JUGEND
100b
EIT der Morgenfrühe war ich von Co-
mo durch die unvergleichliche Bri-
anza nach Lecco herübergekom-
men, und wanderte nun, ohne
von den Piomessi sposi mehr
als einen Straßennamen kennen
gelernt zu haben, die Adda weiter
hinunter. Der Mitsommertag
war recht heiß geworden, und
ich fing an, die Hitze, den Staub
und in den Füßen den langen
Weg auf der harten Straße zu
spüren. Wohl hatte ich eben in der Nähe von Calolzio — wie das Nest
wohl heißt — ein erfrischendes Bad genommen, aber dennoch wieherte
mein Herz, wie ein Wüstenhengst das gewitterte Grün der Oase begrüßt,
als ich auf dem Weitermarsch in der heißesten Nachmittagstunde in den
Schatten eines Hauses trat, das hart an der Straße steht, aber an
der einen Ecke noch einen kleinen Grasbord hat. Kurz entschlossen
warf ich mein Ranzel ab, zog Stiefel und Strümpfe aus, schmiß mich
hin, schob jenes unter den Kopf und — entschlief, auf dem kurzen
Grase und meinem guten Gewissen.
Ich muß wohl zwei, drei Stunden der Sonne, dem Staube, der
Müdigkeit, dem ohrenzerreißenden Geschrille der Cikaden — deren Ruhm
und Beliebtheit bei den Alten und den heutigen Südländern mir den
Beweis liefert, daß Nerven etwas Nordisches und Neues sind — und
auch der sonstigen Glorie und Misere des Lebens enthoben gewesen sein,
als sich mir eine Fliege oder was Aehnliches auf die Nase setzte und
mich kitzelte. Noch schlafend aber schon beunruhigt, fuhr ich mit den:
Aermel über das Gesicht, vermutlich talpig genug. Aber die Fliege kehrte
zurück, einmal — zweimal — dreimal, und immer wiederholte ich die
abwehrende Bewegung, jedesmal ein bischen wacher werdend. Zugleich
hatten sich Träume entspannen, in denen oder durch die hindurch ich
Jemand kichern zu hören glaubte und endlich auch unzweifelhaft hörte.
Auch die verdammte Fliege war wieder da. Brummend schlug ich noch
einmal nach ihr und öffnete blinzelnd die Augen-da tanzte gerade
um meine Nasenspitze ein zusammengedrehtes Papierchen und dieses
Papierchen hängt an einem Faden und dieser Faden läuft hinauf zu
einem Fenster im Oberstock, in dem drei lachende Menschen liegen, zwei
junge Weiber und ein schwarzbärtiger Mann über ihnen, von denen
die eine den Faden lenkt, und an diesem Faden läuft noch das letzte
Kichern herab — ich seh's an seinem Zittern, denn auch die Hand kichert
mit — und jetzt bricht es über meinem verdutzten Augenaufschlag und
langsamem Versteh'n der Situation — denn bis ich mich erst besonnen
hatte, wo ich eigentlich war, verging mehr als ein Augenzwink — in
ein unendliches Gelächter aus.
Dieses brachte mich aber nun auf die Beinei Ich sprang auf und
drohte lachend hinauf: ,Jhr verdammten Rackerl — bona sera!‘
Das Lachen machte dem fröhlichen Ernst des Gegengrußes Platz,
den der Schwarzbärtige übernimmt.
Bona sera! erwidert er und fragt weiter, ohne zu hohe Anforder-
ungen an meine höchst dürftigen Sprachkenntnisse zu stellen:
eine Vismarckanekdote
Len dormito?
Si si,. signor!. tante graziel geb ich zurück.
Ah, niente! nientel Che compatriota? fragt er weiter.
Tedesco, sag ich.
Austriaco o Bismarcko? fragt er.
Oestreicher oder BismärckerU
Himmeldonnerwetter! geht da ein Schlag durch mich, heiß und
schneidend und — süß! und Bismarcko! ruf ich mit vergehendem
Athen: und es ist fast ein Jauchzen-und dann wurde es stille in
mir, einen Augenblick nur, eine Stille der Entzückung, in der sich
neue Stürme des Jubels sammeln.
In undankbarer Geistesabwesenheit — undankbar gegen den
ahnungslosen Wirth dieser schönen Erregung und Erhebung — gab
ich mechanisch auf die weiteren kurzen Fragen der Neugier nach woher
und wohin und Gewerbe Antwort — oder auch nicht. Denn es ist wohl
anzunehmen, daß ich trunken, vielleicht noch ohne Gruß die Straße weiter-
taumelte, immer und immer wieder das unerhörte Wort wiederholend:
Bismarcko l — Bismarcko ! — Bismärcker!
Ja es kann so gewesen sein. Wenigstens kann ich mich auf nichts
Vorgängliches mehr besinnen; so sehr war das starke Gefühl Allein-
herrscher der Lage. Und war ich nicht wie geblendet?
