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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 46 (11. November 1899)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3779#0312

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Nr. 46

JUGEND

jfrau Wahrheit will

beherbergt sein,

iFfiiit Wahrheit wallt landaus und -rin,
Frau Wahrhrit pocht an jrdrs Haus,

Frau Wahrhrit schallt rin Irdrr aus! —

Frau Wahrhrit HIopkt an drs Kanzlers Klart',
Ls prangt rin lunkrlnd Wappen dort
And strht im Spruchband: „Immrr gleich
In Lird' und Lrru kür krön' und krich!"
Drr Halling dreht drn Schlüssr! um:

„Sich iirlz' ich rin? Sa mär' ich dumm!"
Sir war' für ihn drr rechte Gast,

Sir sähe, wir rr schlemmt und prslzt,

Wir rr das krcht sich wrnd't und birgt.
Wir rr drm Volk und König lügt.

Wir gröblich rr dir Schivachrn drückt,

Änd vor drn Grossrn lrig sich bückt! —

Frau Wahrhrit pocht an dir nächste Lhür —
Lritt gar ein rdlrs Wrib hrrlür,

Sas writ im Lande, fromm und gut,

Virl Mildrs an den Armen thut,

Srrimal im Lag zur kirchr grht,

Aul Su und Su zum Herrgott strht.

Wir die Frau Wahrhrit nur erschaut,

So denkt sir — dach sir drnkt's nit laut:
„Was brauch' ich Sein? Such' anderwärts!
Du sähst mir allzu tirl in's hrrz,

And sähst mir allzu wohl dabei,

Wir Litrlkrit und tzruchrlei.

Mit Gattrslurcht und Lhristrnlirb
Lur kirchr mich und Armuth trirb!"

Sir schaut Frau Wahrhrit bösr an —
hat ihr dir Lhür' nit aulgrthan.

Frau Wahrhrit fragt am nächstrn Haus —
Lin stolzer Kitter tritt heraus,

In Lisrn, ganz von Kopf zu Fulz.

Srr brut drr Kiig'rin lchlimnirn Gruss:
„heb' Su Sich mir zrhn Schritt vom Lrib,
Ich hrrbrrg nit rin lahrrnd' Wrib!

Ich bin rin lrommrr Kittrrsmann,

Srr brtrn blas und lrchtrn kann
Änd immer nur srin Schwrrt grwriht
Srr guten Sach' zur rrchtrn Lrit!"

Senkt abrr still dabei: „Sie käm'

Mir übrr Muer und unbequem,

Krsäh' sir meine Kittrrrhr'

Wie dir gar ladrnschrinig wär'!

Wie ich grplündrrt, brutrtoll,

Kis mir das Gut im kastrn schmoll.

Wie ich im Kusch wohl auch zur Macht
So manchen gutrn Fang gemacht.

Wir ich der Gier blos nach Gewinn,

And nit des tzerrgott's Kitter bin!"

Frau Wahrhrit pocht an drr nächltrn Lhür:
Lin schlankes Fräulein tritt hrrlür;

Wie dir das fremde Weib erschaut.

Wird purpurn ihre wrissr haut;

Sie rult in Lürnrn: „Klui drr Sünd'!

Ich bin rin tugendreines Kind,

And Su, Du bist ja splitternackt,

Su freche Dirne — fortgrpackt!"

Sir wendt sich schnell und schlägt im Mu
Sas Kförtlrin vor Frau Wahrheit zu.
Frau Wahrheit wenn im Hause blieb',
Säh' mehr, als was dem Fräulein lieb,
Sas magdlich wohl und ehrbar thut,

Doch Machts mit sündig heissrm Kiut
Sem Kuhlen auf die Kammer schlirsst
And seiner wilden Lieb' grnirsst!

Frau Wahrheit wieder weiter grht
And an drs Kaufmanns Lhüre strht,

Srr gern und laut und jederzeit
Sich prahlt mit seiner Lhrlichkrit.
Vielleicht lässt e r Frau Wahrheit rin?
Da müsst' rr ja des Leukeis srin:

Sie brächt' es grausam an den Lag.

Wie falsch srin Wort und Waar' und

Waag'!

And weiter grht's, nach hier, nach dort —
And jeder weist Frau Wahrheit fort:
Vom girbelhohrn königsschloss
Jagt sie der faulen knechte Lross;

Vom stillen klosterplörtlein weist
Lin böser Klaff sir, roth und leist;

Auch aus drr Armuth Gassen jagt
Man sie, wenn sie zu klopfen wagt;

Ser Weise treibt sie aus dem Lhor,

Ser Marr schiebt ihr den kirgrl vor;
Srr gibt ihr Warte glatt und leer.

