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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 48 (25. November 1899)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3779#0342
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Nr. 48

‘Sobimi&t (cfjftic^t bas Sifiijj^tn Sifavus.

Nur 2If« MkeiAt d» (Stift des (Spattat’us.

-Ls jcl)ucfU ihn. aK. zn stets «eueutem Lauf
Bit ÄoffnnnA auf.

£i hant auf Kunde. Hebt das Kaupt und faujcljt,
iZweitaufend Laster sind nun schirr verrauscht;
rseschk«Ker. zahkkos. AcNAen ftunrnr vorbei —
8eid 3hr nun frei?

Aür Luer K>«ik wie ranA iA kunnnerstljwer!

Ach MkuA der 2rö,n«r steAAervostnte» Äeer;

Aast schcnr zerbarst die frevke Tyrannei —

,Scib Ihr nun frei?

2Killionensti»t;ni^ fiftngt «in 2iwf zurüölr:
21Ta$t y«ht vor 2r«Ht, und nirgends blüht
da» CöCiicd!

Die krank« 21t«nschh«it trä^t da» alte ^och —
2Vas fragst Du noA?

Arrf Aklaverrstirnen perlt wie «inst der §chrv«ih,
Äus ZklavenauAen briAt es thränenheih.

2lnd elend find roir, elend rvie zuvor —-
Geh' schlafen, Thor!

Ernst Eckstein

Nikolaus Nägele

Von Anna Lroissant-Rust

Nikolaus Nägele >var ein LebcnSkünstlcr.
„Mer fallt n;oi' Buttcrbrod nit uff die letz' Seil'"
Pflegte er zu sagen, wenn er sich wieder einmal
still, fromm itnö schlau aus irgend einer Affaire
gczogcit halte.' Seit 30 Jahren in derselben Fabrik
bedienstet, sah er säst noch gerade so aus wie
damals, wo er als 28jähriger eingetretcn war.
Derselbe krununbeinige Kerl war er geblieben,
mit den eingefetteten Haaren, die nach vorn gc-
kämmt, sich über den Ohren zu einer Locke
krümmten. Das gab der sonst sanstmüthigcn
Frisur den Stempel des Uuleriwhmendcn und
Flotten. Stets war er peinlich rasiert und tadel-
los sauber angezogen, und war der Schnitt seiner
Kleider der der andern, so Hallen sie irgend einen
ungewohnten Schwung, und trug er dieselbe
Mütze, so wußte er sie so zu rücken, das; sie bei
allen Züchte,; schwach an's Verwegene grenzte.
Waren seine Kameraden schwarz wie die Teufel
und kaum zu kennen bei der Arbeit, Niclla —
so hies; er auf gut pfälzisch — war immer blank,
wie ein Phönix stieg er aus der Asche. Dabei
schien es, als schaffe er mehr wie die Andern, er
griff an; eifrigsten zu und hob und strengte sich
an, dab er ganz blanroth wurde. Unter Pusten
und Schnaufen fand er aber noch immer Zeit,
die andern nnzutreiben und entwickelte dabei eine
gewaltige Macht der Ausrufe und eine zwingende
Macht der Rede. „Er holt sich freilich keen Bruch,
das übcrlabt er uns," sagten die Andern, die
Mibgünstigcn, die Scheelen, die in ihren engen
Seelen Nicklas Lebeilskünstlerthuin nicht begriffen.
Mit der ihm angeborenen Würde setzte er sich
über Derartiges hinweg, nur von Einem brachte
es ihn in Wuth. Dieser Eine war ein Kerl wie
ein - Gorilla, zottig, voller Fetzen, mit einem
blendendweißen Gebiß, das förmlich leuchtete in
seinen; stets schwarzen Gesicht, ein Kerl, der für