Mit jenem ersten Blitz war es gewesen, daß sich jäh und grell
in unmeßbar kurzer Zeit ein Gesicht aufthat, wie sich auch im nächtlichen
Gewitter das dunkle Gewölbe einem blitzlang öffnet und schließt:
Die ganze Geschichte unseres Vaterlandes lag einen Augenblick
jäh erleuchtet vor mir, Deutschland, dies gährende Chaos aller natio-
nalen Erbärmlichkeiten, aus dem sich langsam und schmerzhaft, in immer
neuen Fehlblühungen und Verfaulungen ein Volk emporschafft; sich
emporguält von Noth zu Noth, von Kerl zu Kerl, von Schmied zu
Schmied, der es zu glühen und zu hämmern und ihm ein Stück Unerz
auszutreiben, und, soweit die Glut in der Esse und das Armschmalz
reicht, nothdürftig eine Waffe aus ihm zu schmieden versteht; und ich
sah und durchgriff in einem Augenblick alle Noth und alle Lust, die
in unserm Volke miteinander ringen — und Alles verklang und schloß
sich wieder in dem einzigen Tone dieses entzückenden Wortes, halb
Jauchzer, halb Seufzer: Bismarcko! — Bismärcker!
Und noch vier- oder fünfmal hatte ich auf dem weitern Wege bis
Venedig die Wonne, jene Frage wieder ebenso gestellt zu hören, und
ebenso oft mit einem feurigen Bismarcko beantworten zu dürfen, das
sich wie triumphirendes Lachen anhört. Sonst frug auch wohl der oder
jener: Austriaco o Prussiano, und so kräftig ich auch in diesem Sinne
bejahte, obwohl ich kein Preuße bin, hatte ich heimlich dabei doch immer
Durst nach einem ganzen und vollen Namen und wäre es auch nur end-
lich — statt der fünfundzwanzig Fasernamen — schlichthin Deutscher!
O Deutschland, Deutschland! mußte ich dabei immer denken:
es ist schon viel für Dich gethan, wenn Du nur einmal erst einen
Namen hast! Bei Gott, bei dieser Kindstaufe möchte ich auch sein!
Bis dahin aber, oder doch solang ich lebe, sonne ich das fröstelnde
deutsche Gebein in diesem Namen, den ich im Welschland für uns fand.-
— Bismärcker! — Emil Gott
G. E. Dodgef
100b
EIT der Morgenfrühe war ich von Co-
mo durch die unvergleichliche Bri-
anza nach Lecco herübergekom-
men, und wanderte nun, ohne
von den Piomessi sposi mehr
als einen Straßennamen kennen
gelernt zu haben, die Adda weiter
hinunter. Der Mitsommertag
war recht heiß geworden, und
ich fing an, die Hitze, den Staub
und in den Füßen den langen
Weg auf der harten Straße zu
spüren. Wohl hatte ich eben in der Nähe von Calolzio — wie das Nest
wohl heißt — ein erfrischendes Bad genommen, aber dennoch wieherte
mein Herz, wie ein Wüstenhengst das gewitterte Grün der Oase begrüßt,
als ich auf dem Weitermarsch in der heißesten Nachmittagstunde in den
Schatten eines Hauses trat, das hart an der Straße steht, aber an
der einen Ecke noch einen kleinen Grasbord hat. Kurz entschlossen
warf ich mein Ranzel ab, zog Stiefel und Strümpfe aus, schmiß mich
hin, schob jenes unter den Kopf und — entschlief, auf dem kurzen
Grase und meinem guten Gewissen.
Ich muß wohl zwei, drei Stunden der Sonne, dem Staube, der
Müdigkeit, dem ohrenzerreißenden Geschrille der Cikaden — deren Ruhm
und Beliebtheit bei den Alten und den heutigen Südländern mir den
Beweis liefert, daß Nerven etwas Nordisches und Neues sind — und
auch der sonstigen Glorie und Misere des Lebens enthoben gewesen sein,
als sich mir eine Fliege oder was Aehnliches auf die Nase setzte und
mich kitzelte. Noch schlafend aber schon beunruhigt, fuhr ich mit den:
Aermel über das Gesicht, vermutlich talpig genug. Aber die Fliege kehrte
zurück, einmal — zweimal — dreimal, und immer wiederholte ich die
abwehrende Bewegung, jedesmal ein bischen wacher werdend. Zugleich
hatten sich Träume entspannen, in denen oder durch die hindurch ich
Jemand kichern zu hören glaubte und endlich auch unzweifelhaft hörte.
