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Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben — 5.1900, Band 2 (Nr. 27-52)

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Nr. 28 (09. Juli 1900)
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https://doi.org/10.11588/diglit.3411#0033
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1900

• JUGEND

Nr. 28

An der Mutterbrust*)

Nur btc bei fängt, nur bie da liebt
Das Kind, dem sie bie Nahrung gibt,
Nur eine Mutter weiß allein,

Was lieben heißt nrtb glücklich feilt.
Chamisso (Frauen Lieb' und Leben).

schreit — nein, es brüllt — in langen,
W. gleichmäßigen, sich allmählich steigernden
Tönen geht cs: E—ah, —E—ah, —E—ah —.
Dazwischen setzt es wieder ein wenig ab — als
ob es die Wirkung seines Geschrci'S einen Mo-
ment abwarten müsse — spricht ein paar be-
ruhigende, uns unverständliche Worte mit sich
'elbft und dann geht es mit erneuter Kraft wie-
der las: E — ah — E — ah —.

Wo nur die kleine Lunge die Kraft und den
Athem hernimmt? Das Köpfchen ivird ganz
roth — die Thräncn rieseln über die Wangen
— er verliert manchmal den Athem und muß
eine Pause machen, aber die Fluth der Töne
nimmt kein Ende.

Ich nehme ihn auf — das Geschrei ver-
stummt, — er holt tief Athem, und während
ihn noch der Bock stößt, zankt er mit mir —
in unartikulirten Lauten — in einer Sprache,
die kein Mensch kennt und die ich doch verstehe.
Er kann ja alles ausdrückcn — er kann alles,
ivas er will, sagen — nur nicht ans deutsch,
und ich weiß, was er mir sagt: „Rabenmutter,
weißt Du denn nicht, daß meine Zeit da ist
und läßt mich solang liegen mit knurrendem
Magen und dem gesündesten Hunger von der
Welt — wenn Du die Uhr nicht besser im

Kopf hgst — ich habe sie im Magen und will
meine Zeit einhalten,"

Ein Blick nach dein Regulator belehrt mich,
daß er Recht hat — es ist schon eine Viertel-
stunde über seine Zeit und mein Sohn ist ein
pünktlicher Herr, Ich küsse die kleine Thräne
weg, die noch ans seiner Wange, wie ein Trop-
fen Thau ans einer Blüthe steht, und dann
gehen wir miteinander, ein stilles Plätzchen zu
suchen, zu lauschiger Zwiesprach.

Ein großer, niederer Fauteuil, in einer Ecke
des Kinderzimmers nimmt uns ans.

Wie seine Händchen zappeln voll Ungeduld,
wie sein Mündchen sich öffnet und schließt; —
er weiß, was ihn erwartet.

Einen Augenblick betrachtet er mich prüfen-
den Blickes, — ob ich auch die Rechte bin —
feine dunkeln Augen hängen fragend an den
meinen; — dann fährt der kleine Mund ein
paarmal suchend hin und her, ein Ruck — ich
suhle einen zuckenden Schmerz, der mir sagt,
daß er gefunden hat, was er suchte.

Um uns ist es ruhig — kein Mensch in
der Nähe; von außen dringt in vereinzelten
gebrochenen Lauten der Lärm des täglichen
Lebens herein — durch die Fenster fluchet hell
und breit die lachende, goldene Mittagssonne
und füllt das einfache Kindcrzimmer mit ihrem
Segen — ich bin allein — ganz allein mit dem
Weltgeist, der unsichtbar mich umschwebt, und
mit dem kleinen, hilflosen Wesen: mit meinem
Kind, Wie es so still wird in mir, so friedlich I

Es trinkt in ruhigen großcir Zügen, und
bei jedem Schluck läßt es ein leises, schluchzen-
des Geräusch hören — wie wenn nasses Glas
gerieben wird. Seine kalten Händchen legt cs

*) Angeregt burch bie Schrift vr, Georg Hirth's
„Die Uuersetzlichkeit ber Mutterbrust, Ideen zu einer
Euquüte". (München, 1900.)

fest auf die warme, wogende Mutterbrust, und
ein behagliches Wärmcgefühl dyrchströmt den
kleinen Körper, Ein unbeschreiblich frohes Em-
pfinden ergreift mich — was ist das für eine
unendliche Güte des Himmels — was ist das
für ein Reichthnm, mit dein er mich gesegnet

— einem Wesen alles geben zu können, was
es bedarf: Leben, Wärme, Nahrung!

Bin ich und mein unscheinbares Dasein ein
Stück der Wcltsecle — bin ich ihr Mikrokosmus?

