1899
JUGEND «
Nr. 45
den. sondern auch von den allerbesten Absichten
erfüllten Offelius absolut nicht gelingen wollte,
die sinnbethörende Holdin zu sich herüberzu-
biegen, hatte dieser seiner Reize kaum bewußte
Fratz nichts Wichtigeres zu thun, als sich sterb-
lich in einen feschen Leutnant (damals noch
mit i) zu velschießen. Das war sehr dumm,
aber es war auch sehr gefährlich, denn die
alberne Mutter Liebmariecheus hatte den Herrn
Leutnant als Zimmerherrn genommen. Die
dumme Gans, — verzeihe, lieber Leser, dieses
harte Wort, ich meine nur die Mutter, — die
dumme.Gaus hatte mit dieser Zimmerherrlich-
keit den Grundstein zu einem großen Unglück
und zum Untergang ihres einzigen süßen Kin-
des gelegt, das durch so viele Jahre die helle
blonde Freude des ganzen Stadttheils ge-
wesen war.
Denn es mochte ,etwa dreiviertel Jahr sein,
seitdem der Herr Leutnant eingezogen war, da
liefLiebmariechen an einenl nebeligen November-
abend den Fluß entlang in der Richtung des
Vororts, dessen kleinen Friedhof wir hier sehen.
Herr Offelius war ihr gefolgt, und als er
i'lberzeugt war, daß sie sich ein Leid anthun
wolle, da rief er laut ihren Namen. Aber
das beschleunigte nur ihren Lauf, und ehe
er sie einholen konnte, hatte sie den verhäng-
nißvollen Sprung in die trübe Fluch gemacht,
in der sie ihre schamvollen heißen Schmerzen
für ewig zu kühlen hoffte.
Indessen es sollte anders kommen. Herr
Offelius sprang feinem geliebten Mariechen
nach und schleppte, da er ein leidlich guter
Schwimmer war, mit dem letzten Aufgebot
seiner schwachen Kräfte das arme Kind wieder
auf's Trockene. Tann wurde sie von ihm
und ein paar Hinzukommenden ins Fischer-
dorf getragen und im Krug untergebracht. In
derselben Nacht genas sie eines Kindleins weib-
lichen Geschlechtes, und der brave Offelius
war noch nicht aus seinen nassen Kleidern ge-
kommen, als er die kleine Leutnantstochter an
sein krampfhaft schluchzendes Herz drückte und
sich und der sterbenden Mutter gelobte, den: arm-
seligen Mensehenwnrm allezeit ein liebevoller
Vater zu sein. Die feurigen Kohlen, die der
einfache Mann tit diesem Moment auf das
Herz seiner Angebeteten samnrelte, waren leider
nicht im Stande, ihr fliehendes Leben aufzu-
halten; sonst wäre vielleicht noch, wie man
sagt, „Alles gut geworden." Denn was ver-
mag nicht ein verzeihend Männerherz! So
aber entflog die arme Seele dieses süßen blon-
den Mägduleins in die Morgenröthe des kal-
ten Novembertages, und Herrn Offelius blieb
nur die undeutliche Vorstellung, daß der Blick
der Sterbenden lange und schmerzlich auf seiner
Schicksalsnase geruht hatte wie aus eiyem Frage-
zeichen.
Ein paar Tage später wurde Liebmariechen
auf diesem Friedhof begraben und weil der
alte Dorfpfarrer sich dabei sehr nett und christ-
lich benommen hatte, so vertraute ihm Herr
Offelius auch die Taufe des überlebenden
Töchterchens an, dem er als einziger Pathe die
Namen Maria Dolorosa gab. Seine Thränen
fielen heiß auf. das kleiue blasse Gesichtchen,
und der alte Geistliche war davon so gerührt,
daß auch er nach dem gesprochenen Segen das
unschuldige. Kind auf die Stirne küßte. Ist es
nicht etwas Bejammernswertes, ein Mensch-
lün, das seine allzufrühe Geburt dem Selbst-
morde der Mutter verdankt? Einer so jungen,
so lieblichen, fast noch unschuldigen Mutter!
