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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 4.1899, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 51 (18. Dezember 1899)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3779#0404
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1899

JUGEND -

Nr. 51

Schiller als „Lehrer im Ideal"

Ein Prolog zur Schiller-Nummer der,Jugend*

von

Houston jätewart Cfhamberlain
bedauern ist der Mensch, der sich Schiller

aus dem Kerzen gerissen hat. wer von
uns hat nicht in früher Jugend diesen Dichter
schwärmerisch geliebt? Doch wer hat nicht
Zeiten erlebt, in denen er sich von ihm ab-
wendet ? Man nennt innner Schiller und Goethe
zusammen; das ist für Schiller ein Unglück.
Denn er, bcffcu Geist mit Ungestüm die Fesseln
abstreifte, welche der Staat, die Gewohnheit,
der Zeitgeist uns schon in der wiege an-
schmieden, er, der als Denker und moralische
Persönlichkeit zum kühnsten Adlerflug eines
fürstlich begabten Menschen sich aufschwang und
die stolzen Worte schrieb: „Lebe mit deinem
Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf", er
blieb als Dichter eigenthümlich befangen in den
grenzenden Schranken einer bestimmten Epoche,
wogegen jener Andere, der sich nicht gegen das
Gegebene empörte, sondern sich ihm an-
schmiegte, der den zerstreuenden Einflüssen eines
pflichtenreicheil Lebens und entsetzlicher histor-
ischer Begebnisse dadurch trotzte, daß er sich —
wie die „wasserblüthler", wenn sie aus dem
Sonnenschein in die Tiefen des schwereren Ele-
mentes untertauchen — mit einer eigenen, un-
durchdringlichen, isolirenden Atmosphäre um-
gab, seine dichterische Persönlichkeit so frei be-
wahrte, so eigellmächtig, daß wir einen jeden
seiner Schritte gleichsam als einen Schritt aus
der gegebenen Begrenzung in das Ulibegrenzte,
aus der Zeit in die Zeitlosigkeit bezeichnen kön-
nen. Nach hundert Jahren ist dieser Kontrast
schon auffallend, nach einem halben Jahrtausend
wird er schwer auf Schiller lasten. Man nehme
nur zwei Jugendwerke, beide die Erzeugnisse
einer geräuschvollen, vergänglichen Zeitstim-
mung, Rinder des Augenblicks — werther
und die Räuber: werther könnte gestern ge-
schrieben sein und begeistert den Chinesen genau
so wie den Deutschell, um den Räubern gerecht
zu werden, bedarf es heute einer historischen
Ueberlegung. wie eigenthümlich — sobald der
erste jugendliche Rausch vorbei ist — muthet
UNS gar manches aus Schillert Lyrik an! Ich
gestehe, daß ich einen ganzen „Kursus" von
deutschen Dichtern des js. Jahrhunderts habe
durch machen müssen, damit mir Schillers Lyrik
wieder mundrecht wurde; ich mußte die Ein-
flüsse, unter denell er stand, kenneil lerilen, um
die Geinalität der Leistung wieder voll zu
würdigen. Ur d noch immer stört mich das
Deutsch - Ana^eontische, das Ellglisch - Didak-
tische, das Lateinisch- Rhetorische, kurz diese
ganze Atlnosphäre einer bestimmten und dazu
einer unsympathischen, künstlichen Literatur-
epoche. Gewiß wird der Gelehrte llicht verlegeil
sein, auch bei Goethe die Wirkung der em-
pfailgeneil Eiildrücke nachzuweisen, doch gilt
voll seiner Lyrik, was er uns selber berichtet,
daß sie „unvermuthet hervorbrach", so daß er
sie selber „gailz als Natur betrachten mußte;"
wogegen die Technik eines Schillerschen
Gedichtes sofort in die Augeil springt
und in ihrer tadelloseil Sauberkeit fast
ilie der genauesten Aiialyse trotzt. Don
den Draiileil gilt etwas Analoges, wenn
auch — vielleicht — in geringerem

Maße. Dringt mail hindurch bis auf ben Kern,
so findet man überall den einen unvergleich-
lichen Dichtergenius, doch die Form, und zwar
namentlich das Aeußerlichste der Formgebung,
ringt sich nie bis zur vollen Freiheit der einen
gestaltenden Iildividualität hinauf. Racine's
Pathos, Shakespeares Vorliebe fürKernsprüche,
die Neigung des damaligeil Deutschlands zur
Sentimentalität: sie alle bilden einen vielfarb-
igen fremden Ueberwurf, der die Schritte des
lebenden Dichters hemmt uild feine Gestalt
uns Späteren fernrückt, wie kommt es nun,
daß wir dennoch immer wieder zu Schiller wie
zu unserem guten Genius flüchten, und zwar
stets in jenen Augenbicken, wo, nach über-
standenen intellektuellen oder moralischen
Krisen, „das gute und mächtige Ich" (wie
Kant es so schön nennt) wieder die Oberhand
gewinnt? Diesen Zauber bewirkt nicht der
große Dichter allein, sondern die magische Ge-
walt der ganzen Persönlichkeit. Zwar bricht
der Dichter immer wieder durch, wie ein Berg-
riese durch die Wolken, und während wir in
den Nebeln am Fuße herumknaupeln, entdecken
wir plötzlich hoch oben am Fimmel den un-
erreichbaren, strahlenden Gipfel; doch was uns
immer mächtiger zu Schiller heranzieht, ist das
Gewahrwerden, daß hinter diesem großen
Dichter ein noch viel größerer Mensch steht,
einer der unbedingt verehrungswürdigsten aller
Menschen, vielleicht der edelste, dem Charakter
nach vollendetste Mann, der je gedichtet hat.
Das eigentliche Monument dieses Mannes sind
die Briefe „Ueber die ästhetische Erziehung des
Menschen."

