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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 38 (16. September 1899)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3779#0186

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Jul. Diez (München)

der normalen oder höheren Entwickelung er-
möglichen. Den Begriff der Entropie entlehne
ich der anorganischen Physik und Chemie.
Hier ist er an sinnlich meßbaren Größen zu
einer hohen mathematischen Vervollkommnung
gelangt. Man bezeichnet als Entropie einer
Verbindung oder Lösung oder eines materiellen
Systems mit festen Punkten das Verhältnis;
der frei werdenden zu der gebunden zurück-
bleibenden Energie. In vielen Fällen kann dies
Äerhültniß genau in Prozenten ausgedrückt wer-
den. Bei den lebendigen Systemen, namentlich
in ihren nervösen und psychischen Beziehungen,
haben wir es aber vielfach mit Imponderabilien,
mit unmeßbaren Schwankungen und unkontro-
lirbaren, auf- und absteigenden Prozeßreihen,
endlich mit sehr verwickelten Beziehungen der
Theile untereinander zu thun, welche eine
mathematische Darstellung der Lebensentro-
pie vielleicht für immer ausschließen. Das
hindert indeß weder die Anerkennung einer
Lebensentropie als solcher, noch ihre Veran-
schaulichung, denn in der Mathematik ist nichts,
was nicht vorher in der menschlichen Anschau-
ung gewesen wäre oder darin Raum hätte.

Alle Vergleiche hinken, aber vielleicht ge-
lingt es mir doch, durch einen solchen die
Sache verständlich zu machen.

Der geneigte Leser wolle mir in die Schieß-
bude eines thüringischen Vogelschießens folgen.
Als kleiner Junge trieb ich mich, unter beträcht-
licher Vernachlässigung meiner sonstigen geist-
igen Ausbildung, gar gern bei den Schützen
herum, schon wegen des Pulvers und des
Knallens. Aber am meisten interessirte mich
das Aufrufen der Schützen und ihr Antreten
zum Schuß; hatte Herr Treffler den seinen
abgegeben, dann rief der Schützendiener mit
wichtiger Betonung: „Herr Kettend eil in
den Stand! Herr Anschütz macht sich fertig!"
Es war nun interessant zu sehen, wie diese
Herren und ihre Nachfolger sich beeilten oder
nicht beeilten, die guten oder bösen Reden
zu hören, mit denen sie ihre Büchsen luden,
und die Flüche, wenn sie den Vogel nicht an-
geschossen hatten. Sehen Sie, da haben wir
die Entropie des Vogelschießens! Die
Schützen, welche sich noch nicht „fertig" zu
Ulachen haben, repräsentiren sammt dem Pulver
und der Mechanik der Flinte die ruhenden
und gebundenen Energien; die Verwandlung
in der Richtung der energetischen Befreiung
beginnt mit Herrn An schütz , der dann sofort
zum Losschießen kommt, wenn Herr Ketten-
beil geknallt hat u. s. w. Nimmt der Turnus
einen flotten Verlauf und wird der Vogel
programmmäßig zer- und abgeschossen, dann
könnten wir sagen: die Entropie dieses Vogel-

schießens war eine gute. Wenn aber bei der
Geschichte zu viel gekneipt wird und die auf-
gerufenen Schützen den Tatterich haben, dann
müßten wir wohl sagen: die Entropie ist schlecht.

Denken wir uns nun jedes einzelne Organ,
jeden Apparat unseres werthen Ich, ja sogar
jede einzelne Nerven-, Knochen- und Muskel-
zelle als eine derartige Schießbude, mit ähn-
lichen idealen Aufgaben, wie sie ein Vogel-
schießen hat, so können wir uns einen Begriff
machen von der vielköpfigen und oft recht
verzwickten Gestaltung unseres Energielebens.
Denn wir haben nun dicht nebeneinander
Hunderte und Tausende, ja Millionen von
Schießbuden, eine jede mit ihren Herren Treffler,
Kettenbeil und Anschütz e tutti quanti. Wenn
sie alle mit der gleichen strammen Haltung,
in gleichmäßigem Tempo aufmarschiren, dann
leben, denken und schassen wir „normal," oder
auch noch besser und schöner als normal.
Aber wehe, wenn die ganze Gesellschaft etwa
betrunken ist oder hungert, oder wenn sonstige
Störungen, miserables Wetter, ein Krieg, eine
Epidemie oder dgl. eintreten! Dann fällt das
Vogelschießen sehr traurig aus, wenn es nicht
ganz abgesagt wird — für dieses Jahr.
Denn die Schützengesellschaft bleibt ja bei-
sammen, die verstorbenen und invaliden Herren
werden immer wieder durch neue ersetzt, und
auf das diesjährige sehr armselige Schießen
kann im nächsten Jahre ein um so glänzen-
deres folgen.