Da standen die beiden Männer, Herr Offe-
lius und der alte Pfarrer, als Vollstrecker
des schonen Wortes, um dessenwillen schon
allein wir Christum lieben müssen: „Lasset die
Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen
nicht, denn ihrer ist das Himmelreich."
Mit jenem schrecklichen Ereignis; hatte zwar
der Liebeskummer des armen Offelius sozu-
sagen seine Gegenständlichkeit eingebüßt; aber
durch den hoppelten Fehltritt Liebmariechens
war er nun auch Erbe ihres Schicksals, war
sein Leben nur eine Fortsetzung ihres Todes
geworden. Oder war es fortdauernde Liebe,
die ihn die schwere Bürde tragen hieß? Denn
wirklich war es eine große Last, die er über-
nommen hatte. Anfangs ging das noch; kleine
Kinder, kleine Sorgen. Seine Mutter hätte
dem Sohne zu Liebe das Kleine gern in's Haus
genommen, weder die Mutter der Verstorbenen,
noch der Papa Leutnant hatten etwas dagegen
einzuwenden gehabt, und zur Ehre des Letzteren
darf nicht unerwähnt bleiben, daß er durch
Liebmariecheus Verzweiflnngsthat auf einige
Zeit trübsinnig ward und Herrn Offelius „für
Alles" den heißesten Dank zusicherte. Daß er
dem Aermslen seinen angebeteten Herzensschatz
sozusagen vor der Nase weggeschnäppt,' davon
hatte der Unglücksrabe von Leutnant keine Ahn-
ung. Wo wir am Wehsten thun, da sind wir
blind!
Auch an lieblichen Vaterfreuden fehlte es
ja Herrn Offelius nicht. Die kleine Adoptiv-
tochter war gar ein süßer Herzkäfer, tausend-
fach vergalt sie ihm seine Liebe durch jene be-
rauschenden Zärtlichkeiten, über die nur so ein
kleiner Balg mit seinem sprudelnden Rosen-
mündchen und seinen zierlichen Rosenfingerchen
verfügt, ganz ahnungslos verfügt, und das
ist eben das Bezaubernde. War es nicht ein
wehmüthiges Wunder, daß er, der in seinen
heiligsten Junggesellengefühlen tief Erschütterte,
hier zu den seligsten Vatergesühlen gekommen
war, wie die Magd zum Kind? Wenn die
Kleine ihn mit ihren lustigen Augen anlachte
und mit beiden Händchen seine lange Nase
patschte, und wenn sie nun gar deutlich „Papa"
zu ihm sagte und nach ihm weinte, da er
seinen Beamtenpflichten nachgehen mußte, —
das waren Momente seligsten Vergessend,
welche ihm auch die regelmäßigen Gänge zum
Friedhof im Vorort leichter machten.
Aber im Leben des Gemüthsmenschen trip-
peln die Freuden mit Ballschuhen, die Sorgen
haben Siebenmeilenstiefel an. Kleinmariechen
war ein kränkliches Kind; das hatte sie wohl
von den Qualen, mit denen ihr Mütterchen sie
unterem Herzen getragen, und von der frühen
Geburt. Blutarmuth, englische Krankheit nannte
es damals der Arzt, dem es noch nicht einfallen
konnte, dem Nebel mit knochenbildenden Nähr-
stoffen, Phosphoremulsionen u. dgl. auf den
Leib zu rücken, um die ausgekochte, in ihren
lebenspendenden Eiweißsalzen geschädigte Kuh-
milch zur „Muttermilch" zu stempeln. Kaum er-
Elisabeth Hähnel
holte sich die Kleine soweit, daß man daran
denken konnte, sie zur Schule gehen zu lassen,
da starb die alte Frau Offelius, und der gute
Pflegepapa hatte nun auch die Muttersorgen
zu tragen. Mehr als diese Sorgen quälte ihn
jedoch der Gedanke, daß sein liebes Kind eines
Tages unter der Illegitimität und den Um-
ständen ihrer Geburt leiden könne , und die
Frage, wie er sich dann als ihr ausschließlicher
Vater „legitimsten" solle.