JUGlND

zwei arbeitete, und das hatte Niclla von Anfang
au empört, diese wilde Arbcitslrait. Nun wagte
er es auch noch, nach Nägclcs Tochter auszu-
schauen! Was hatte dieses Thier, das jahraus,
jahrein in seinen Zotteln und Lumpen. „; lernen;
Nus; und Dreck aus der Fabrik ging, das sonn-
tags im Belt lag. weil es nicht einmal Kleider
hatte, dessen Haut niemals Wasser und Seife
gesehen, seine Tochter nur zu bemerken? Das
blonde, peinlich saubere Mädchci; sah wie alle
Andern die Sache als einen guten Witz an. für
Nickla war sic ganz ohne Humor und nur unge-
heuerlich. Je stürmischer der Verehrer. Winkler
gcuaiiut, wurde, desto ivüthcnder wurde Nickla,
und eines Tages rannte er mit einer glühenden
Eisenstange auf den Hartnäckigen zu. der still
versenkt dastaud, mit allen zehn Fingern wol-
lüstig in seinen; vor Schmutz und Staub starren
Haarwald wühlend. Doch kaum wendete sich das
Ungelhün; grinsend um, schmiß er lautlos die
Stange weg und lief, so schnell ihi; feine Beiuchci;
trugen, aus der Nähe des lachendci; und brüllen-
den Niesen. „Dcsmol hält' mich ball der Deiwel
gepackt, aber ich Hab' die Versuchung glücklich
übcrstannc, isch bin als Sicscher hervorgcgange!"
äußerte er sich. Um Winkler ging er in ivcitc»;
Bogen herum, ,,'sch beacht',; nit". sagte er in eine»;
Ton, der sich mild und christlich anhörte, aber
für Kenner Tücken barg. Nach einiger Zeit wurde
der Gorilla ganz plötzlich entlassen, nicht ohne daß
diese plötzliche Entlassung mit einigen abendlichen
Besuchen Nägelcö im Hause des Direktors in
Verbindung gebracht worden wäre. Nickla trium-
phierte laut und ohne Arg, daß der Zottige in
seine»; ferneren Leben eine nicht gerade unwich-
tige Nolle spielte sollte. Das Ungcthüm fand,
Dank seiner Riesenkraft, sofort Anstellung in
einer Seisenfabrik, welch guten Witz des Schick-
sals Nickla mit seinen; schönsten Grinsen beglei-
tete. Und er grinste erst recht, als der Riese in-
folge eines Branntweinrausches in den heißen
Seifenkessel stürzte. „Jctz is er aa zum crschtc
mol in sei'm Lewe gewäschc lvoren!" Da sich die
Verletzungen Winklers als nicht lebensgefährlich
erwiesen, meinte er nachdenklich: „Guck, wann
der die dick' Kruscht nit uff'm Leib gehabt hält',
wär' er hin." Doch da er in keine Seisenfabrik
einzutrcten beabsichtigte, beruhigte er sich und
putzke an sich herum, wie früher. Und das blieb
vor und nach dem Tod seiner Frau gleich, wie
man ihn davor und darnach der verschämten
Liebe zu den „Mädchcr" geziehen hatte. Aber er
hatte auch noch andere Leidenschastcn. Die eine,
weniger verschämte, war die für den Kautabak,
die andere offenbarte sich in einen; Hang zur
Naturschwärmerei und die dritte, die realste, galt
den; Mammon.

Mit dem Kautabak >var es so eine Sache.
Es war nicht nur der „Schick", der ihn reizte,
und der ihm immer in; Backen lag und dort eine
sanfte Erhöhung bildete, er betrieb einen Sport
mit de»; Ausspucken des braunen beizenden
Saftes. Wohin n;an wollte, dahin „spvrzle" er
mit fabelhafter Sicherheit, und die Wetten, die
dabei gemacht wurden — natürlich nicht in's
Blaue hinein, sondern mit realen; Hintergrund
— verliehen der Sache eine eigene Weihe und
einen intimen Reiz.

Der zweiten Leidenschaft, der subtilen, srvhnte
er an; liebsten allein. Sie stellte sich gewöhnlich
zur Zeit des Herbstes ein, wo sie ihn zur Dän;-
merungszeit in Felder und Gärten trieb, >vo er
mit seinem Gott „allcen" sein konnte. Auch zur
Mittagszeit, wenn das Haus des Direktors mit
geschlossenen Läden ruhte, liebte er es, in einsamer
Versenkung an dem schönen Garten hin zu lust-
wandeln, über dessen Einfriedung köstliches Obst
hing. Und seine Freude überwältigte ihn so,
daß er oft nicht widerstehen konnte und form
lich gezwungen war, das eine und andere in
allernächster Nähe zu beschauen. Eimnal störte

ihn der Direktor in seiner verzückten Bewunder-
ung. Nickla hatte gerade einen rothbackigen Apsel
in der Hand, der kurz vorher noch an; Baun; ge-
hangen war; er blickte treuherzig auf, die Heiter-
keit seiner Seele leuchtete aus seinen; srischgc-
waschenen Gesicht. „Isch bin so oin großer Natur-
sreind, Herr Dcrckter, ich free misch so üwer
Ehr';; Garte."

„So?! Und wie koinint der Apfel in Ihre
Hand?"

„Moiner Seel, des wceß isch nit. Isch guck'n
als an uff ämol Hab ich',; in der Hand!"
Der Direktor lachte. „Na, da behalten Sie den
merkwürdigen Apfel."

