Nr. 48
JUGEND
1899
und so schön die Sache begonnen, so schön setzte
sie sich fort. Allabendlich war die Verlesung des
Problems der Anfang und das Kichern das Ende
der Visite, nur daß die Vorlesungen sich ver-
kürzten und das Kichern sich verlängerte. Nickla
wurde jünger unter den neuen Pflichten und
eines Sonntags, als die letzten Astern blühten
und die Fiedeln zum Tanz jubilirten, erwartete
er „soin Mädche", das ihm mit blankgescheuerten
Backen und durchaus nicht karg eingefetteten
Haaren entgegenkam, zum Tanz. Er fah rosig
aus, wie ein Jüngling, wissend zwar und deßhalb
gemäßigt in der Freude; sie war blauroth vor
Eile und Freude und ihre Farbe ging auf dem
Tanzboden in's Violette über, während er bald
purpurroth, bald gelb wurde von den Anstreng-
ungen des Tanzes. Er war ausgelöst in Ver-
zweiflung und Schweiß, während sie ohne Er-
müden Weiler stampfte. Endlich schwiegen Baß
und Violine und Nickla fiel lustschnappend auf
einen Stuhl und begehrte zitternd zu trinken,
Und er trank ein Glas, zwei, drei, doch als er
ihr endlich auch zu trinken geben wollte, war
sie verschwunden. Er schaute im Saal herum —
nichts; er horchte, ob er nicht ihr Lachen höre —
nichts. Da, da! auf einmal! Dort, dort! sie
tanzte! Er saß da wie ein geprügelter Hund in
der Ecke und konnte sich nicht rühren und sie
ging ihm einfach durch? Da sollt' doch! — Er
sprang auf, im selben Augenblick fiel er aber
auch wieder zurück. Sie tanzte mit Winkler!
Winkler, der Gorilla war da! Winkler frisch und
gesund, Winkler gewaschen, Winkler mit uner-
müdlichen Tanzbeinen und er tanzte mit ihr!
Mit einem Satz war er dort und riß sie weg:
„Mit dem danzscht Du nit!" (Der Gorilla zog
lachend und sein weißes Gebiß bleckend ab.) „Ei
warum dann nit? ich kennen doch schun so lang,
er is bei mer deheem." Nickla packte sie wortlos
und zerrte sie an den Tisch zurück. Dräuend saß
er da und sah sie an, ohne ein Wort zu reden.
„Ich will jo nit mit 'm danze, danz norre Du
mit m'r," sagte sie ängstlich und der Blick aus
ihren fettgepolsterten Augen troff so von Liebe,
daß Nickla in plötzlicher Entflammung sein ganzes
Glas auf ihr Wohl leerte. Und nun ging's an
trinken, tanzen, küssen, trinken, tanzen, küssen,
bis er wie ein Stock auf den Leiterwagen fiel,
der sie heimbringen sollte. Sie saß ganz nah bei
ihm und er fühlte, trunken von Wein und Liebe,
in verschwommener Seligkeit, ihre Hände, die
ihm über Hals und Brust strichen, hörte ihr
Flüstern, kaum mehr im Stand Antwort zu geben.
„Bischt Du moin Schatz?" wisperte sie.
„Isch bin's, ja, isch bin's," antwortete er.
„Hoscht mich aa gern?" sie wieder.
„Kann Dich aa gern hawwe," er, stotternd.
„Thuscht Du mich heirathe?"
„Kann dich aa heirathe."
„G'hört aa alles moin, was D' hoscht?"
„Alles" lallte er und dabei war's ihm, als
kribbelten ihre Finger an seinem Hals herum.
Sein Kopf siel auf ihre Schulter, alles versank
ringsum, nur einmal war's, als höre er dicht
daneben die Stimme Winklers, halb vor Lachen
erstickt: „Hoscht's?"
* * *
Am nächsten Morgen gab's Sturm in der
Küche des Direktors, Korb und Problem fehlten
und „die Madam" verlangte energischen Auf-
schluß von der Küchenfee, die ja mit Nickla aus-
gezogen war. Diese zuckte die Achseln. „M'r
werd doch aa noch sein Spaß hawwe derfe!" und
plötzlich bog sie sich ab und sing solch ein respekt-
loses Gelächter an, wobei sie sich setzte und die
Beine weit von sich streckte, daß der Gnädigen
nichts übrig blieb, als mit zornrothem Gesicht zu
entweichen. Nickla erschien weder an diesem noch
an dem folgenden Tag zur Arbeit. Am dritten
zeigte er sich, ein anderer Nickla. Jugend und
Schönheit verweht, voller Stoppeln, ohne weise
Reden, scheu — „Desmol is 'm 's Butterbrod
uff die letz' Seit' g'falle!" tuschelten sie.
