Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 2 (Nr. 27-52)

DOI Heft:
Nr. 50 (9. Dezember 1899)
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.3779#0382
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Nr. 50

JUGEND

1899

sönlichen Note. Kein Athemzug geht außer
dem Wehen des Windes. Es ist ein vollkom-
menes Lauschen. Durch das Gewölbe zittern
die rhythmischen Schallwellen heiliger Gesänge
ans dem Innern der Kirche. Tiefe Friedens-
chöre im Tempel, den einst die Sehnsucht nach
Rache erbaut.

Immer neue Schatten wehen herein, aus
den: alten und neuen Testament, aus der alten
und neuen Welt.

Es ist besonderer Anlaß zum Stelldichein.
Gratulationskur eines Jahrhundertskindes unter
den Auserwählten des Geistes. Verwischt ist
der Kalendertag. So zieht sich die Feier durch
die Wochen. Süßer Veilchenduft und der herbe
Geruch der Eiche und des Lorbeers steigen wie
aus unsichtbaren Huldigungskränzen und geben
der Nachtluft die wonnige Würze weicher Früh-
lingswinde.

Auf Flügeln des Gesanges —

Wie ein fröhlicher Neigen ein neuer Schat-
tenzug.

„Da habt Ihr mich," ertönt plötzlich die
Stimme des Gefeierten.

Ein seliges Flüstern und Weben löst sich
wie eine lange verhaltene Harmonie aus den
Nischen und überfluthet Heinrich Heines Stimme.

„Ja, da habt Ihr mich. Ihr wartet wohl
lange? Kinder, Ihr glaubt nicht, wie schön
so ein unendlicher Geburtstag ist, in den man
sich so recht mit Muße hineinlegen kann. Nie
sah ich lustigeres Schattenspiel. Und so rührend,
wie das ansteckt: Alle, alle kommen. Die Anti-
semiten tu hellen Haufen, Pardon, in feierlich
dunklen Schaaren. Mit wundervollen An-
sprachen. Dann meine Gegenrede jedesmal,
neunundneunzig Variationen über das uralte
Motiv, unerschöpflich wie das Chaos und tief
wie das Geheimniß des Blutes. Was wären
die Antisemiten ohne mich? So muß auch ich
den Dankbaren wieder dankbar seüt. Wie

„welcher Busen, Hals und Kehle!
(Höher feh' ich nicht genau.)

LH' ich ihr mich anvertrau',

Gott enrxfehl' ich meine Seele."

(Neue Gedichte, „Diane-

wunderbar frischen sie den menschlichen In-
stinkten das Gedächtniß auf! Wie hold ver-
wirren sie den braven Schulnteistern die Welt-
geschichte! Ja, bin ich denn wirklich der Dich-
ter meiner Rasse? fragte ich gestern einen ihrer
Beredtesten. Haben ntich die Juden zur Krön-
ung auf das Kapitol geführt? Rühmt mich
die Börse und stellt mich als ihren Sänger
und Schutzgott auf ihren Altar? Feiert mich
die Synagoge, wenn die heiligen Schabbes-
Sterne aufleuchten? Trinkt man mir zrt am
Laubhüttenfest? Ach, Menschen, Menschen,
Wunder und wilde Mär — wie hör' ich Euch
gerne! Erlaubt mir, daß ich vor Glück und

Scham mein Haupt verhülle!-Und dann

sagte ich ihnen noch viel Liebes. Darauf, wie
ich ihnen den Rücken wende, werde ich über-
fallen von den Pastoren. Ein lernsamer Mann,
wie ich nun einmal in meiner Jugend war,
Hab' ich mich auch im Protestantischen geübt
und meinen Namen eingeschrieben in das evan-
gelische Taufregister. Nichts Menschliches sollte
mir in meinem lieben, frommen Vaterlande
fremd bleiben. Der gute Doktor Martinus
Luther hat fürwahr keinen seiner schlechtesten
Schüler an mir gehabt. Gewiß stehe ich seinem
Herzen näher, als den: meinigen der Türken-

Hirsch und der Diamanten-Barnato-"

In seltsamer Vibration ertönt eine Stimme.
Jst's die Zarathustras?

„Du bist der Tänzer, der noch nach Todten-
gesängen walzte und jeden: Schmerz die heiterste
Anmuth lieh. Ach, wärst Du doch mein lachen-
der Löwe gewesen. Aber Dein Spott verdarb
Dir die eigene Laune und Versehrte Deine beste
Kraft, daß Niemand Deiner Fröhlichkeit froh
werden wollte. So bist Du den Deutschen
eine tragische Figur geworden."