Auch die verdammte Fliege war wieder da. Brummend schlug ich noch
einmal nach ihr und öffnete blinzelnd die Augen-da tanzte gerade
um meine Nasenspitze ein zusammengedrehtes Papierchen und dieses
Papierchen hängt an einem Faden und dieser Faden läuft hinauf zu
einem Fenster im Oberstock, in dem drei lachende Menschen liegen, zwei
junge Weiber und ein schwarzbärtiger Mann über ihnen, von denen
die eine den Faden lenkt, und an diesem Faden läuft noch das letzte
Kichern herab — ich seh's an seinem Zittern, denn auch die Hand kichert
mit — und jetzt bricht es über meinem verdutzten Augenaufschlag und
langsamem Versteh'n der Situation — denn bis ich mich erst besonnen
hatte, wo ich eigentlich war, verging mehr als ein Augenzwink — in
ein unendliches Gelächter aus.
Dieses brachte mich aber nun auf die Beinei Ich sprang auf und
drohte lachend hinauf: ,Jhr verdammten Rackerl — bona sera!‘
Das Lachen machte dem fröhlichen Ernst des Gegengrußes Platz,
den der Schwarzbärtige übernimmt.
Bona sera! erwidert er und fragt weiter, ohne zu hohe Anforder-
ungen an meine höchst dürftigen Sprachkenntnisse zu stellen:
eine Vismarckanekdote
Len dormito?
Si si,. signor!. tante graziel geb ich zurück.
Ah, niente! nientel Che compatriota? fragt er weiter.
Tedesco, sag ich.
Austriaco o Bismarcko? fragt er.
Oestreicher oder BismärckerU
Himmeldonnerwetter! geht da ein Schlag durch mich, heiß und
schneidend und — süß! und Bismarcko! ruf ich mit vergehendem
Athen: und es ist fast ein Jauchzen-und dann wurde es stille in
mir, einen Augenblick nur, eine Stille der Entzückung, in der sich
neue Stürme des Jubels sammeln.
In undankbarer Geistesabwesenheit — undankbar gegen den
ahnungslosen Wirth dieser schönen Erregung und Erhebung — gab
ich mechanisch auf die weiteren kurzen Fragen der Neugier nach woher
und wohin und Gewerbe Antwort — oder auch nicht. Denn es ist wohl
anzunehmen, daß ich trunken, vielleicht noch ohne Gruß die Straße weiter-
taumelte, immer und immer wieder das unerhörte Wort wiederholend:
Bismarcko l — Bismarcko ! — Bismärcker!
Ja es kann so gewesen sein. Wenigstens kann ich mich auf nichts
Vorgängliches mehr besinnen; so sehr war das starke Gefühl Allein-
herrscher der Lage. Und war ich nicht wie geblendet?
Mit jenem ersten Blitz war es gewesen, daß sich jäh und grell
in unmeßbar kurzer Zeit ein Gesicht aufthat, wie sich auch im nächtlichen
Gewitter das dunkle Gewölbe einem blitzlang öffnet und schließt:
Die ganze Geschichte unseres Vaterlandes lag einen Augenblick
jäh erleuchtet vor mir, Deutschland, dies gährende Chaos aller natio-
nalen Erbärmlichkeiten, aus dem sich langsam und schmerzhaft, in immer
neuen Fehlblühungen und Verfaulungen ein Volk emporschafft; sich
emporguält von Noth zu Noth, von Kerl zu Kerl, von Schmied zu
Schmied, der es zu glühen und zu hämmern und ihm ein Stück Unerz
auszutreiben, und, soweit die Glut in der Esse und das Armschmalz
reicht, nothdürftig eine Waffe aus ihm zu schmieden versteht; und ich
sah und durchgriff in einem Augenblick alle Noth und alle Lust, die
in unserm Volke miteinander ringen — und Alles verklang und schloß
sich wieder in dem einzigen Tone dieses entzückenden Wortes, halb
Jauchzer, halb Seufzer: Bismarcko! — Bismärcker!
Und noch vier- oder fünfmal hatte ich auf dem weitern Wege bis
Venedig die Wonne, jene Frage wieder ebenso gestellt zu hören, und
ebenso oft mit einem feurigen Bismarcko beantworten zu dürfen, das
sich wie triumphirendes Lachen anhört. Sonst frug auch wohl der oder
jener: Austriaco o Prussiano, und so kräftig ich auch in diesem Sinne
bejahte, obwohl ich kein Preuße bin, hatte ich heimlich dabei doch immer
Durst nach einem ganzen und vollen Namen und wäre es auch nur end-
lich — statt der fünfundzwanzig Fasernamen — schlichthin Deutscher!
O Deutschland, Deutschland! mußte ich dabei immer denken:
es ist schon viel für Dich gethan, wenn Du nur einmal erst einen
Namen hast! Bei Gott, bei dieser Kindstaufe möchte ich auch sein!
Bis dahin aber, oder doch solang ich lebe, sonne ich das fröstelnde
deutsche Gebein in diesem Namen, den ich im Welschland für uns fand.-
— Bismärcker! — Emil Gott
G. E. Dodgef