Er saß steif an einer Stelle und hielt den
„Schick" unbeweglich im Backen. Wagte einer,
ihn um seine Sonntagserlebnisse zu fragen, so
winkte er mit der Miene eines müden Herrschers
ab. „Er hot Sehnsucht!" hänselten sie und in
der Mittagspause führte einer die am „Kerwe-
sundag" Erwählte, die sich vor Lachen den Mund
mit dem Schurz verstopfen mußte, vor den
Brütenden, der leichenblaß wurde und zu zittern
anfing.
Am Abend schlich er aus der Fabrik, elend,
ein alter Mann und kam nicht wieder. Bald
darauf hieß es, es habe ihn der Schlag getroffen
und er liege bewußtlos bei seiner Tochter. In
hellen Haufen zogen sie hin und schauten ihn
an, wie Lehm sah er aus, die ganze linke Ge-
sichtsseite verzogen, „'s is aus mit 'm" meinten
sie und das meinten sie so lang, bis er sich wieder
auftappelte. Im Frühjahr schon saß er heraußen
im Garten, das Essen schmeckte ihm und das
Reden ging auch wieder wie ftüher, obwohl ihm
„das Maul" hoch oben, links im Gesicht sitzen
geblieben war. O Ironie des Schicksals! Er, der
stets mit dem Leben fertig geworden war, sah
mit dem ewig grinsenden Gesicht aus, als mokire
er sich über den ganzen Krempel.
Bis zuletzt ward Nickla in die Lage versetzt,
sich als Lebenskünstler zu beweisen ■ und einen
guten Trumpf in die Hand zu bekommen gegen
dieses Leben, das auch ihn schon einmal fast todt-
gebeutelt hatte. In das verwahrloste Haus gegen-
über zog nämlich ein junges Paar, das Nickla
stets vor Augen hatte. Und dieses Paar bestand
aus seinem Gorillatodfeind, der nur einmal in
seinem Leben gründlich gewaschen worden war
und der Kundry, die ihn so süß umgarnt und so
schnöd verrathen hatte. Der Herr meinte es gut
mit ihm und bescheerte ihm Freude in seinem Alter.
Denn drüben ging's überaus beftiedigend für ihn
zu; schon daß die Kundry, die sonst vor Sauber-
keit geleuchtet, ein dicker schmutziger Klumpen ge-
worden, ganz im Stil ihres Gorillaherrn, hatte
sein Herz erquickt, aber als die nachbarlichen Duelle
lauter und lauter wurden und sich zuletzt Scenen
wie in einem Menageriekäsig abspielten, jubilirte
er laut: „Gott hat mich aus der großen Gefahr,
in die ich ball gesterzt wär, glücklich errett'!"
(die Gorillafrau wurde nämlich nicht nur ge-
schlagen, sondern schlug nachdrücklichst selbst);
„isch bin wiedder ämol als Siescher hervorge-
gange, wann isch's aach deier bezahlt Hab."
Bald fing er sogar an, seine schöne „Sporz"-Kunst
auszuüben, ja es schien, als sei mit dem nach oben
verpflanzten Mund seine Virtuosität gewachsen.
Es sammelte sich ein Kreis um ihn, die alten
Freunde, die alten Wetten wurden gemacht, und
das Amulet, das seit dem Verrath welk an seiner
Brust gehangen, schwoll. Wenn dann aus dem
Nachbarhause Wuthschreie und Gekreische schollen,
wenn die Thüren dröhnten, kannte seine Lebens-
fteude keine Grenzen mehr. Und als einstmals
die Kundry, verfolgt von ihrem zottigen Mann,
an seiner Thüre Schutz suchte, sie verschlossen
fand und dann auf öffentlicher Straße ihre Tracht
Prügel empfing, faltete er fromm die Hände):
„Lieber Gott, isch danke Dir, daß Du mir so
oinen scheenen Lebensabend bescheert hascht!"
G*3>
Am Rünstlerstammtisch
Schauspieler: Sagen Sie mal, lieber
Trillermann, haben Sie sich auch, wie ich, erst
für irgend ein Studium vorbereitet, ehe Sie
Ihren Beruf für die Bühne entdeckten?
Sänger: Nein, ich habe von Jugend
auf nichts im Kopf gehabt, als die
Bretter, die die Welt bedeuten.
