, damit er
den Pferden nicht auf die Hacken falle und hübsch
auf dem Weg bleibe. Es war noch ein wahres
Glück, daß wenigstens der Regen anhielt. Wir
hatten für solche Perioden der Trübsal einen
Fundamentalsatz der Berliner Philosophie, den
wir uns dann gegenseitig in's Herz prägten;
er hieß: „Det is jrade wat Scheenes!" Solche
Sätze sind viel werth. Es ist damit, wie mit
den Salmiak-Pastillen; eigentlich sind sie scheuß-
lich ; aber man hat wenigstens etwas in den
Mund zu nehmen und in langen Stunden eine
Unterhaltung.

Und schließlich kamen wir doch nach Sterzing
in ein hübsches, blitzeblankes Hotel, und wer
mir jetzt noch ein Wort auf die Kultur schimpft,
der hat's mit mir zu thun.

Für die Natur braucht man nicht einzutreten,
die vertheidigt sich selbst.

Die redet aller Sprachen Sprache, die aller
Menschen Muttersprache ist. Ihre Sprache klingt
in Bergen und Thälern, aus Wäldern und
Strömen. Und was mir das Gebirge Unaus-
sprechliches vertraut hat: in wenigen Wochen
geh' ich und sag' es mit stummen Lippen seiner
geheimnisvollen Schwester, dem Meer, dem
tausendstimmigen und millionenäugigen, dem
herrlichen^ dem — oh, dem — dem —

Kusch!!!

Kraken-I[rühstück

Julias Diez (München)

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Julius Diez: Kraken-Frühstück
 
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