Das Kind sieht mich an mit seinen klugen
Augeü, während es trinkt — wir senken unsere
Blicke ineinander — ich bin überzeugt, das
Kind ist ein Weiser — der alles weiß, alles
versteht und cs nicht sagt — nur seine Augen
sprechen. Die Seele liegt fertig geordnet, mit
all' ihren Fähigkeiten, in der Knospenhülle, wie
der Schmetterling in der Puppe, wie bald
sprengt sie die Decke, regt die zusammcngefal-
tctcn Flügel und der Mensch steht vor uns in
seiner jugendlichen Schöne.

Kleiner, saugender Wurm an meiner Brust,
Du bist eine schlummernde Welt für Dich und
dieser Welt bin ich wieder ihre Weltl Ich
habe sic gezeitigt an meinem Herzen, daß sie
in die Erscheinung treten konnte — ich war
das Erdreich, das. den Keim, den unbewußt
empfangenen, an's Licht gelangen ließ und nun
arbeite ich an der Ausgestaltung dieser Welt

— wie der Weltgeist an einer neuen Schöpfung.
Ich bin ihre Sonne, die ihr Wärme gibt, ich
bin der Lebensqnell, der sie tränkt: die Pflicht
des schaffenden Wesens gegen das Geschaf-
fene, ich erfülle sie, indem ich ihm die Mittel
zur Erhaltung gewähre, lind wenn ich Ange-
sichts der Ewigkeit auch nichts bin, als das
Staubkorn, das im Weltcnraum verfliegt —
im Haushalt der Natur bin ich eingereiht und
gebucht als ein wichtiger Faktor in der Er-
haltung der Art.

In der ethischen Welt aber wirkt die getreue
Pflichterfüllung der Mutter an der werdenden
Generation als eine der sittlichen Kräfte im
Organismus der Menschheit.

Das Kind schläft — im Anschanen und
Trinken sind ihm die Augen zugefallen. Die
kräftigen Schluckgeräusche verstummen — es
schläft und saugt leise, unbewußt weiter.

Wie es so wohlig dalicgt — wann und
weich im Mutterschooß gebettet. Seine Bäck-

chen sind dick und von einer gesunden Farbe —
die Härchen sind so fein und zart und seiden-
weich, Die Haut ist nicht glatt, sondern sanft
flaumig, wie die eines reifen Pfirsichs, Ein
warmer Dunst geht von dem schlafenden Ge-
schöpfchen aus, — Ich kann mich nicht satt
sehen an dem kleinen Stückchen Mensch, Wie
seine Glieder sich gerundet haben, in der kur-
zen Zeit, daß es ans der Welt ist — wie es
Gesundheit, Leben athmend vor mir liegt, —
wie cs sich an mich schmiegt, so vertrauensvoll
hmgcgcbcn an die Mutter, die es hegt und
nährt und in Liebe trägt. —

Und ein namenloses Mitleid befällt mich:

So wie Du, liegen Millionen und Mil-
lionen Blüthen, abgefallen vom Baum des
Lebens, hinnusgeschleudert auf die Heerstraße,
und werden zertreten im Staub und Schmutz
— so wie Du, suchen tausende und aber-
tausende von kleinen, vertrockneten, durstigen
Lippen den wärmenden Busen der Mutter, der
ihnen versagt ist — so wie Du strecken sich
unzählige, kleine Acrmchen aus nach dem Arm
der Ernährerin, der sic wcggeworfen hat, hilf-
los in irgend einen versteckten Winkel, wo sie
elend verkümmern.

Ich ziehe mein Kind fester an mich —
ich kann Euch nicht retten, Ihr armen, zu
Grunde gegangenen Geschöpfe, denn ich kann
die Schuld Eurer Erzeuger nicht sühnen —
aber lieben kann ich Dich, mein Kind, und
in die heiße Liebe zu Dir mischt sich die Liebe
zu all' jenen armen im Keim verwelkten Knospen,
Du bist nicht nur mein Kind — Du bist
für mich der Vertreter alles werdenden Men-
schengeschlechts, und indem ich Dich an meiner
Brust nähre und alle Empfindung für Dich,
so gut ich cs vermag in Thaten umsetze, bin
ich mir selbst der Typus erbarmender Liebe
zu den Armen, Verlassenen, und ich bete zu
Gott: „Um der Liebe willen, die ich n> einem
Kind erweise, sende Deinen Trostescngel zu
den hilflos Verkommenden, lasse sie eine Mutter-
hrust, ein Mutterherz finden — lasse die un-
sichtbare Kraft meiner eigenen Liebe, als sitt-
liches Beispiel in der Welt wirken, andere Seelen
zu entzünden zu getreuer Pflichterfüllung,"

Und indem ich so bete, ist es, als ob mein
Geist sich verkläre in einer großen, heiligen

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Register
Robert Anning Bell: Zeichnung ohne Titel
Hermine Diemer geb. v. Hillern: An der Mutterbrust
 
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