Die Möglichkeit, selber auf das angemaßte
Vaterglück zw verzichten und den natürlichen
Herrn Papa in seine Rechte treten zu lassen,
war ganz ausgeschlossen; der hatte mittlerweile
als tapferer Hauptmann im großen Kriege
den Tod gefunden. Bevor er Mariechen in
der Schicke anmeldete, ging nun der arme
Offelius von Pontius zu Pilatus, aber nirgends
ward seinen vernünftigen Vorstellungen anders
dem: mit Achselzucken geantwortet. Am Schlimm-
sten kam er bei einem höheren geistlichen Wür-
denträger an, der ihm gar noch salbungsvolle
Vorwürfe machte, wie er sich denn unterstehen
könne, die gerechte Gottesstrafe, die auf dem
Haupte dieses unehelichen Kindes laste, von
diesem abwenden und durch einen Betrug —
die angemaßte legitime Vaterschaft — ersetzen
zu wollen; zu solch' frevelhaftem Beginnen
könne die Kirche noch weniger als der Staat
die Hand bieten.
Herr Offelius war kein Revolutionär,, aber
jetzt sing es an, in ihm zu kochen. Nachdem
auch ein Gnadengesuch an den Landesvater,
worin er um das Recht der Adoption gebeten,
in Anbetracht seiner „Jugend" abgelehut wor-
den war, verfiel er auf den Kriegspfad. Marie-
chen sollte nicht zur Schule gehen, — folglich
Zank mit dem Schulinspektor, Androhung der
Exekution, ärztliche Zeugnisse, Privatlehrerinnen.
Die ängstliche Hütung ihres Geburtsgeheim-
nisses nahm den ganzen Scharfsinn des gehetzten
Mannes in.Anspruch, und mittendrein gründete
er einen „Verein zur sozialen Gleichstellung
illegitimer Kinder", der zwar viele Sympathien,
aber wenige Mitglieder fand, weil jeder Theil-
nehmer sofort von den Muckern als irgendwie
„interessirt" verschrien wurde. Auch der Erfolg
des Vereins war, wenigstens was die staatliche
Seite der Frage anbelangt, gleich Null. So
kam der arme Offelius aus den Kämpfen und
Widerwärtigkeiten nicht heraus, zu guter Letzt
ward ihm von seinem Vorgesetzten nahegelegt,
daß eine Fortdauer seiner gewiß menschenfreund-
lichen, aber doch Aergerniß erregenden öffent-
lichen Thätigkeit geeignet sei, seine amtliche
Stellung zu bedrohen.
So ergab er sich denn endlich in sein Schick-
sal und lebte, abgeschlossen von der Welt, da-
hin, als ihr Vater und als Hüter ihres Ge-
heimnisses. Einen Ball oder dergleichen hat
Mariechen nie gesehen;, wenn sie je ausging,
stützte sich das arme, schwache Ding auf den
Arm des geliebten Vaters, aber sie hatte leb-
hafte Angen für Alles, auch für schmucke Uni-
formen und für die Leute, die darin steckten,
und mancher Schnurrbart ward gedreht, wenn
sein Besitzer die Blicke des bildhübschen Kindes
auf sich gerichtet sah. „Wie schade, Papa,"
sagte sie einmal, „daß Du nicht auch Offizier
geworden bist; Tu müßtest sehr gut aussehen
und wärst gewiß schon Major, dann wäre ich
die Regimentstochter."
Ihren zwanzigsten Geburtstag hat die Kleine
nicht erlebt. Aber das hat ihr armer Papa
doch durchgesetzt, daß sie als „Maria Dolorosa
Offelius" hier im Friedhofe des Fischerdorfes
neben ihrem Mütterchen und ihrer Pflege-
großmaman bestattet werden durfte. Diese
Blume, die der schmerzgebeugte Mann, im
Knopfloch trägt, wird er nun gleich auf ihr
Grab niederlegen. Georg Hirth
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