In diesem wunderbaren Werke offenbart sich
die Persönlichkeit Schillert frei, echt, schlacken-
los, vollständig. Es ist ihr Glaubensbekennt-
niß. Alles Uebrige, was Schiller seinem Vater-
lande und der Welt vermacht hat, ist gleich-
sam ein Gut, ein Besitz, ein „Dominium", ein
in der Präge des Genies zu unvergleichlichem
werthe gemünztes Gold; dieses Erbe ist noch
heiliger: es ist der w i l l e des großen Mannes,
es ist der Inbegriff seiner gereiften Weltan-
schauung, es ist eine uns mit ernstem Blick
und warmer, bittender Stimme an's Herz ge-





r-.i-vv



Fidus

Titelvignette zu Wilhelm Spohr: >Multatuli

legte Anleitung, wie wir Menschen „durch die
verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt
und ruhiger Unschuld" gehen sollen (Brief 27).
„Die ganze Magie der Erscheinung der Schön-
heit beruht auf ihrem Geheimniß", sagt Schiller
iin ersten Briefe; dieses Geheimniß, das Ge-
heimniß seiner eigenen Schönheit, hat er uns
hier — soweit möglich— enthüllt. In diesem
Werke ist Schiller unverhohlen das, was er
sonst unter dem Mantel der Dichtkunst oder
des ästhetisirenden Analytikers ist: ein Lehrer
der Menschheit. Er ist Derjenige, den sein
Meister, Immanuel Kant, als „den Lehrer im
Ideal" herbeisehnt. Und gerade weil er un-
verhohlen lehrt, erblicken wir hier mit unver-
gleichlicher Deutlichkeit den Menschen selbst und
namentlich auch dasjenige an ihm, was größer
als der Lehrer ist, die unfaßbare, unausdenk-
bare individuelle Gestalt. Denn gesteht uns
Goethe, sein Dichten sei „ganz Natur", so
dürfen wir von Schiller's Dichten behaupten,
es sei „ganz Menschenthum", ganz Wille, ganz
Absicht, ganz Liebe. Schiller will lehren, er
will wirken, und zwar überall und immer,
denn es ist dies, sozusagen, die charakteristische
Gebärde seiner Persönlichkeit. Daß die Kunst
„kein Resultat weder für den Verstand, noch für
den willen gebe" (Brief 2z), weiß er recht gut
und er erklärt ausdrücklich, „das Schöne ist in
Rücksicht auf Erkenntniß und Gesinnung völlig
indifferent und unfruchtbar" (Brief 2 ;). Der Ent-
schluß aber, auf Verstand und willen, auf Er-
kenntniß und Gesinnung der Mitmenschen zu
wirken, bildet bei diesein Manne das Mark der
Knochen, die innere treibende Gluth seines auf-
opferungsvoll hingebenden Lebens. „Das Wesen
der schönen Kunst ist der Schein", sagt Schiller
(Brief 26), und an andrer Stelle: „Der Mensch
soll mit der Schönheit nur spielen" (Brief ^5);
doch der Schein soll dienen, das verborgene
Wesen zu erfassen, und gerade durch das Spiel
soll der Mensch erst lernen, Mensch zu werden.
Darauf zielt Schiller's Schaffen von Anfang
an — zuerst unbewußt, dann aber, wie diese
Briefe bezeugen, mit einem so vollkommenen
Bewußtsein, wie es nie ein Künstler besessen.
Schiller ist — immer und überall — mehr als
Künstler. Er ist eine königliche, herrische, pro-
metheische Natur; neue Menschen will er mit
seinen fänden kneten und fühlt sich reich ge-
nug, um ihnen ails dem eigenen Ueberfluß
neuen Odem einzublasen. In allen seinen Wer-
ken ahnen wir das, denn dieser Wille ist es,
der sie gleichsam von innen heraus durchglüht,
so daß der Jüngling — ohne die tiefere Ur-
sache zu errathen — sein Herz schneller schla-
geil fühlt, und der ältere, kritisch gewordene
Mann immer von Neuem empfindet, an die-
sem Genius zerstiebe alle Kritik wie an einem
ragenden Felsen die Welle, da sie nur die Ober-
fläche berührt.

Die „ästhetische Erziehung" ist ein durch
und durch originelles Werk. Denn selbst die
gleich anfangs eingestandene und von manchen
Kommentatoren übertrieben hervorgehobene
Anlehnung an Kant ist einerseits eine rein
formelle, andrerseits aber betrifft sie gar nicht

das spezifisch Kantische an Kant, sondern eine
eingeborene, elementare Richtung des indo-
europäischen Geistes, die durch Kant nur be-
sonders prägnant zum Ausdruck gekommen
ist, und die wir in Schiller's Jugenddißer-

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Register
Houston Stewart Chamberlain: Schiller als "Lehrer im Ideal"
Fidus: Titelvignette zu "Multatuli"
 
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