„Bewahr' mich Gott! Isch bin keen Dieb,
isch bin oin Naturfreind," und mit einer Miene,
die nicht frei war von einem leisen, wenn auch
sanften Vorwurf, reichte
er die Frucht hin. Von
nun an aber zeigte er
keine große Lust, in der
Umgebung der Fabrik
seiner Naturleidenschaft
zu sröhncn, er hielt sie
geheimer. An; gcheim-
stcn aber hielt er seine
dritte Leidenschaft. Die
Unverständigen hießen
sie Geiz, obwohl Nickla
immer betonte, es sei
eines Christen unwür-
dig, nach Geld zu stre-
ben. Bei den Wetten
allerdings kan; Ver-
schiedenes heraus, ivas
sie nicht Lügen strafte,
auch beklagte sich die
blondeTochter weinend,
daß er ihr nicht einmal
das Nöthigste gebe und
dabei einen schweren
Beutel voll Geld auf
der Brust trage. Wirk-
lich hatten die Kamera-
den oft gesehen, daß er
etwas an einer Schnur
angehüngt trug. „Des
!s moi Amulet," wies
er jede Frage zurück,
küßte auch wohl das
heilige Säckchen. Seit
dieTochter dasGcheim-
niß des Amulets ver-
rathcn, richteten sich
viele lüsterne Blicke auf
Nicklas Brust und eines
Mittags, während er.
schlief, wurde es ihn;
gestohlen. Er erhob als
Weiser, Lebenskünstler
und Christ kein Zeter-
geschrei und sagte nur
milde, aber traurig:

„Es isch'm gegönnt."

Einmal aber, als ihn
der Schnapstcufel ge-
packt hatte, schrie er es
lachend aus, daß er das
Anhängsel mit Saud
gefüllt habe, der ver-
mehrten Aufmerksam-
keit halber, deren er
sich erfreute und seine
List gefiel ihn; so über
alle Maßen gut, daß
er sich — leider sei's
gesagt — einer fast un-
ziemlichen Fröhlichkeit
überließ und Lieder
sang, die gar nichts mit
Kirchenliedern zu thun
hatten, sich aber desto

mehr auf die „Mädchen andern Geschlechts" be-
zogen. Er ließ dabei schalkhaft durchblickcn, daß
er noch ganz und gar nicht auf Abenteuer verzichte.
Plötzlich hörte er ein paarJunge lachen; das machte
ihn ganz nüchtern, er erhob sich und sprach „sein"
Hochdeutsch, was immer eine Flucht der bösen
Mächte anzeigte: „Deßwegen bloib isch doch der
Nägele." Was er unter diesen tiefsinnigen Worten
verstand, war unschwer zu errathen, wenn man
ihn würdig, streng und doch nicht ohne Milde,
gepaatt mit einer gewissen Unsicherheit zur Thüre
hinausgehen sah.

Da die Fabrik außerhalb der Stadt lag,
war die Beschaffung der Lebensbedürfnisse etwas
komplicirt. Allabendlich muhte einer der Arbeiter-
in; Hause des Direktors Antreten und sich einen
langen Zettel einhändigen lassen, aus dem der

Bedarf für den nächsten Tag stand. Die Frau
Direktor nannte, in richtiger Würdigung der
Sachlage, den Zettel das Problem, und es gab
immer Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr,
den; Fräulein Köchin und dem herbeischleppenden
Kuli, Nickla war bis jetzt, obwohl der Posten
auch seinen Hintergrund hatte, den; „Probten;"
stets aus dem Weg gegangen. Denn Nickla hielt
vor allen; auf seine Würde, nie hätte er seinen
Kameraden, nie hätte er den; Direktor cingc-
standen, daß er die Buchstaben nicht ebensogut
zu drehen verstand, wie alles andere. Und nun
nachdem er die langen Jahre glücklich durchge-
kommen, wurde er auf einmal in die Käichc be-
sohlen. Aber auch hier siel ihn; das Butterbrot
„nit uff die letz' Seit'." Er hatte kaum die neu
engagirte Donna genauer angesehen, als eine

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sanfte Fröhlichkeit in ihm zu erstehen begann.
Mit den; „Mädche" war etwas zu machen, er
hätte nicht der gewiegte Weibcrkenncr von anno-
dazumal sein müssen, der sich auch jetzt die Augen
noch nicht verband und seine Erfahrungen nicht
in die Winde streute. Augenscheinlich aus sehr
ländlichen Gegenden importirt, stand sie der
ganzen Situation hülslos gegenüber und be-
gehrte in schlauer Treuherzigkeit Hilfe von ihm.
Nicklas Besuch dauerte solange, bis sic das Pro-
bien; ein paarmal verlesen — ach, er hatte keine
Brille! — und er sic zu einem blöden Kichern
gebracht hatte. Stolz verließ er die Küche, die
er so kleinmüthig betreten, auch hier würde er
mit Gottes Hilfe als „Sicscher" hervorgeh'n.
Die Schöne mit den vielversprechenden Hüsten
hatte sich in sein sinniges Gemüth geschmeichelt

JIsp halt-J£r beit er

Martin Brandenburg (Berlin)
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