Jawohl, der Vergleich hinkt. Aber Leben
kann nur mit Leben verglichen werden, und
zur Veranschaulichung des unsichtbaren Lebens
unseres Nervensystems können wir den Kreis
der sichtbaren Vergleichsobjekte nicht groß ge-
nug ziehen. Sehr schlagend ist namentlich
das Vorrücken der Schützen zur Erläuterung
der Lebensentropie: denn in Wahrheit
gibt es in den Keimsystemen, namentlich in
den höchsten, kaum irgend eine gebundene
Energie, die nicht allmählig in freie um-
gewandelt werden könnte. Nur so ist es zu
erklären, daß unter allen Organen das en-
tropisch vornehmste, nämlich das Gehirn, der
Jnanition (Aushungerung) besser widersteht,
als alle anderen, selbst als Herzmuskel und
Knochen: wenn die Nahrungszufuhr von außen
aufhört, dann lebt und arbeitet das Gehirn
noch lange auf Kosten aller übrigen Organe.

Der wohlwollende Leser wird nun schon
errathen haben, welche Bewandniß es mit der
erblichen Entlastung hat: die nothleidende,
durch die Schuld der letzten Vorstände oder
äußere Mißgunst heruntergekommene Schützen-
gesellschaft rafft sich wieder auf, junge Kräfte
treteil ein, der thatkräftige Sohn des invaliden

Schützenkönigs übernimmt die Führung, der
hohe Magistrat stiftet neue Preise. Es dauert
ein paar Jahre, und das edle Fest blüht herr-
licher denn je, in der Schießbude geht es hoch
her, während der Diener laut ruft: „Herr
Kettenbeil junior in den Stand! Herr An-
schütz junior macht sich fertig!"

Das will sagen, daß in unserem gesammten
Organismus, so lange er nur noch lebt,
neben den etwa ererbten oder von uns selbst
verschuldeten zerstörenden Einflüssen eine Masse
von alten und neuen aufbauenden Einflüssen
an der Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand arbeitet. Von den dem Organismus
von Außen zugeführten Energieträgern ver-
steht sich das von selbst — warum sollte auch
z. B. der Sauerstoff, den eine kranke Lunge
athmet, anders sein, als der von der gesunden
Lunge aufgenommene? Allerdings ist zwischen
den Energieträgern und den für das Leben
allein Ausschlag gebenden Energien selbst
noch ein gewaltiger Unterschied; denn wenn
die Entropie nach dem Prinzip des kleinsten
Wirkungsaufwandes stattfinden, d. h. die Ent-
wicklung des normalen Maximums von freier
Energie möglich werden soll, dann müssen ja
eben unsere Organe und Apparate (man könnte
sie die entropischeu Theilsysteme nennen) in
vollkommen gutem Stande sein. Auch dem
Müller hilft das schönste Wassergefälle nichts,
wenn am Mühlrad alle Stufen zerbrochen
oder verfault sind. Aber schon eine mangel-
hafte Entropie im Sinne unserer zahlreichen
spezifischen Energiebedürfnisse läßt der Hoffnung
Raum, daß das Verhältniß sich bessern werde,
da unserem gesammten Organismus und allen
seinen Theilsystemen die wunderbare Gabe der
Selbstregeneration innewohnt. Diese be-
steht wesentlich in den ununterbrochenen Ersatz-
und Wachsthumsbewegungen, welche dar-
auf gerichtet sind, die durch RÄz, Arbeit, Funk-
tion verbrauchten oder abgenutzten Apparate
wieder zu erneuern. Von diesen Bewegungen
hängt ganz wesentlich auch die Herzthätigkeit
und der Blutumlauf ab; sie bilden in ihrer
Gesammtheit für das Herz gewissermaßen eine
Art von Gegenpumpwerk.

Woher kommen nun diese Bewegungen?
Nehmen sie ihren Ausgang lediglich von dem
Keimchen, aus dem jeder Einzelne von uns
sein „Ich" ableitet, oder kommen sie aus un-
bekannten Aeonen der Weltentropie, die wir
„Ewigkeit" nennen? Kommen sie, wenn ich mich
dieses kosmischen Gleichnisses bedienen darf,
vom Mond, dessen breites Antlitz wir lächeln
sehen, oder von einer fernsten Niesensonne,
deren Glanz ein Menschenalter braucht, um un-
serem Auge als feinster Lichtpunkt zu erscheinen?

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Julius Diez: Die "Jugend" am Schreibtisch
 
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