776
H. Christiansen (Paris)
JUGEND
1899
und so schön die Sache begonnen, so schön setzte
sie sich fort. Allabendlich war die Verlesung des
Problems der Anfang und das Kichern das Ende
der Visite, nur daß die Vorlesungen sich ver-
kürzten und das Kichern sich verlängerte. Nickla
wurde jünger unter den neuen Pflichten und
eines Sonntags, als die letzten Astern blühten
und die Fiedeln zum Tanz jubilirten, erwartete
er „soin Mädche", das ihm mit blankgescheuerten
Backen und durchaus nicht karg eingefetteten
Haaren entgegenkam, zum Tanz. Er fah rosig
aus, wie ein Jüngling, wissend zwar und deßhalb
gemäßigt in der Freude; sie war blauroth vor
Eile und Freude und ihre Farbe ging auf dem
Tanzboden in's Violette über, während er bald
purpurroth, bald gelb wurde von den Anstreng-
ungen des Tanzes. Er war ausgelöst in Ver-
zweiflung und Schweiß, während sie ohne Er-
müden Weiler stampfte. Endlich schwiegen Baß
und Violine und Nickla fiel lustschnappend auf
einen Stuhl und begehrte zitternd zu trinken,
Und er trank ein Glas, zwei, drei, doch als er
ihr endlich auch zu trinken geben wollte, war
sie verschwunden. Er schaute im Saal herum —
nichts; er horchte, ob er nicht ihr Lachen höre —
nichts. Da, da! auf einmal! Dort, dort! sie
tanzte! Er saß da wie ein geprügelter Hund in
der Ecke und konnte sich nicht rühren und sie
ging ihm einfach durch? Da sollt' doch! — Er
sprang auf, im selben Augenblick fiel er aber
auch wieder zurück. Sie tanzte mit Winkler!
Winkler, der Gorilla war da! Winkler frisch und
gesund, Winkler gewaschen, Winkler mit uner-
müdlichen Tanzbeinen und er tanzte mit ihr!
Mit einem Satz war er dort und riß sie weg:
„Mit dem danzscht Du nit!" (Der Gorilla zog
lachend und sein weißes Gebiß bleckend ab.) „Ei
warum dann nit? ich kennen doch schun so lang,
er is bei mer deheem." Nickla packte sie wortlos
und zerrte sie an den Tisch zurück. Dräuend saß
er da und sah sie an, ohne ein Wort zu reden.
„Ich will jo nit mit 'm danze, danz norre Du
mit m'r," sagte sie ängstlich und der Blick aus
ihren fettgepolsterten Augen troff so von Liebe,
daß Nickla in plötzlicher Entflammung sein ganzes
Glas auf ihr Wohl leerte. Und nun ging's an
trinken, tanzen, küssen, trinken, tanzen, küssen,
bis er wie ein Stock auf den Leiterwagen fiel,
der sie heimbringen sollte. Sie saß ganz nah bei
ihm und er fühlte, trunken von Wein und Liebe,
in verschwommener Seligkeit, ihre Hände, die
ihm über Hals und Brust strichen, hörte ihr
Flüstern, kaum mehr im Stand Antwort zu geben.
„Bischt Du moin Schatz?" wisperte sie.
„Isch bin's, ja, isch bin's," antwortete er.
„Hoscht mich aa gern?" sie wieder.
„Kann Dich aa gern hawwe," er, stotternd.
„Thuscht Du mich heirathe?"
„Kann dich aa heirathe."
„G'hört aa alles moin, was D' hoscht?"
„Alles" lallte er und dabei war's ihm, als
kribbelten ihre Finger an seinem Hals herum.
Sein Kopf siel auf ihre Schulter, alles versank
ringsum, nur einmal war's, als höre er dicht
daneben die Stimme Winklers, halb vor Lachen
erstickt: „Hoscht's?"
* * *
Am nächsten Morgen gab's Sturm in der
Küche des Direktors, Korb und Problem fehlten
und „die Madam" verlangte energischen Auf-
schluß von der Küchenfee, die ja mit Nickla aus-
gezogen war. Diese zuckte die Achseln. „M'r
werd doch aa noch sein Spaß hawwe derfe!" und
plötzlich bog sie sich ab und sing solch ein respekt-
loses Gelächter an, wobei sie sich setzte und die
Beine weit von sich streckte, daß der Gnädigen
nichts übrig blieb, als mit zornrothem Gesicht zu
entweichen. Nickla erschien weder an diesem noch
an dem folgenden Tag zur Arbeit. Am dritten
zeigte er sich, ein anderer Nickla. Jugend und
Schönheit verweht, voller Stoppeln, ohne weise
Reden, scheu — „Desmol is 'm 's Butterbrod
uff die letz' Seit' g'falle!" tuschelten sie.