And der hetzt Hunde hinterher
And Jeder weiss sich andern Grund —
So wandert sie auch noch zur Stund'
And sagt kein Wort und lächelt blos
And fragt mit Augen, schön und gross.
An jeder Lhür: „Wer lässt mich rin?" —

Willst Su ihr hrrbrrgvatrr srin?

(Zur Zeichnung v. I. Diez) l'. v. «.

1899

cit 3D t m

von Henry F. Urban

ja!" sagte Großvater seufzend und
biß mit seinem einzigen oberen und einzigen
unteren Zahn ein frisches Stückchen Rautabak
ab, wobei er die drolligsten Grimassen schnitt,
„ja ja!" Sofort schwieg Alles in dem kleinen
Dorfladen, wo die Fliegen über dem alten
Pfirsichkuchen summten, und wo es so seltsam
nach einer Mischung von Wagenschmiere, Raffee,
Räse und Seife roch. Alles schwieg mäuschen-
still, denn man wußte, daß dies der unfehl-
bare Anfang zu einer von Großvaters famosen
Geschichten war. „Der junge Mc Gonigle
kann von Glück sagen, daß die Verlobung so
glatt abgelaufen ist, wo er so ein Knirps und
seine Frau so ein Clephant ist," fuhr der Alte
auf der Seifenkiste fort, wenn ich an den
armen kleinen Tim denke, wie der sich ver-
lobte, und freute sich noch so sehr darüber und
dann — schrecklich! wie Ihr wißt, reiste ich
damals, als ich noch ein junger fixer Rerl
war, so wie der Charlie da, also wie gesagt,
damals reiste ich als Neger-Minstrel in den
ganzen vereinigten Staaten herum und ver-
diente viel Geld, denn wenn ich mir mit ge-
branntem Rork das Gesicht schwarz gefärbt und
mir mit Roth ein paar'faustdicke Lippen ge-
macht, dann noch meine schwarzen baum-
wollenen Handschuhe angezogen und die schwarze
perrücke aufgesetzt hatte, sah ich genau aus
wie so ein echter Schwarzer aus Alabama oder
Carolina. Und gerade wie so einer sang ich
und tanzte, daß die Arme und Beine auf der
ganzen Bühne umherftogen — hähä! Schön!
Also wie gesagt, ich kam überall 'rum und
verdiente großartiges Geld, aber dann gab's
schlechte Zeiten und ich mußte spielen, wo ich
konnte. So kam ich eines Tages in so eine
Raritätenbude, wo die merkwürdigsten Ge-
schöpfe gezeigt und von den Leuten mit offenen
Mäulern angestaunt wurden. Also wie gesagt,
da war ich. Schön! Cs war eine kuriose Ge-
sellschaft, sage ich Euch: der Gummimensch,
die Riesendame, das lebende Skelett, die Frau
ohne Unterleib, die gerade vor meiner Ankunft
ihrem Mann Zwillinge geschenkt hatte — wie
sie das fertig gebracht hatte? was weiß ich.
Dann war da der deutsche Herkules, der mit
Kanonenkugeln um sich warf, als wären es
Gummibälle, und eine Kanone in der linken
Hand abfeuerte, ferner Monsieur George, der
Feuerfresser; der Mann mit dem Straußen-
magen; Constaniinopuloff, das armlose Wunder;
der Kanibale von den Salomonsinseln, der zu
jeder Mahlzeit drei Säuglinge aß — wie er
das durfte? Ja weiß der Teufel, sollte er
denn verhungern? Möchtet Ihr verhungern?
Diese absonderlichen Menschenkinder, wie ge-
sagt, und noch manches Andere war 'in der
Raritätenbude. Schön! Ach so, ja — und
dann noch der kleine Tim. heiliges Donner-
keilchen, den hätte ich um ein Haar vergessen,
und er war doch die Hauptsache, jawohl, wo
Hab' ich denn meinen elenden Kalbskopf? Auf
den Schultern — ganz recht, Iiwmy — hähä!
Du stirbst noch mal an zu viel Schlauheit! Schön!
Also wie gesagt, der Tim. Cr war ein win-

§ckaferstun de

W. Caspari (München)
Register
Henry F. Urban: General Tim
Walter Caspari: Schäferstunde
Fritz Rehm: Medaillon
F. v. O.: Frau Wahrheit will beherbergt sein
 
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