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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 31 (29. Juli 1899)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3779#0073
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Nr. 31

JUGEND

1899

ten. Die Symphonie wuchs an Kraft, die
ganze Welt erfüllend und alles Lebende
zu neuem Dasein weckend. Nichts auf
Erden konnte majestätischer und erhabener
sein, als diese Musik. Ich sah die Gesichter
der Leute, die zunächst hinter uns waren.
Hoffnung und Freude strahlte auf ihnen.
Äufmerk'am und erwartungsvoll blickte
ich zur Erde, über der wir. hinflogen, um
zu sehen, wohin wir strebten. Da bemerkte
ich, daß wir uns wieder hoher über die
Steppe erhoben;-aber auf einmal hielt
die Musik in ihrer Bewegung inne und
spielte an einem Orte über uns. Auch
ich hielt inne und blickte hinab. Unter
uns lag im Dunkel ein Dorf, finster,
ärmlich, düster; nur matt schimmerten
einige Lichter hinter den Fenstern der
Hütten. Und mitten unter den Tönen der
Symphonie erscholl auf einmal mit selt-
samem, ohrenzerreiszenden Mission von
unten ein verzweifelter Schrei — krankhaft
und schauerlich. Und gleich darauf ver-
nahm man. jämmerliches Weinen. Ich
that mir Gewalt an, es schnitt mir wie
mit einem Messer in's Herz, schwer und
schnell sank ich zur Erde und stand auf
einem schmalen Pfad durch den Schnee
mitten in einer leeren Dorfgasse.

Aus der Hütte zur Rechten erscholl der-
selbe hilflose, seltsame Schrei, zur Linken
wurde das jämmerliche Weinen eines
Kindes vernehmbar.

Ich blickte um mich und sah sofort, daß
ich mich in einem russischen Dorf befand,
mitten in Schneehaufen, Armuth und
Elend. Da ich noch immer dasselbe Hilfe-
rufen von rechts hörte, ging ich darauf los.
Ich trat in eine niedere, feuchte Lehmhütte
ein, die von Schnee halb verweht war.

Ein Bauer saß auf der Bank und stieß
ein wildes, unsinniges Geschrei aus. Er
starrte mich an, redete wirr und taumelte
hin und her. In der andern Ecke saß ein
Weib, magerund gelb, schaukelte eine Wie»
ge und murmelte unverständliche Worte.

„Was ist los? Wo bin ich? Was fehlt
Euch?" fragte ich den Bauern, dann die
Alte.

Der Bauer antwortete mir nicht, denn
er verstand mich- nicht. „Schauen Sie,
gnädiger Herr," sagte die Alte, „der Mann
hat Fieber, ich selbst kann kaum gehen
und bin gerade aufgestanden. Das sind
die Kinder. Wir haben nichts zu essen,
helft uns, um Christi willen!"

Von Schmerz und Entsetzen erschüttert,
sprang ich hinaus auf die Straße und
wollte die Menge, die mir gefolgt war,
zu Hilfe rufen. Aber auf der Straße war
Niemand. Nur die Sterne glitzerten kalt
und theilnahmslos am dunkeln Himmel.

Musik und Gefolge waren verschwun-
den. Alles war fort. Nur weit weg,
weit weg in der Höhe vernahm ich die
ersterbenden, fernen Töne der Symphonie.

Gierig lauschte ich ihnen, aber in dem-
selben Augenblick erloschen sie vollständig,
nur der Wind strich pfeifend durch die
Gasse, den Schttee aufwirbelnd, und aus
der gegenüber liegenden Hütte drang
immer noch dasselbe jämmerliche Weinen
des Kindes. Da begriff ich alles. Ich
war mitten unter hungernden, vorArmuth
sterbenden Leuten. Das Bewußtsein der
Ohnmacht und der Vereinsamung war
:nirjii diesem Augenblick entsetzlich.

Wie soll ich allein Hilfe bringen? Wie
konnten diese treulosen, herzlosen Men-
schen mich in dem letzten und allerwichtig-
sten Augenblick im Stiche lassen?

Aurea aetas J- C“rben (München)

Ohnmacht, Hilflosigkeit, Ekel, unsagbare
Trauer erfüllten mein Inneres mit Ver-
zweiflung. Ich wandte mich uni, um zu-
rück zu dem Bauern zu gehen, der im
Fieberwahn schrie, aber vor Erregung
wachte ich plötzlich auf und öffnete die
Augen.

Die Morgensonne schien hell durch das
Fenster. Ich richtete mich im Bett auf,
sah auf die Uhr und zog mich rasch an.
Ich hatte wirklich verschlafen, so daß ich
überzeugt war, ich werde zum Dienst zu
spät kommen, wo man mich um neun
Uhr erwartete.

Ich kam aber immer noch früh genug,
obwohl ich eine Stunde später, als be-
stimmt war, auf meinem Bureau eintraf.

Als ich unfern Direktor begrüßte, fragte
er mich in liebenswürdigem Ton: „Nun,
wie hat Ihnen die gestrige Symphonie
gefallen? Sie waren doch im Coneert?"

Den Direktor hatte ich gestern Abend
mehrfach unter der Menge bemerkt, die
mir und der Symphonie nachfolgte. Er
trug eine weiße Cravatte und einen
Ordensstern; sogar das hatte ich bemerkt.
Nur am Ende unserer Wanderung, als
wir an das hungernde Dorf herankamen,
war er hinten in der Menge verschwunden.

„Ja, die Symphonie ist hervorragend,"
antwortete ich, „nur weiß man nicht,
warum man solche Sachen anhört. Sie
regen die Nerven zu stark auf."

„Ach wie nervös," sagte der Direktor.
„Ich denke — fuhr er fort — wir müssen
deswegen gute Musik hören, um uns,
wenn auch nur in der Vorstellung, geistig
zu erheben über das Elend und die Sor-
gen des Lebens." Und lächelnd strich er
sich den wohlgepflegten Schnurrbart. Ich
empfand Ekel vor ihm an diesem Morgen.

Da ist sie, diese ganze.Menge, dienlich
im Traum verlassen hat — dachte ich
mir, indem ich mit Zorn und Verachtung
unsere beklagenswerthen - Beamten mit
ihren gelben Gesichtern überblickte —
wie könnten denn die bis zum Ende
dem begeisterten feurigen Werke folgen,
wie wären sie fähig, sich dem Gefühle
bis zur Selbstaufopferung hinzugeben,
wie wären sie im Stande, sich von ihren
Schreibtischen, ihren zusammengesessenen
Stühlen loszureißen zu neuer, erhabener,
gemeinnütziger That? Und ich selbst?
Bin ich nicht ebenso ein Mensch aus dem
großen Haufen, .nur im Traume fähig,
mich über den allgemeinen Durchschnitt
zu erheben, mich hinzugeben einem hohen
edlen Drang? Aber ich wollte nicht an
meine letzten Gedanken glauben. Ich
wollte meine Schwäche nicht zugeben.

Ich zündete mir eine Cigarette an, griff
nach einem Akt und blätterte ihn durch. —

Aus dem Russischen von B. G. St. M. V.

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Julius Carben: Aurea aetas
 
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