Er saß steif an einer Stelle und hielt den
„Schick" unbeweglich im Backen. Wagte einer,
ihn um seine Sonntagserlebnisse zu fragen, so
winkte er mit der Miene eines müden Herrschers
ab. „Er hot Sehnsucht!" hänselten sie und in
der Mittagspause führte einer die am „Kerwe-
sundag" Erwählte, die sich vor Lachen den Mund
mit dem Schurz verstopfen mußte, vor den
Brütenden, der leichenblaß wurde und zu zittern
anfing.
Am Abend schlich er aus der Fabrik, elend,
ein alter Mann und kam nicht wieder. Bald
darauf hieß es, es habe ihn der Schlag getroffen
und er liege bewußtlos bei seiner Tochter. In
hellen Haufen zogen sie hin und schauten ihn
an, wie Lehm sah er aus, die ganze linke Ge-
sichtsseite verzogen, „'s is aus mit 'm" meinten
sie und das meinten sie so lang, bis er sich wieder
auftappelte. Im Frühjahr schon saß er heraußen
im Garten, das Essen schmeckte ihm und das
Reden ging auch wieder wie ftüher, obwohl ihm
„das Maul" hoch oben, links im Gesicht sitzen
geblieben war. O Ironie des Schicksals! Er, der
stets mit dem Leben fertig geworden war, sah
mit dem ewig grinsenden Gesicht aus, als mokire
er sich über den ganzen Krempel.
Bis zuletzt ward Nickla in die Lage versetzt,
sich als Lebenskünstler zu beweisen ■ und einen
guten Trumpf in die Hand zu bekommen gegen
dieses Leben, das auch ihn schon einmal fast todt-
gebeutelt hatte. In das verwahrloste Haus gegen-
über zog nämlich ein junges Paar, das Nickla
stets vor Augen hatte. Und dieses Paar bestand
aus seinem Gorillatodfeind, der nur einmal in
seinem Leben gründlich gewaschen worden war
und der Kundry, die ihn so süß umgarnt und so
schnöd verrathen hatte. Der Herr meinte es gut
mit ihm und bescheerte ihm Freude in seinem Alter.
Denn drüben ging's überaus beftiedigend für ihn
zu; schon daß die Kundry, die sonst vor Sauber-
keit geleuchtet, ein dicker schmutziger Klumpen ge-
worden, ganz im Stil ihres Gorillaherrn, hatte
sein Herz erquickt, aber als die nachbarlichen Duelle
lauter und lauter wurden und sich zuletzt Scenen
wie in einem Menageriekäsig abspielten, jubilirte
er laut: „Gott hat mich aus der großen Gefahr,
in die ich ball gesterzt wär, glücklich errett'!"
(die Gorillafrau wurde nämlich nicht nur ge-
schlagen, sondern schlug nachdrücklichst selbst);
„isch bin wiedder ämol als Siescher hervorge-
gange, wann isch's aach deier bezahlt Hab."
Bald fing er sogar an, seine schöne „Sporz"-Kunst
auszuüben, ja es schien, als sei mit dem nach oben
verpflanzten Mund seine Virtuosität gewachsen.
Es sammelte sich ein Kreis um ihn, die alten
Freunde, die alten Wetten wurden gemacht, und
das Amulet, das seit dem Verrath welk an seiner
Brust gehangen, schwoll. Wenn dann aus dem
Nachbarhause Wuthschreie und Gekreische schollen,
wenn die Thüren dröhnten, kannte seine Lebens-
fteude keine Grenzen mehr. Und als einstmals
die Kundry, verfolgt von ihrem zottigen Mann,
an seiner Thüre Schutz suchte, sie verschlossen
fand und dann auf öffentlicher Straße ihre Tracht
Prügel empfing, faltete er fromm die Hände):
„Lieber Gott, isch danke Dir, daß Du mir so
oinen scheenen Lebensabend bescheert hascht!"
G*3>
Am Rünstlerstammtisch
Schauspieler: Sagen Sie mal, lieber
Trillermann, haben Sie sich auch, wie ich, erst
für irgend ein Studium vorbereitet, ehe Sie
Ihren Beruf für die Bühne entdeckten?
Sänger: Nein, ich habe von Jugend
auf nichts im Kopf gehabt, als die
Bretter, die die Welt bedeuten.
776
H. Christiansen (Paris)