Eine Noktua schwebt mit gesträubtem Ge-
fieder und stieren Augen am Thurm vorüber
Sie äfft im Krächzen Nordaus Stimme: „Ent-
artung — Entartung —"

Aber wie ein stilles Lachen, das
durch goldene Harfen streift, erbebt
in milden Klängen die Luft der Platt-
form und verschlingt den krächzenden
Eulenlaut.

Hin und her drängen sich die
Schatten-Reden, bald in sympho-
nischer Breite, bald in kurzen, heim-
lich sich lösenden Melodien. Ein
wundervolles Geister-Konzert.

Wieder klingt ein Motiv des
Jahrhundertkindes heraus in getra-
genen: Fragesatz: „Seht, wie ich's
trieb, in Liebe wie in Haß, so hat's
mir mein Blut gewiesen, der Ur-
väter Blut, das 'ich mit großen und
kleinen Propheten, glänzenden Köni-
gen und armseligen Abenteurern
theilte. Und jede Luft und jede Lust
meines späten Vaterlandes hat mein
Blut bewegt und sein Kreisen und
seine Farbe verändert: Denn ein
Künstler ward ich und ein Sänger —
und das erwarb mir Eure Liebe, daß
ich mich in Freiheit gab. Drängte ich
mich je in eine Hierarchie? Bekleidete
ich je ein Staatsamt? Schielte ich
nach Fleisch- und Ehrentöpfen? Habe
ich mit der Feder Schätze geschaufelt?
Hab' ich nicht unter Martern meine

Paul Rieth

Hoffnung festgehalten, meine Messias-Hoff-
nung — —"

Da war eine ungeheure Stille.

„Ja, meine Messias-Hoffnung: Weltherr-
schaft!"

Und als rauschten alle Meere und alle
Wälder aus allen Weiten in Verklärung heran:
— „Weltherrschast des Geistes in höchster Kraft
und Schönheit, ein sprudelnder Freudenqucll
aller Kreatur!"

Ein gewaltiges Brausen erhebt sich an:
Himmel, die Sternbilder funkeln auf, und aus
der Höhe stürzen mächtige Schwärme feuriger
Meteore auf die Erde . . .

Michael Georg Conrad.

von Heinrich Heine

Mitgetheilt von Fritz von (Dstini
I. Theil

Ade, Du schönes Himmelreich,

Für heute müssen wir scheiden:

Ich fahre mit Urlaub erdenwärts
Aus paradiesischen Freuden!

Ich lasse die himmlische Sphärenmusik
Und die Engel, die holden, die schlanken,

Es ziehen mich nach dem deutschen Land
Sehnsüchtiglich meine Gedanken.

Weit mehr als ein halbes Jahrhundert ist
Seit jenem Tage verflossen,

Seit ich zum allerletzte:: Mal
Die deutsche Lust genossen.

Und bin ich auch erst seit einem Jahr
Entsprungen dem Fegefeuer,

Mir ist in der himmlischen Seligkeit
Manchmal nicht recht geheuer;

Die langen Flügel genieren mich
Und das seidene Faltenhemde,

Ich fühle mich oft nicht recht zu Haus,

Ich fühl' mich une in der Fremde!

Ambrosiaspeise und Nektargetränk
Sind an und für sich famos ja,

Doch Mägen giblls, die vertragen nicht recht
Den Nektar und die Ambrosia!

Als ich in meiner Matratzengruft
So nach und nach gestorben,

Da hat mir die schnöde Krankenkost
Den guten Magen verdorben —

Ich sehne mich krankhaft nach Sauerkraut,
Nach Rheinwein und Gänsegekröse —

Ich sehne mich auch nach Blechmusik
Nach all' dem Sphärengetöse!

Ich muß zurück in das Vaterland,

Ich muß mit zwingendem Müssen,
Nachtwächter und Leutnants muß ich seh'n
Und blonde Gesichtlein küssen!

Ich sehne mich nach Sylvesterpunsch
Aus Rhum und Zucker und Eiern —

Ich will mein hundertstes Wiegenfest
Im Heimathlaude feiern!

Laßt mich in Gnaden nur bis Neujahr
Die Zeit da unten verbringen,

Dann will ich ja wieder, so schön ich's kann,
Mein Hallelujah singen!

816
Register
Fritz Frh. v. Ostini: Ein neues Wintermärchen
Paul Rieth: Zeichnung zum Gedicht "Welcher Busen, Hals und Kehle!"
 
Annotationen